Von Robert Liska
Die Stellungnahmen von Vertretern jüdischer Gemeinden zu tagespolitischen Themen in der breiten Öffentlichkeit erregen oft, innerhalb wie auch außerhalb dieser Gemeinden, hitzige Debatten über ihre Legitimität und Zweckmäßigkeit. Der Schlüssel zur Beurteilung dieser Frage liegt in der Motivation, dem aus ihr resultierenden Inhalt einer öffentlich getroffenen Aussage und in einem tieferen Verständnis der essentiellen Aufgaben und der Raison d’Etre der Jüdischen Gemeinde.
Die Existenz der Jüdischen Gemeinde geht auf talmudische Zeiten zurück. Ihre Organisationsformen variierten sowohl in Babylon als auch in Palästina, doch trotz ihrer Vielfältigkeit auch in ihrer Hochblüte während des Mittelalters, wo die Wurzeln der neuzeitlichen Gemeinde zu finden sind, reichten ihre wesentlichen Merkmale auf die schon im Talmud angeführten Aufgabenstellungen zurück. Diese erstreckten sich von der Gewährleistung des Gottesdienstes, des Unterrichts und der Befriedigung der kultischen und rituellen Bedürfnisse bis hin zu den sozialen Aufgaben, wie der Speisung von Bedürftigen, dem Betreuen Kranker, der Aufnahme von Fremden und dem Begraben der angehörigenlosen Verstorbenen. Hinzu kamen personenstandsrechtliche, marktrechtliche Aufgaben, wie die Überwachung von Maßen und Gewichten und die Gerichtsbarkeit bei Streitigkeiten zwischen Juden, sowie in manchen Gemeinden zeitweise sogar die strafrechtliche Gerichtsbarkeit. Die den jüdischen Gemeinden während langer Perioden gewährte Eigenständigkeit erlaubte ihnen gemäß ihrer alter Traditionen zu leben, die darauf beruhten, dass nicht nur rituelle und kultische Gebote zur Halacha zählten, sondern, ebenso gleichberechtigt, das korrekte Handeln untereinander wie auch mit nichtjüdischen Geschäftspartnern. Auch die internen Organisationsformen dieser Gemeinden waren von alten Traditionen bestimmt, die die Wahl von Vorstehern, „Parnassim“, „Tovim“, und „Gabaim“, nach statutarisch festgesetzten Regeln vorsahen.
Zu den vornehmlichen Aufgaben dieser „Funktionäre“ zählte auch immer die Vertretung der Gemeinde nach außen. Hauptanliegen solcher Interventionen waren die Abwendung negativer Dekrete der jeweiligen Machthaber und die Sicherstellung weitestgehender Unabhängigkeit in ihren internen Funktionen.
Diese zum Teil oben angeführten Aufgaben fußten auf den „Drei Säulen“ der Jüdischen Überlieferung „Torah, Avodah, Gemilut Chassadim“. Torah – das Erziehungswesen, das Lehren und Lernen, vom Kindergarten bis zur vollendeten Ausbildung von Rabbinern und Lehrern, die die Tradition wieder weitergeben konnten, Avodah – der Gottesdienst, Ritus, Kaschruth, Mikvaot, die Regelung des Familienlebens von der Geburt bis zum Tod, und schließlich Gemilut Chassadim – die sozialen Verpflichtungen gegenüber Armen, Kranken, Witwen, Waisen, den Verstorbenen und deren Hinterbliebenen. Das intakte Funktionieren dieses unabhängigen Gemeindewesens sorgte stets auch für die fruchtbringende Stellung der Gemeinden innerhalb der allgemeinen Gesellschaft und gipfelte in der kulturellen Hochblüte jüdischen Lebens in ganz Europa. Erst im auslaufenden achtzehnten Jahrhundert erfuhr diese relative Unabhängigkeit ihre Regelung durch gesetzliche Einflussnahme mancher Herrscher Europas, zunächst in Frankreich, dann auch in .sterreich und Teilen Deutschlands.
Napoleon diktierte die Organisationsform der Gemeinden in seinem Einflussbereich mit seinem straff organisiertem „Consitoire“, und das Israelitengesetz schaffte in .sterreich eine offizielle Einheitsgemeinde Einheitsgemeinde mit streng kontrollierten Regeln als allein anerkannte jüdische Religionsgemeinschaft.
Nur in einigen Gegenden des Alten Österreichs, wie im Burgenland (Scheva Kehilot) erhielt sich die integrale Unabhängigkeit der Gemeinden. Das enge Korsett, das der „Kultusgemeinde“ den quasi-Charakter eines Regierungsamtes auferlegte, zwang die besonders in der Hauptstadt Wien größtenteils heterogenen, weil aus den verschiedensten Gegenden des Reichs zugezogenen Subgemeinden zur Anpassung an die Vertretungsansprüche der etablierten Gemeindevertreter.
Dieses Israelitengesetz hat, mit wenigen Veränderungen, in Wien bis heute seine Gültigkeit beibehalten, während sich in Ländern mit ausgeprägter Trennung von Religion und Staat der freie Wettbewerb der Ideen und Konfessionen duchsetzen konnte und dort zu einer weitgehenden Vielfalt, aber auch Unabhängigkeit, des Gemeindelebens geführt hat. Die USA und England sind gute Beispiele, aber auch in Frankreich existiert heute das „Consistoire“ neben anderen Gemeindeorganisationen auf freiwilliger Basis. Die Erfüllung der eigentlichen Aufgaben der jüdischen Gemeinde zur Zufriedenheit ihrer Mitglieder und im Einklang mit ihrer jüdischen Umwelt steht daher in direktem Verhältnis zum Ausmaß ihrer Unabhängigkeit und dem demokratischen Umfeld, in dem sie sich entwickelt, welches wiederum nicht zuletzt von Trennung von Staat und Religion abhängig ist. Ziel und Stoßrichtung von Gemeindevertretern der heutigen
Zeit in ihrer Arbeit nach außen sollte von diesem Anspruch gekennzeichnet sein Ð in dem Bewusstsein, dass es stets darum gehen muss, die Rahmenbedingung zu schaffen oder zu erhalten, die ihnen erlauben, auf den „Drei Säulen“ unserer Tradition aufzubauen. Jeder Vorstoß nach außen, der diesem Vorsatz gerecht wird, kann daher nur begrüßt werden, wogegen jede politische Plattform als reiner Selbstzweck, sowohl in seiner Zielsetzung als auch in seinen Auswirkungen, fragwürdig erscheint.