Theodore Bikel gelang als 14-jährigem Teenager die Flucht vor den Nazis. In Hollywood arbeitete der gebürtige Wiener mit zahlreichen Filmgrößen, in Österreich geriet er leider weitgehend in Vergessenheit. Zu hoffen ist, dass das von seiner Witwe posthum herausgegebene Kinderbuch „The City of Light“über Wien einen deutschsprachigen Verlag findet.
Von Gabriele Flossmann
„Nichts würde ich lieber tun, als heute an deiner Stelle den 90. Geburtstag zu feiern, denn dann wüsste ich, dass ich noch einige schöne Jahre vor mir habe.“ Vor knapp sieben Jahren beneidete der damals 97-jährige Hollywoodveteran Kirk Douglas einen Schauspielerkollegen um dessen „jugendliche“ neun Dezennien an Lebensalter. Es war Theodore Bikel, der Anfang Mai 2014 in Los Angeles inmitten zahlreicher illustrer Gäste aus Politik und Showbusiness seinen Neunziger feierte. Darunter Steven Spielberg, der Bikel als „Mentor und Mensch“ würdigte. Die tiefe Freundschaft der beiden betagten Herren Kirk und Theo, wie ihn Freunde nannten, basierte – wie beide stets betonten – auf ihren jüdischen Wurzeln. Im Laufe der gemeinsamen, nicht immer leichten Jahrzehnte in Hollywood war die Verbundenheit stetig gewachsen. Nicht sieben, sondern sechs gute Jahre sollten es für Kirk Douglas noch werden. Theo Bikel hingegen war nach seinem eigenen großen Geburtstagsfest nur mehr ein Jahr vergönnt: Er starb am 21. Juli 2015 in Los Angeles.
Warum – so wird man sich nun fragen – beginnt die Vorstellung eines neuen Kinderbuchs ausgerechnet mit dem 90. Geburtstag und dem ein Jahr darauf folgenden Ableben des Autors? Weil dabei alles mit (fast) allem zu tun hat. Theodore Bikel hatte kurz vor seinem Neunziger eine neue Frau „erobert“ und die Journalistin und Israel-Korrespondentin Aimee Ginsburg geheiratet. Und sie war es auch, die in Bikels Nachlass ein Kinderbuch gefunden hat, das er selbst nicht zu publizieren wagte. Aimee Ginsburg-Bikel unternahm dieses Wagnis posthum. Versehen mit ihrem Vorwort und Zeichnungen von Noah Philipps ist nun The City of Light erschienen: Die Geschichte der glücklichen Kindheit eines Buben in Wien. In einem Wien als Stadt des Lichts. Einer Stadt, in der alles in Ordnung war. Verheißungsvoll und voller Wärme: „The boy was thirteen. The city he lived in was all light – a city of waltzes, of sweet confections.“ So lauten die ersten Zeilen des Buches, das leider – noch – nicht in deutscher Sprache erschienen ist.
Unter der Oberfläche, so erzählt das Buch weiter, führten allerdings Hass, Bigotterie und Antisemitismus zu schrecklichen Ereignissen. Als knapp 14-Jähriger wurde der Bub zum Flüchtling. Und zum Asylsuchenden in Israel. Die letzten Zeilen sind versöhnlich und lauten: „Maybe we cannot fix everything that has been broken, but with our song and with our love, we can always find our way back to the life.“ Als Leser dieses kleinen Buches sollen wir also lernen, dass wir die einstige Stadt des Lichts wieder zum Leuchten bringen können – und Güte und Gerechtigkeit. Das Buch, das auch erwachsenen Lesern empfohlen werden kann, enthält im Anhang ein jiddisches Glossar für Kinder, ein Rezept für Honigkuchen und ein alt-neues Chanukka-Lied.
Vom Broadway nach Los Angeles
Unschwer lässt sich erkennen, dass dieses (Kinder-)Buch auf Theo Bikels eigener Biografie basiert. Der am 2. Mai 1924 geborene Theodor – benannt nach Theodor Herzl, dem Idol seiner Eltern – musste 1938 aus seiner Heimatstadt fliehen. Gemeinsam mit seinem Vater Joseph und seiner Mutter Miriam landete er in Palästina. Seinen künstlerischen Durchbruch hatte er wenige Jahre später in den USA. Seine Filmkarriere begann mit einer kleinen Rolle an der Seite Humphrey Bogarts in African Queen von John Huston. Trotz der vielen eindrucksvollen Rollen, die er in zahlreichen Filmen und am Broadway spielte, und trotz der vielen Preise, die er als Schauspieler erhalten hatte, sah sich Bikel, der 1959 das Newport Folk Festival mitbegründete, lieber als Folksänger. Sein Repertoire umfasste vor allem Songs aus Russland, Osteuropa und Israel. Die Mitglieder der in den 1960er Jahren höchst erfolgreichen Folk-Gruppe Peter, Paul and Mary bezeichneten Theodore Bikel als ihr großes Vorbild.
Und Bob Dylan hätte möglicherweise ohne Theo Bikel keine so große Karriere gemacht. Tatsächlich war es Bikel, der Dylan 1964 zur Teilnahme am Newport Folk Festival überredet hatte. Erst dort nahm Bob Dylans legendäre Karriere ihren Anfang. Wofür Bob „seinem Theo“ für immer in Dank verbunden war.
Bikel hat maßgeblich zur Wiedergeburt des jiddischen Liedes nach dem Krieg beigetragen und wurde so zum weltweiten Vorbild zahlreicher Klezmer-Gruppen. In Österreich beriefen sich unter anderem Geduldig und Thiemann auf ihn. Beispielhaft war er auch als Tewje in der Broadway-Version von Fiddler on the Roof, er spielte diese Bühnenfigur mehr als 2000 Mal. Am Broadway verkörperte er auch die Rolle des Barons von Trapp in The Sound of Music. Angeblich haben Oscar Hammerstein und Richard Rodgers den Ohrwurm Edelweiss speziell für ihn geschrieben.
In Hollywood galt Bikel, der u.a. gemeinsam mit Audrey Hepburn im Filmmusical My Fair Lady spielte, als Mann für alle Fälle: einer, der gleichermaßen als Pole, Russe, Armenier, Italiener oder Ungar besetzt werden konnte. Selten, aber doch spielte er auch einen Deutschen, und manchmal – wie Bikel selbst bisweilen schmunzelnd feststellte – sogar einen Amerikaner. Wie etwa den mit Südstaatenakzent sprechenden, sympathischen Sheriff im Rassismus-Drama The Defiant Ones mit Sidney Poitier und Tony Curtis. Eine Rolle, die Bikel eine Oscar-Nominierung eintrug. Bikel besaß die Weltläufigkeit eines Mannes, der viel herumgekommen war und verschiedene Kulturen in sich trug. Er erachtete es als seine Aufgabe, die amerikanischen Kinozuschauer mit dem Fremden vertraut zu machen.
Mit King nach Washington
Neben seiner künstlerischen Tätigkeit war Bikel nicht nur jahrelang Delegierter der Demokratischen Partei, sondern auch Präsident der Schauspieler-Gewerkschaft, Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses und Vorstandsmitglied von Amnesty International. Außerdem vertrat er stets die Meinung, dass Menschen nur fähig sind, Zukunft zu gestalten, wenn sie um ihre Wurzeln und ihre Vergangenheit Bescheid wissen. Sein politisches Gewissen sah er als Konsequenz seiner Erfahrungen als Verfolgter der NS-Herrschaft und seines persönlichen Umgangs mit Geschichte.
Seite an Seite mit seinem Freund Martin Luther King nahm er am legendären „Marsch auf Washington“ teil, der bis heute als Höhepunkt der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gilt. Rund 250.000 Menschen versammelten sich am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial. Die meisten von ihnen waren Afroamerikaner, die für Gleichberechtigung und für ein Ende des Rassismus demonstrierten. Beistand erhielten sie an diesem brütend heißen Tag von 50.000 Menschen weißer Hautfarbe, darunter an vorderster Front: Theodore Bikel.
Erst 1993 kehrte Bikel erstmals nach Wien zurück. Der damalige Viennale-Direktor Alexander Horwath hatte ihn eingeladen, an einer Konferenz österreichischer Emigranten im internationalen Film teilzunehmen. Ebenfalls bei dieser Konferenz zu Gast war einer seiner Freunde aus Hollywood, der spätere Viennale-Präsident und einstige Präsident der United Artists und Orion Pictures, Eric Pleskow.
Trotz seiner zahlreichen internationalen Erfolge ist Theodore Bikel heute in Österreich nur wenigen Leuten ein Begriff. Es bleibt zu hoffen, dass The City of Light auch auf Deutsch erscheint und damit diesen großen Österreicher wieder in Erinnerung ruft.
Aimee Ginsburg Bikel
Theodore Bikel’s The City of Light
Mandel Vilar Press
Simsbury 2019