Seit knapp vier Jahren übt Felix Klein das von der deutschen Bundesregierung eingerichtete Amt des „Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus“ aus. Was erwartet er sich von der neuen Bundesregierung, den Ländern und von der Justiz?
Von Katharina Stourzh
NU: Sie sind jetzt knapp vier Jahre in dieser Funktion. Machen wir einen kurzen Rückblick. Was ist gelungen?
Felix Klein: Die Aufmerksamkeit für dieses Thema in der Gesellschaft ist gewachsen, und wir können den Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland viel besser strategisch angehen. Wir haben Gremien und Strukturen geschaffen, die uns das ermöglichen. Das gilt besonders für die extra ins Leben gerufene Bund-Länder-Kommission, in der sich die Beauftragten aller Bundesländer regelmäßig austauschen, absprechen und Initiativen vorlegen. Das ist deshalb so wichtig, weil Deutschland als Bundesstaat mit seinem föderalen System hier in einer besonderen Lage ist: 80 Prozent aller staatlichen Maßnahmen, die im Kampf gegen Antisemitismus überhaupt zur Verfügung stehen, liegen im Zuständigkeitsbereich der Länder. Sich untereinander zu vernetzen ist daher umso wichtiger. Auf meine Initiative hin haben 15 von 16 Bundesländern Antisemitismusbeauftragte berufen und wir haben es geschafft, die gesetzlichen Regelungen im Kampf gegen Antisemitismus zu schärfen.
Zum Beispiel?
Ich nenne das Gesetz gegen Hass und Hetze im Internet, das am 1. Februar in Deutschland in Kraft trat, das die Anbieter von sozialen Netzwerken verpflichtet, strafbare und antisemitische Inhalte nicht mehr nur zu löschen, sondern auch der Polizei zu melden. Sie kann dann ermitteln. Es ist ja oftmals nicht möglich gewesen, die Identität derjenigen festzustellen, die Antisemitismus im Netz verbreiten. Wir haben auch einen neuen Straftatbestand der sogenannten „verhetzenden Beleidigung“ eingeführt, um die Strafbarkeitslücke zwischen Volksverhetzung und Beleidigung zu schließen. Wir haben das Verbrennen von Flaggen und Hoheitszeichen ausländischer Staaten unter Strafe gestellt, nachdem Israel-Fahnen in Deutschland verbrannt wurden. Auch im präventiven Bereich konnten wir einige Gesetze ändern.
Was kann man sich darunter vorstellen?
Wir konnten erreichen, dass in der Juristenausbildung künftig auch stärker als bisher Kenntnisse über die Justiz im NS-Staat vermittelt werden. Hierüber muss der Juristennachwuchs ausreichend sensibilisiert sein. Die Bekämpfung von Antisemitismus ist in Deutschland nicht selten daran gescheitert, dass antisemitische Taten gar nicht als solche erkannt wurden, nicht von der Polizei, den Richterinnen und Richtern und den Staatsanwaltschaften. Wir haben inzwischen in einigen Staatsanwaltschaften in Deutschland Antisemitismusbeauftragte, wie in Berlin oder in Bayern, das wünsche ich mir bundesweit. Ganz entscheidend ist, dass Antisemitismus wirklich erkannt wird, dass Juristen damit umgehen können und dass er auch schnell sanktioniert wird.
War die Justiz bisher zu lasch oder lag es tatsächlich am mangelnden Wissen und mangelnden Sensorium?
Es ist oftmals mangelnde Kenntnis, aber auch mangelnde Entschlossenheit. Im Europawahlkampf 2019 hatten wir Plakate in Deutschland auf denen stand Israel ist unser Unglück. Zionismus stoppen. Das ist aus meiner Sicht reinste Volksverhetzung, nicht weit weg vom Nazispruch, ‚die Juden sind unser Unglück‘. Strafanzeigen, die dagegen gestellt wurden, sind eingestellt worden, weil Staatsanwaltschaften und Gerichte argumentiert haben, diese Hetze, die es für mich ist, sei noch von der Meinungsfreiheit gedeckt. Ich hoffe, dass wir jetzt größere Sensibilität haben, nachdem wir auch auf die Mittel des Ordnungsrechts hingewiesen haben. Das ist ein echter Erfolg. Das genannte Plakat ist von den Ordnungsbehörden abgehängt worden. Da habe ich übrigens für die Bund-Länder-Kommission einen Text entworfen für die Ordnungsbehörden in allen Städten Deutschlands, um ihnen Argumentationshilfen zu liefern. Die Rechtsmittel im einstweiligen Rechtsschutzverfahren waren übrigens erfolglos.
Hat das Zusammenspiel in der Bund-Länder-Kommission von Anfang an so gut funktioniert?
Natürlich gab es am Anfang eine gewisse Skepsis, ob es wirklich ein weiteres Gremium braucht. Wir haben aber gemeinsam schnell eine sehr gute Diskussionskultur gefunden und alle Beteiligten schätzen mittlerweile diesen Kreis. Die Situation ist aber auch eine besondere, weil die Stellung der einzelnen Antisemitismusbeauftragten sehr unterschiedlich ist. Ich wünsche mir, dass sie in ihren jeweiligen Bundesländern eine möglichst starke Stellung bekommen und in den Bereichen Sicherheit, jüdische Einrichtungen, Bildung und Erziehung gestaltend mitwirken können. Was wir beispielsweise über die Bund-Länder-Kommission wirklich durchsetzen müssen ist, dass der Umgang mit Antisemitismus ein verpflichtender, prüfungsrelevanter Bestandteil in der Lehrerausbildung in Deutschland werden muss.
Wie soll das konkret aussehen?
Lehrerausbildung in Deutschland ist absolut fachbezogen Und wenn sich dann Schüler in Chatgruppen etwa e über Anne Frank lustig machen oder Witze machen über Menschen, die im Konzentrationslager waren, was schreckliche Realität ist im Schulalltag in Deutschland, dann wissen viele Lehrer häufig nicht, wie sie damit umgehen sollen Oftmals schweigen sie dann dazu oder ignorieren die Situation. Das kann nicht sein. Und dieser Unsicherheit, die es bei vielen gibt, müssen wir begegnen.
Bei Corona-Demonstrationen erleben wir, dass überwunden geglaubte Ressentiments und Codes bedient werden. Wie kann man abseits staatlicher Institutionen die Zivilgesellschaft erreichen?
Wir müssen leider feststellen, dass in den letzten Jahren die Verrohung der Gesellschaft zugenommen hat. Das Internet, die sozialen Medien haben sehr stark dazu beigetragen, auch die Angriffe auf unsere Erinnerungskultur. Wenn maßgebliche Politiker Deutschlands eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad fordern und die Zeit des Nationalsozialismus als „Vogelschiss in der Geschichte“ relativieren, hat das dazu geführt, dass rote Linien verschoben werden. Das wirkt sich natürlich auch auf Menschen aus, die von ihrem demokratischen Recht, Demonstrationen durchzuführen und daran teilzunehmen, Gebrauch machen. Der Tabubruch, dass sich Ungeimpfte mit Juden im Dritten Reich vergleichen, ist absurd und absolut nicht hinnehmbar. Da müssen wir eine gute Mischung finden zwischen präventiven und strafrechtlichen Maßnahmen.
Wie kann das Ihrer Meinung nach gelingen und was können Sie in Ihrer Funktion dazu beitragen?
Wir brauchen mehr Zivilcourage. Die Menschen sollten sich klarmachen, mit wem sie gemeinsame Sache machen und dann entweder bei der Demonstration Stellung beziehen oder im Zweifel eine Demonstration verlassen. Es geht immer wieder um Aufklärung und Bildung über unsere Geschichte, da müssen wir in die Schulen gehen, Begegnung schaffen und natürlich auch die Erinnerungskultur in möglichst breite Bevölkerungskreise tragen.
Gibt es Überlegungen einen Jugendaustausch zwischen Deutschland und Israel nach dem Vorbild des Deutsch-französischen Jugendwerks zu etablieren?
Es gibt immer noch kein deutsch-israelisches Jugendwerk, aber schon gut funktionierende Institutionen, auf die man aufbauen kann. Meine Idee wäre, eine Organisation in Wittenberg namens ConAct zum Jugendwerk auf deutscher Seite auszubauen. Ich selbst habe mit 18 zum ersten Mal an einem Jugendaustausch mit Israelis teilgenommen und war fasziniert. Das möchte man möglichst vielen Jugendlichen in Deutschland auch ermöglichen. Ich stelle auch voller Freude fest, dass viele Israelis Deutschland als interessantes Land und gerade auch Berlin als coole Stadt wahrnehmen.
Auch das Thema der Schulbücher müssen wir weiter nachhalten. Denn in der Vergangenheit wurde die Darstellung des Judentums häufig darauf verengt, dass Juden Opfer der Nationalsozialisten waren. Zudem waren auch Darstellungen des Nahostkonflikts zu lesen, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten. Dieses Thema sind wir mit der Bund-Länder-Kommission angegangen und hier bereits auf einem guten Weg. Wir haben vereinbart, dass sich die Verlage mit der Kultusministerkonferenz und dem Zentralrat der Juden in Deutschland die entsprechenden Seiten anschauen. Wir müssen klarmachen, dass jüdisches Leben integraler Bestandteil unserer europäischen Kultur war, Jüdinnen und Juden maßgeblich zur Stärke Europas und auch Deutschlands beigetragen haben. Erfinder, Wissenschaftler, Unternehmer, Mäzene, Künstler etc. haben in großartiger Weise die deutsche Kultur mitgeprägt. Das muss auch im Schulunterricht fächerübergreifend vermittelt werden.
Sie sind nicht nur Antisemitismusbeauftragter, sondern auch Beauftragter für jüdisches Leben in Deutschland. Stimmen Sie zu, dass es viel schwieriger ist, diesen Teil Ihrer Funktion wahrzunehmen, weil der Fokus sehr oft in der Diskussion auf dem Kampf gegen Antisemitismus liegt?
Wir haben versucht, dem durch viele Initiativen entgegenzuwirken. Die bedeutendste war im vergangenen Jahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ mit über 1400 Veranstaltungen mit Partnerorganisationen und der jüdischen Gemeinschaft und vielen einzelnen Initiativen, um jüdisches Leben und jüdische Kultur durch Ausstellungen, Konzerte, Straßenfeste für alle erlebbar zu machen. Auch bei der Erstellung einer Nationalen Strategie im Kampf gegen Antisemitismus, die ich aktuell erarbeite, wird der Förderung jüdischen Lebens eine besondere Bedeutung zuteil. Information und Darstellung des jüdischen Lebens in der Mehrheitsgesellschaft ist schon eine Maßnahme per se im Kampf gegen Antisemitismus. Was man kennt, lernt man eher schätzen und kann Vorurteile abbauen.
Je präsenter das jüdische Leben ist, desto klarer wird es auch als Teil des Alltags und unserer Kultur wahrgenommen und nicht als etwas Fremdes zu Bekämpfendes.
Die Tragik liegt ja darin, dass Juden immer wieder ausgegrenzt wurden als „nicht so recht zugehörig“ zu Deutschland und dass das vermeintliche Anderssein in schrecklichster diskriminierender Form, bis hin zur Shoah, exponiert wurde. Und dem müssen wir entgegenwirken. Es gibt hier wirklich großartige Initiativen. Wir sollten die sogenannten weichen Faktoren noch viel stärker in den Mittelpunkt stellen.
Da Sie die Nationale Strategie erwähnt haben, die ja auch letztes Jahr in Österreich vorgestellt wurde. Was planen Sie in Deutschland?
Wir sind mittendrin in der Abstimmung innerhalb der Regierung und haben im letzten Jahr auch insgesamt 43 NGOs, viele davon auch aus der jüdischen Gemeinschaft, angeschrieben, um ihre Vorschläge und Erwartungen abzufragen. Wir nehmen viele Handlungsfelder wie Erinnerungskultur, juristische Handhabung, Forschung, Datenerhebung, Bildung als Antisemitismusprävention, Förderung jüdischen Lebens in den Blick.
Stichwort Datenerhebung: Es ist ja auch der Plan, diese EU weit möglichst zu vereinheitlichen. Haben Sie neben der Statistik des Innenministeriums auch eine Meldestelle wie in Österreich jene der IKG? Bedarf es da Verbesserungen?
Ja, in der vom BMI jährlich publizierten polizeilichen Kriminalstatistik sind die antisemitischen Straftaten in einer eigenständigen Kategorie ausgewiesen. 2020 hatten wir mit über 2300 registrierten antisemitischen Straftaten leider einen Höchststand. Um antisemitische Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeit liegen, zu erfassen, wird derzeit mit meiner Unterstützung und Förderung ein bundesweites Netz von Meldestellen aufgebaut, der Bundesverband RIAS – Recherche und Informationsstelle Antisemitismus, ähnlich wie jene, die die IKG anbietet. Mir war sehr wichtig, dass diese Meldestellen hier in Deutschland zivilgesellschaftlich organisiert sind, weil Betroffene oftmals Hemmungen haben, zur Polizei zu gehen. Gemeinsam versuchen wir überall in Deutschland Meldestellen aufzubauen und den Austausch zwischen RIAS und der Polizei zu etablieren.
Im Koalitionsabkommen ist ja Ihrer Funktion auch ein eigener Paragraph gewidmet und ein struktureller Ausbau angekündigt. Was darf man sich darunter vorstellen?
Das hat mich wirklich sehr gefreut und dazu bin ich natürlich jetzt im Gespräch mit der neuen Bundesinnenministerin. Ich bin natürlich sehr angetan davon, dass sie den Kampf gegen den Rechtsextremismus zur ihrer wichtigsten ersten Priorität gemacht hat. Das hängt ja unmittelbar mit meinem Thema zusammen, denn der Antisemitismus ist ein inhärenter Kernbestandteil des Rechtsextremismus. Ebenso bin ich beteiligt an der Erstellung des Aktionsplans gegen Rechtsextremismus, den die Ministerin ja bis Ostern vorlegen will.
Kommen wir zum Thema Projektförderung. Werden Sie von der neuen Bundesregierung auch mit mehr Budget ausgestattet, damit Sie noch gezielter tätig werden können?
Das würde ich mir wünschen. Ich hatte ja verhältnismäßig wenig Projektgelder, gerade ein Budget von 1,5 Millionen Euro im Jahr. Auch wenn es ja die Ressorts gibt, das Bundesprogramm „Demokratie leben“ des BMFSFJ und andere Programme der Bundeszentrale für politische Bildung, die ausdrücklich Antisemitismus adressieren. So würde ich gerne auch noch selber einige Projekte unterstützen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass ich in diesem Teil meiner Amtszeit die Förderung jüdischen Lebens noch weiter verbessern möchte. Hierzu bekomme ich auch hervorragende Ideen und Vorschläge von verschiedenen Seiten. Mit dem Zentralrat der Juden machen wir beispielsweise ein ganz hervorragendes Projekt zur Optimierung der Arbeit von jüdischen Gemeinden.
Wenn Sie jetzt einen Ausblick für die nächsten vier Jahre wagen – was würden Sie gerne erreicht haben?
Ich wünsche mir, dass Antisemitismus dann wirklich schneller und effizienter als bisher von Staat und Gesellschaft sanktioniert wird, dass wir eine so wehrhafte Zivilgesellschaft haben, dass es sofort Konsequenzen hat, wenn zum Beispiel antisemitische Beleidigungen und Pöbeleien im Alltag, etwa auf dem Fußballplatz, auftreten. Es ist mir wichtig, dass die Menschen in Deutschland erkennen, dass der Antisemitismus nicht nur die jüdische Gemeinschaft bedroht, sondern wirklich alle und unsere Art zu leben; dass es die Demokratie bedroht, wenn jemand solche Verschwörungsmythen verbreitet, indem er sagt, der Deutsche Bundestag, die Medien, die Banken seien in jüdischer Hand; dass sofort reagiert wird, wenn es gegen Juden geht. Wir müssen die Sensibilität so weit vergrößern, dass wir als Gesellschaft besser gewappnet und besser immunisiert sind.