1938 kommt Hans Menasse als Achtjähriger per Kindertransport nach Südengland. 64 Jahre später wagt er erstmals die Reise zurück. NU-Redakteurin Eva Menasse begleitete ihren Vater auf seiner Reise in die Vergangenheit.
Von Eva Menasse
Mein Vater war ein Kindertransport-Kind. Wie es dazu kam, ist heute nicht mehr genau herauszufinden, mein Onkel, der ältere der beiden Brüder, erinnert sich vor allem an monatelanges, verzweifeltes Schlangestehen vor Wiener Konsulaten, mit dem er und sein Vater, mein Großvater, gleich nach dem „Anschluss“ begannen, also viel zu spät. Ihr Schlangestehen war vergeblich, wie bei so vielen anderen. Meine Großeltern waren eher arm als reich, sie hatten auch keine Verwandten in der zivilisierten Welt, die Affidavits schicken konnten. Ende 1938 kam die Zusage für den Kindertransport, immerhin. Meine Großeltern beschlossen, die Kinder in Sicherheit zu schicken, wenn sie schon nicht alle gemeinsam flüchten konnten.
Mein Vater konnte kein Woprt Englisch, als er mit acht Jahren in London ankam. Sein erstes Heim war „39 Christchurch Avenue“, ein Haus, gestiftet von einem reichen jüdischen Geschäftsmann, in dem ein knappes Dutzend jüdischer Kinder aus Deutschland und Österreich aufgenommen wurde. „EnDoubleyou-Six, Thirty nine Christchurch Avenue“ – bis heute sagt mein Vater diese Adresse auf wie ein Gedicht. Wahrscheinlich hat er sie damals auswendig lernen müssen, für den Fall, dass er, der kleine Ausländer, sich eines Tages verirrte.
Wir fuhren nach London, 64 Jahre später. Natürlich war mein Vater inzwischen viele Male in England gewesen, hatte bis zu deren Tod auch regelmäßig seine Pflegeeltern besucht, bei denen er, nach einer mehrmonatigen Odyssee, schließlich untergekommen und in sicherer und liebevoller Umgebung aufgewachsen war. Aber in der Christchurch Avenue war er nie mehr gewesen, seit jenem Tag zu Kriegsbeginn 1939, an dem alle Londoner Schulkinder aus der Hauptstadt aufs Land evakuiert worden waren.
Auf unserem Touristen-Stadtplan war der Stadtteil Kilburn nicht eingezeichnet. Dem UBahn-Plan war zu entnehmen, dass es eine Station namens „Kilburn“ gibt, „steigen wir eine später aus“, schlug mein Vater vor, „Kilburn ist groß“. Sein Instinkt war gut. Wir stiegen irgendwo aus, standen auf irgendeiner Straße, er sagte „ich glaube, diese Richtung“. Auf diese Weise fanden wir die Christchurch Avenue.
Ich hatte mir unter seinem ersten Londoner Heim etwas Großstädtisches vorgestellt, ein großes Haus, wie eine Schule, davor tobenden Verkehr, rote Busse. Aber die Christchurch Avenue liegt in einem stillen Wohnviertel, ist schmal und baumbestanden, und die Nummer 39 ist genauso ein seltsames kleines einstöckiges Reihenhaus mit einem winzigen Vorgarten wie alle anderen Häuser in der Straße auch, wie die meisten Häuser, aus denen London eigentlich besteht. Zur Zeit ist Nummer 39 offenbar unbewohnt.
„Stell dich mal davor“, sagte ich, „dann mach ich ein Foto“. Mein Vater stand also vor dem Eingang von 39, gleich neben den Mistkübeln, kein Auto fuhr vorbei, kein Mensch war zu sehen. Er lächelte in die Kamera. „Das ist jetzt schon ein emotioneller Moment“, sagte er, „64 Jahre später.“ „Und sonst?“, fragte ich, „erinnerst du dich an irgendetwas?“ „Da unten, auf der nächsten großen Querstraße, war ein Kino“, sagte er und zeigte die Straße hinunter. „Und in die Schule sind wir raufgegangen, dann die erste oder zweite links, dann war auf der linken Seite die Schule.“ „Gehen wir doch so und schauen, ob wir eine Schule finden“, schlug ich vor. Wir gingen die erste links und trafen nach 500 Metern auf die „Christchurch Primary School“. „Das muss sie doch sein?“, fragte ich, begeistert von so haltbarer Erinnerung. Mein Vater war unsicher. „Es ist so lange her.“
Er beschloss, in der Schule zu fragen. Die Sekretärin starrte ungläubig, als mein Vater vor ihr stand und ihr höflich mitteilte, dass er glaube, vor 64 Jahren hier Schüler gewesen zu sein. Ein jüdisches Flüchtlingskind aus Österreich, kurz vor Kriegsbeginn. „Please wait here“, sagte sie und rannte weg. Als sie wiederkam, noch immer im Laufschritt, rannte hinter ihr der Schuldirektor. Er bat uns in sein Büro. Er saß da, einen Block auf den Knien, und schrieb alles auf, was mein Vater erzählte. Weil er aufmerksam sein und seine Deutschkenntnisse unter Beweis stellen wollte, sagte er ständig „Herr Mister Menasse“ zu ihm. Mein Vater amüsierte sich. „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob diese Schule 1939 nach Dunstable evakuiert wurde“, sagte mein Vater. Doch das konnte der Direktor nicht beantworten, die Akten jener Zeit sind irgendwo archiviert. Er bat „Herr Mister Menasse“, mit ihm in die oberste Klasse zu kommen und seine Geschichte den Schülern zu erzählen. Eine halbe Stunde, nachdem wir an der Schule geläutet hatten, war mein Vater also Stand-up-Zeitzeuge, stand, immer noch im Mantel, vor einer Klasse Elfjähriger in grünen Schuluniformen. Die englischen Elfjährigen hatten in den Woche n davor gerade begonnen, vom Zweiten Weltkrieg zu lernen, natürlich aus englischer Sicht. Als Anschauungsmaterial hingen an der Rückwand des Klassenzimmers eine Gasmaske, außerdem die Plakate, die über den Gebrauch der Masken informierten, und Fotos von den Bombenschäden. Vom Massenmord an den Juden wussten die Kinder noch nichts. Sie staunten, als mein Vater ihnen sagte, wie viele Juden vor 1938 in Wien gelebt hatten und dass es 1945 nur noch ein paar hundert gab. Der Direktor schrieb die Zahlen an die Tafel und wiederholte sie mehrmals. Fast schien er selbst aufs Neue schockiert. Dann durften die Kinder Fragen stellen. Sie fragten klug, ihren kindlichen Interessen gemäß.
– „Haben Sie noch Freunde in England?“
– „Leben Ihre Pflegeeltern noch?“
– „War es nicht komisch, nach so langer Zeit Ihre Eltern wiederzusehen?“
Die Frage ist für meinen Vater seit jeher schwer zu beantworten. Natürlich war es „komisch“ (die kleine Fragestellerin sagte „awkward “ ) . Genauer als mit „komisch“ ist es wahrscheinlich nicht zu beschreiben, wenn einer nach neun Jahren, beinahe erwachsen, Eltern gegenübersteht, an die er sich nur noch vage erinnert und mit denen er nicht einmal sprechen kann. Es beeindruckte die englischen Elfjährigen besonders, dass mein Vater bei seiner Rückkehr kein Wort Deutsch mehr verstand. Das konnten sich die Kinder gut vorstellen als etwas Schreckliches: Erst kommt man nach England und kann kein Englisch, dann geht man zurück und hat das Deutsch vergessen.
– „Ein besonderer Augenblick für uns alle“, sagte der Direktor zum Abschied. Mein Vater grinste schüchtern. „Mach noch ein Foto von den Kindern“, bat er mich.
Am nächsten Tag fuhren wir nach Dunstable. Da sah ich das kleine, ärmliche Haus von Uncle Tom und Aunt Flossie, das Haus, in dem mein Vater aufgewachsen ist. Er war nach seiner Heimkehr noch mehrmals in Dunstable, immer im Abstand von einigen Jahren. Als er das letzte Mal Uncle Tom lebend antraf, gingen sie zusammen ins Pub. „This is my son“, sagte stolz Tom, als er meinen Vater seinen Bekannten vorstellte. Die Cooks hatten selbst keine Kinder. Bis zu ihrem Tod in den achtziger Jahren riss die Verbindung zu ihrem ehemaligen Pflegekind in Österreich nie ganz ab.
Ich erinnere mich an ihre Briefe, die zu Weihnachten kamen, und ich glaube, dass mein Vater ihnen manchmal Bilder von uns Kindern geschickt hat. Sein Pflegevater, Tom Cook, war ein einfacher Mann. Er arbeitete in der nahegelegenen Druckerei als Hilfsarbeiter. Sein einziges Hobby war Darts. Er schoss leidenschaftlich mit den kleinen Pfeilen und nahm sogar an Turnieren teil. Ein einziges Mal gewann er ein wirklich wichtiges Turnier und bekam einen Pokal dafür. Dieser Pokal war sein ganzer Stolz. Er stand im living room an prominenter Stelle.
Als mein Vater 1947 nach Österreich zurückkehrte, als er zum zweiten Mal ein ganzes geordnetes Leben hinter sich ließ, schenkte ihm sein Pflegevater, zum Abschied und als Andenken, diesen Darts-Pokal, das Wertvollste, was er besaß. Mein Vater hatte bei seiner Abreise nur einen Seesack. Man hatte die Rückkehrer aufgefordert, das Gepäck möglichst gering zu halten. In diesem Seesack hat mein Vater im Jahr 1947 Tom Cooks Pokal von Dunstable nach Wien transportiert. Er besitzt ihn noch immer.
Auf unserer Reise hat mein Vater den Wunsch geäußert, das Grab der Cooks zu besuchen. Entfernte Verwandte der Cooks brachten uns zu einem „Garden of Remembrance“, einem Flecken Wiese, umstanden von Rosen, mit Bänken und einem kleinen Teich. Dort kann man seine Asche verstreuen lassen. Für meinen Vater klang das ungewöhnlich. „Warum haben sie das getan?“, fragte er die entfernten Verwandten. „Sie sagten, wir haben ja niemanden, keine Kinder, die zu einem Grab kommen werden.“ Im dazugehörigen Gedenkraum liegt unter Glas ein Jahrbuch, dessen Seiten täglich umgeblättert werden. Nach ihren Sterbedaten sind dort alle verzeichnet, die ihre Asche in diesem Garten verstreuen haben lassen. Man müsste also genau am Todestag kommen, um die Namen von Thomas und Florence Cook lesen zu können. Beim Abschied schlugen die entfernten Verwandten meinem Vater vor, beim nächsten Mal ein Treffen aller alten Schulkameraden meines Vaters zu organisieren. Viele davon lebten noch, sie würden sich bestimmt alle freuen, ihn wiederzusehen. Mein Vater tat erfreut.
Als der Zug Dunstable verließ, sagte mein Vater: „Das war bestimmt das letzte Mal.“