Wer in Glaubensfragen tolerant ist, erachtet vernünftigerweise die Religionen, ihre heiligen Texte und Gesetze als äußeres, letztlich unwesentliches Beiwerk. Radikaler wäre ein Ansatz, der Toleranz prinzipiell auf jene Glaubensvorstellungen zu konzentrieren, die den Vernunftansprüchen nicht unterliegen. Gedanken zur Dialektik der Toleranz.
Von Konrad Paul Liessmann
Keine Frage: Auf der Liste der europäischen Werte steht die Toleranz ganz oben. Niemand, der diese nicht einforderte und zur Grundlage des Zusammenlebens zwischen Menschen mit unterschiedlichen Präferenzen, Überzeugungen, Lebensstilen und Werthaltungen erklärte. Toleranz ist der Wert, der die Wertekollisionen – die sich aus der Idee des Wertes selbst ergeben müssen – abfedern und lebbar machen soll.
Werte, man darf daran erinnern, wurden nicht zuletzt von Friedrich Nietzsche aus der Sphäre der Ökonomie in die Moralphilosophie importiert, um normative Vorgaben, Maximen und Richtlinien der subjektiven Präferenz und damit den eigenen Machtinteressen zu unterwerfen. Dass man Werte umwerten kann, liegt im Begriff des Wertes selbst. Werte stellen deshalb ein höchst unsicheres Fundament des Zusammenlebens dar, und eine „Wertegemeinschaft“ hat auf Sand gebaut. Toleranz stellt deshalb auch jenen Wert dar, der es erlauben soll, mit den permanent vorgenommenen Umwertungen und Umdeutungen einstmals als unverbrüchlich behaupteter Werte umzugehen und deren Fluktuationen standzuhalten.
Wer eine religiös geschlossene Ehe als gottgefällige Verbindung von Mann und Frau für einen Wert hielt, wird nicht anders können, als auch die Ehe für alle als Wert zu akzeptieren, wenigstens zu tolerieren. Juden, wie Angehörige von Offenbarungsreligionen überhaupt, kennen deshalb auch keine Werte, sondern Gesetze, Gebote, Vorschriften und Rituale, die nicht beliebig zur Disposition stehen. Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Auffassung stellen Religionsgemeinschaften deshalb auch keine Wertegemeinschaften dar. Sie als solche zu interpretieren, heißt, einen Konflikt zwischen unverrückbaren Glaubenssätzen und elastischen Werthaltungen zu provozieren. Was aber heißt es, unter diesen Bedingungen auf Toleranz als Medium des Ausgleichs zu setzen?
Entschärfung der Gegensätze
Die Geschichte der Toleranz ist lang, und in der Philosophie spielt dieser Begriff – entgegen seiner aktuellen allgemeinen Akzeptanz im öffentlichen Diskurs – eine durchaus zwielichtige Rolle. Philosophen sind in der Regel keine großen Freunde der Toleranz. Zwar ist die Entwicklung des Toleranzgedankens ohne die Philosophie undenkbar: Seit dem Mittelalter wurden immer wieder Versuche unternommen, die tödlichen Gegensätze zwischen den Religionen, zwischen Christentum, Judentum und Islam, zu entschärfen, und eine Reihe Gelehrter und Denker aus unterschiedlichen Kulturkreisen war daran beteiligt: arabische Philosophen wie Ibn Ruschd (Averroes), jüdische Denker wie Ibn Kammuna oder Moses Maimonides, christliche Theologen wie Petrus Abaelardus oder Nikolaus von Kues, aus ihren religiösen Bindungen mehrfach Vertriebene wie Uriel da Costa oder Baruch Spinoza, liberale Denker und Aufklärer wie John Locke und Immanuel Kant.
Aber es waren immer wieder auch Philosophen, die den Toleranzgedanken kritisierten, sei es, weil er ihnen zu wenig weit ging, sei es, weil sie in ihm nur eine verschleierte Form von Herrschaftsansprüchen sahen. Immanuel Kant hatte die Toleranz „hochmütig“ genannt, und vor einem halben Jahrhundert dominierte in der kritischen Intelligenz in Toleranzfragen die Position Herbert Marcuses, der mit dem Begriff der „repressiven Toleranz“ die Skepsis gegenüber der ambivalenten Tugend der Duldsamkeit auf eine griffige Formel gebracht hatte.
Duldung des Falschen
Am Beginn der 1970er Jahre nannte der bedeutende österreichische Historiker und Kulturphilosoph Friedrich Heer in einem bemerkenswerten Rundfunkvortrag die Toleranz eine „große Unbekannte“. Wohl sind der Begriff und die Forderung nach Toleranz mittlerweile allgegenwärtig, aber was meinen wir damit eigentlich? Besinnen wir uns auf die Wortgeschichte, fällt auf, dass etwas tolerieren nicht mehr und nicht weniger bedeutet als: etwas dulden. Etwas dulden zu können, setzt aber zweierlei voraus: Erstens eine Position der Stärke. Toleranz gibt es nur von oben nach unten, von Mehrheiten gegen Minderheiten, von Starken gegenüber Schwachen. Und zweitens die Tatsache, dass man das, was man bereit ist zu dulden, im Grunde für falsch, vielleicht sogar für verwerflich, zumindest für fragwürdig hält. Und damit sind wir bei den verstörenden Aspekten der Toleranz. Man kann nur etwas tolerieren, was einem tatsächlich gegen den Strich geht, was wirklich weh tut. Das, mit dem man übereinstimmt, braucht man nicht zu tolerieren, denn diesem stimmt man zu; und auch das, was als Recht für alle Menschen oder Bürger eines Staates definiert ist, braucht man nicht zu tolerieren, sondern es steht jedem Menschen zu. Auch das, was nicht berührt oder gleichgültig lässt, muss man nicht tolerieren, denn man kann es ignorieren oder übersehen. Toleranz setzt also Hierarchie, Nähe und Dissens voraus.
Die Schwierigkeit und ständige Provokation der Toleranz besteht darin, dass sie genau jene Sphären betrifft, in denen es um Glaubenswahrheiten, Meinungen, Gewissensentscheidungen und Lebensentwürfe geht, für die es weder ausformulierte Rechtsansprüche noch plausible Verbindlichkeiten gibt und angesichts derer wir aufgefordert werden, etwas zu dulden, was den eigenen Vorstellungen auf diesem Gebiet in einem eminenten Sinne widerspricht, was zumindest nicht gefällt. Man kann sich die Schwierigkeit mit der Toleranz sofort vor Augen führen: Man stelle sich eine Religion, eine Weltanschauung, eine Ideologie, eine Meinung, eine Lebensform vor, die man zutiefst verachtet, die man für falsch, unaufgeklärt, rückständig, unmodern, reaktionär, vielleicht sogar für widerlich hält, und dann übe man sich dieser Position gegenüber in Toleranz.
Unheilige Dreifaltigkeit
Das gelingt nur schwer, und die überforderte Toleranz sucht deshalb rasch nach Auswegen, um das Unangenehme dann doch nicht tolerieren zu müssen. Was aber kann man unter keinen Umständen tolerieren, enthebt also den Toleranten der Mühen der Toleranz? Wirklich intolerabel ist nur das absolut Böse, alles andere könnte auch einen Wert darstellen, denn man als Toleranter tolerieren müsste. Dies erklärt die Tendenz in aktuellen Diskursen, in jeder abweichenden Meinung, in jedem den Konsens störenden Verhalten sofort das schlechthin Böse zu sehen, dem keine Form der Toleranz entgegengebracht werden darf. Was aber ist das Böse, das keine Toleranz mehr zulässt? Die Gegenwart antwortet darauf in der Regel mit einer unheiligen Dreifaltigkeit: Sexismus, Rassismus, Faschismus.
Der in politischen Debatten etwa rasch erhobene Vorwurf einer Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut gehorcht durchaus einer gewissen Logik: Nur diese Unterstellung befreit den Toleranten davor, tolerant sein zu müssen. Und in der sogenannten MeToo-Debatte geht es um gar keine Debatte, sondern nur darum, festzustellen, wer sich auf nicht tolerierbare Weise schuldig gemacht hat. Und wer die Definitionsmacht über den Begriff des Rassismus errungen hat, kann sich jede Toleranz gegenüber Vorstellungen vom Menschsein, die nicht der eigenen Ideologie entsprechen, ersparen.
Schon Friedrich Heer hatte in seinem Vortrag die Vermutung geäußert, dass wir es uns mit der Toleranz insofern etwas zu leicht machen, als wir die Frage der Toleranz auf jene beziehen, die ohnehin zu uns gehören, unsere Meinungen und Lebensstile teilen, aber vielleicht hin und wieder ein wenig davon abweichen. Wer zum Beispiel das Wiener Kulturleben ein wenig kennt, weiß, dass es gerade auf diesem Sektor der informellen Gemein- und Seilschaften mit der Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen nicht allzu weit her ist. Wer zweimal mit dem Falschen spricht und einmal die falschen Hände schüttelt, kann sich mitunter schon als ausgeschlossen betrachten. Und, so Friedrich Heer, wir sind auch gerne dort tolerant, wo es uns eigentlich nicht betrifft – gegenüber dem weit Entfernten, dem Exotischen, gegenüber einem Fremden, das wir nur vom Hörensagen, vom Fernsehen oder aus dem Feuilleton kennen und das uns, zumindest ästhetisch, in seiner Fremdheit vielleicht ohnehin fasziniert.
Sublimes Einverständnis
Die Zumutung des Toleranzgedankens bestünde aber darin, in der unmittelbaren Konfrontation das für uns Inakzeptable wenn nicht zu akzeptieren, so doch zu dulden, damit aber auch zu erdulden. Tolerante Menschen leiden, und eine tolerante Gesellschaft wäre eine, die von diesem Leiden geprägt ist. Der triumphale Gestus hingegen, mit dem Toleranz gerne proklamiert wird, ist stets ein Hinweis darauf, dass es sich dabei weniger um Toleranz als vielmehr um Formen der Zustimmung handelt. Die Art, mit der die politische Linke mitunter ihre Toleranz gegenüber dem Islam zur Schau stellt, lässt dann doch auch den Verdacht aufkommen, dass hier weniger etwas Problematisches schmerzlich geduldet wird, sondern ein sublimes Einverständnis mit einer patriarchal-konservativen Lebensform signalisiert wird, der das eigene Unbewusste in einem Maße zustimmt, die das politische Über-Ich nie zulassen würde.
Tolerante Menschen, so könnte man diese Überlegung zuspitzen, leiden insbesondere darunter, dass Menschen anders denken als sie selbst, und gestehen ihnen dieses andere Denken dennoch zu – nicht aus Gleichgültigkeit oder Desinteresse, sondern aus dem Wissen, dass auch die eigenen Wahrheitsansprüche womöglich auf einem unsicheren Fundament ruhen. Verfolgt man die Entwicklung des Toleranzgedankens in der europäischen Geistesgeschichte, so fällt auf, dass dieses Konzept aus guten Gründen für an sich unvereinbare religiöse Wahrheiten entwickelt worden war. Im Hintergrund stand die im Zuge der Aufklärung immer deutlicher formulierte Einsicht, dass es bei Glaubensdingen um absolute Wahrheitsansprüche ging, die von der prüfenden und rational urteilenden Vernunft keiner eindeutigen Entscheidung zugeführt werden konnten. Das kann Unterschiedliches bedeuten.
Dass man den Glauben des anderen tolerieren soll, auch wenn man dessen Wahrheiten nicht teilen kann, kann aus der Hoffnung resultieren, dass es eine natürliche, für die Vernunft einsehbare Religiosität gäbe, die ohnehin in jedem Menschen in gleicher Weise vorhanden sei, und dass die unterschiedlich ausgebildeten Religionen, ihre Mythen, Rituale, Zeremonien, heiligen Texte und Gesetze ein äußeres Beiwerk seien, dass man deshalb dulden könne, da es letztlich unwesentlich sei. Diese Form von Toleranz setzt eine zunehmende Indifferenz den eigenen Glaubenswahrheiten und Glaubensformen bei den um den wahren Glauben konkurrierenden Religionen voraus, das heißt, sie setzt immer schon eine bestimmte Form der Distanzierung von jenen Wahrheiten voraus, die man nun bereit ist, auch an anderen zu tolerieren. Radikaler allerdings wäre ein Ansatz, der Toleranz prinzipiell auf jene Glaubensvorstellungen konzentrierte, die den Vernunftansprüchen nicht unterliegen, weil sie für diese kategorial unentscheidbar sind. Toleranz wäre dann auf jene Sphären religiöser Überzeugungen oder religiös motivierter Lebensformen zu beschränken, die sich aus prinzipiellen Gründen rationalen Verfahren entziehen können.
Selbstaufgabe des Denkens
Tolerant müssten dann also die Angehörigen der einen Religion gegenüber den Angehörigen anderer Religionen sein. Für die Vernunft selbst wäre Toleranz dann allerdings eine unangemessene Kategorie: In Glaubensfragen wäre sie unzuständig, und in Fragen, die der Vernunft zugänglich sind, kann man zwar unterschiedliche Positionen und Argumentationslinien verfolgen, das heißt, man kann streiten, und man wird manchmal auch Positionen aus Mangel an besseren Argumenten akzeptieren, aber der Toleranzanspruch in diesen Dingen käme einer Selbstaufgabe des Denkens gleich.
Aus diesen Ansätzen entwickelte sich jenes Konzept der Aufklärung, das Toleranz gegenüber den unterschiedlichen Bekenntnissen fordern und praktizieren konnte. Denn einerseits individualisiert sie die Religion – sie erklärt diese zur Privatsache der einzelnen Menschen – und gleichzeitig wurden Vernunft und Wissenschaft – also jene Instanzen, die Verbindlichkeit einfordern durften, ja mussten – für metaphysische und transzendente Wahrheiten für unzuständig erklärt. Toleranz in Glaubensfragen beförderte einerseits die Trennung von Kirche und Staat, setzt diese aber andererseits auch voraus. Deshalb konnte Immanuel Kant die Toleranz hochmütig nennen, wenn von einer überlegenen und selbstgewissen Position aus andere Glaubenswahrheiten gerade noch und auch auf Widerruf geduldet wurden, während es das Recht jedes Menschen sein sollte, in Religionsfragen seinen eigenen Weg zu gehen. Und es zur Pflicht der Obrigkeit – moderner: der Gesellschaft – gehört, in Fragen des Seelenheils den Menschen nichts vorzuschreiben. Wo allerdings eine Freiheit – hier also die Religionsfreiheit, verstanden als ein individuelles Recht zu einem religiösen Bekenntnis – als Rechtsanspruch formuliert werden kann, dort ist Toleranz eigentlich überflüssig geworden.
Achtung mit Kant
Wo Rechtsansprüche bestehen, müssen Menschen für ihre Sicht der Dinge auch nicht um Toleranz bitten, sondern können darauf insistieren, dass diese Rechtsansprüche eingelöst werden. Dort, wo im Anderen ein autonomes Subjekt gesehen wird, das mit denselben Rechten ausgestattet ist wie ich selbst, verlangte Kant somit auch nicht Toleranz, sondern Respekt und Achtung: Haltungen, die nicht dulden oder gewähren lassen, sondern den anderen in seiner Eigenart akzeptieren, in ihm aber auch ein Gegenüber sehen, mit dem sich die Auseinandersetzung, der Streit lohnen. Toleranz, zumindest dort, wo sie umschlägt in Nachgiebigkeit aus Bequemlichkeit, kann auch Gefahr laufen, den anderen gerade in dessen Duldung nicht wirklich ernst zu nehmen.
Zumindest für die religiösen Bekenntnisse aber sollte aus der Toleranz ein Rechtsanspruch der Individuen auf ihre Sicht der letzten Dinge werden. Keine Rechtsansprüche aber ohne Pflichten. Schon in den klassischen Debatten der Aufklärung wurde die Frage ventiliert, wie es mit der Freiheit der Religion bestellt sei, wenn diese Religion gleichzeitig ihre Anhänger daran hindert, ihre bürgerlichen Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, die ihnen dieses Recht zugesteht, zu erfüllen.
In solchen Fragen erweist sich eine andere Facette der Toleranz. Ein Staat, der etwa die allgemeine Wehrpflicht kennt, kann es Anhängern von Religionen, die den Dienst mit der Waffe verweigern, gestatten, sich von der Wehrpflicht zu befreien. Er kann dies im Wortsinn dulden, er muss es aber nicht tun. So würde auch ein Staat die Weigerung, aus religiösen Gründen keine Steuern zahlen zu wollen oder andere essenzielle staatsbürgerliche Pflichten zu verweigern oder verbindliche Gesetze zu missachten, wahrscheinlich nicht dulden. Es liegt im Wesen dieser Form von Toleranz, dass sie gewährt werden kann, aber nicht gewährt werden muss. Ob sie gewährt wird, ist eine Frage der Abwägung jener Güter, die die Rahmenbedingungen einer Gemeinschaft definieren und deren Funktionieren garantieren.
Pragmatische Konfliktvermeidung
Tatsächlich zeigt sich, dass es zum Wesen einer aus der Position der Stärke praktizierten Duldung, also der Toleranz, gehört, dass sie bis zu einem gewissen Grad immer auch Ermessenssache ist, für die oft weniger philosophische oder moralische, als vielmehr pragmatische Gesichtspunkte ausschlaggebend sind. Die unterschiedlichen Toleranzedikte und das Toleranzpatent Josephs II., aber auch die berühmten Passagen über die Religions- und Gewissensfreiheit in der amerikanischen Verfassung und den Erklärungen der Menschenrechte folgten schlicht der Einsicht, dass durch solche Toleranz- und Unzuständigkeitserklärungen unnötige Konflikte vermieden werden könnten.
So schrieb Joseph II. in einem Brief an seine Mutter Maria Theresia, dass es ihm natürlich am liebsten wäre, wenn alle Protestanten zum Katholizismus zurückkehrten, aber man kann sie, wie die Geschichte zeigte, dazu eben nicht zwingen. Toleranz bedeute für ihn deshalb nichts Weiteres, als „dass ich in allen bloß irdischen Dingen jedermann ohne Unterschied der Religion anstellen würde, ihn Güter besitzen, Gewerbe ausüben, Staatsbürger sein ließe, wenn er hiezu befähigt und dem Staate und seiner Industrie zum Vorteil wäre“; und überdies mache „die ungestörte Ausübung ihres Kultes die Protestanten zu viel besseren Untertanen“.
Möglich, dass es diese Nüchternheit war, die auch die Kritiker der Toleranz auf den Plan gerufen hat. Unverblümt spricht Joseph II. davon, dass die Ausübung von Toleranz natürlich ein Mittel ist, um eine reibungslose Herrschaft und ein florierendes Gewerbe zu ermöglichen. Man kann dies auch etwas anders formulieren, wie es Baruch Spinoza im berühmten 20. Kapitel seines Tractatus theologico-politicus gemacht hatte. „Gesetze über Meinungen“, so Spinoza, „sind völlig nutzlos.“ Und die Freiheit des Denkens und Glaubens sah Spinoza gerade deshalb für geboten, weil alle Versuche, diese einzuschränken, nur Heuchler und Verräter großziehen würde, was einem funktionierenden Gemeinwesen höchst abträglich wäre.
Allerdings ist dieser Pragmatismus von der Einsicht getragen, dass es eben Dinge gibt, die den Staat etwas angehen, und solche, die ihn nichts angehen. Nicht immer aber ist diese Trennlinie scharf zu ziehen. Aktuell stellt sich diese Frage etwa dann, wenn als Kriterium für das Tolerieren bestimmter Formen von Religiosität empfohlen wird, zu überlegen, was mehr sozialen und politischen Konfliktstoff beinhaltet: im Staatsdienst Frauen islamischen Glaubens das Tragen des Kopftuches zu gestatten oder dieses zu verweigern.
Was Toleranz (nicht) bedeutet
Je skeptischer die Vernunft sich selbst gegenüber ist, desto toleranter kann sie anderen Weltdeutungskonzeptionen gegenüber verfahren. Und dennoch liegt ein entscheidender Unterscheid zwischen der seit der Antike tradierten philosophischen Skepsis und der Forderung nach Toleranz darin, dass der Skeptiker allen Wahrheitsansprüchen gegenüber skeptisch ist, alles für denkbar hält und sich deshalb eines abschließenden Urteils enthält. Ein Skeptiker ist nicht tolerant, da er überhaupt keine Wahrheitsposition einnimmt, von der aus er andere Positionen dulden müsste.
Tatsächlich allerdings leben wir in keiner Gesellschaft von Skeptikern. Natürlich haben wir unsere Überzeugungen, und wir haben sie deshalb, weil wir ihnen begründbare Qualitäten zuschreiben, die wir bei anderen Weltanschauungen vielleicht vermissen. Die Frage nach der Toleranz ist immer auch die Frage nach den Grenzen der Toleranz. Toleranz kann nicht bedeuten, etwas zu dulden, was die Rechte von Menschen verletzt. Toleranz kann nicht bedeuten, alles hinzunehmen, was auf dieser Erde geschieht. Toleranz kann nicht bedeuten, alles für gleichermaßen gültig zu erklären und damit den Boden für eine Deutung der Toleranz zu bereiten, die auch in praktische Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben und dem Leiden anderer Menschen umschlägt.
Die Frage der Toleranz auf „spekulative Dinge“ zu konzentrieren, war weise. Toleranz kann so nicht einmal bedeuten, alle „inneren Überzeugungen“ von Menschen gleichermaßen zu dulden und zu erdulden. Friedrich Heinrich Jacobi, einer der bedeutenden Aufklärer, hat dies in einem von Hegel in seiner Rechtsphilosophie zitierten Brief an den Grafen Holmer deutlich und manches vorausahnend formuliert: „Dass [ein Mensch] sich vollkommen überzeugt fühle, daran zweifle ich nicht im mindesten. Aber wie viele Menschen beginnen nicht aus einer solchen gefühlten Überzeugung die ärgsten Frevel. Also, wenn dieser Grund überall entschuldigen mag, so gibt es kein vernünftiges Urteil mehr über gute und böse, ehrwürdige und verächtliche Entschließungen; der Wahn hat dann gleiche Rechte mit der Vernunft, oder die Vernunft hat dann überhaupt keine Rechte, kein gültiges Ansehen mehr; ihre Stimme ist ein Unding; wer nur nicht zweifelt, der ist in der Wahrheit! Mir schaudert vor den Folgen einer solchen Toleranz, die eine ausschließende zum Vorteil der Unvernunft wäre.“
Wer daran festhalten will, dass die Toleranz selbst ein Produkt der Vernunft ist und dass die Stimme der Vernunft, wie leise sie auch sei, nicht verstummen soll, wird um das Problem nicht herumkommen, die Grenzen der Toleranz dort ziehen zu müssen, wo diese Vernunft selbst gefährdet ist.
Am Ende seines Toleranzvortrages hat Friedrich Heer die von ihm so genannte „große Toleranz“, die ihren Namen verdient, nicht nur als ein großes vitales „Ja“ zum Denken und den Lebensentwürfen anderer Menschen, sondern auch als ein ebenso großes, ebenso vitales „Nein“ gegenüber jedem Fanatismus, gegenüber jeder Form eines religiös-politischen Wahns und gegen Unfehlbarkeitserklärungen aller Art formuliert.
Die eigentliche Herausforderung der Toleranz besteht vielleicht nicht darin, sich zu ihr zu bekennen, sondern darin, ihre Grenzen zu benennen.