Mit „Von den Deutschen lernen“, ihrem historisch-politischen Roadmovie-Roman durch den Süden der USA, beschreibt Susan Neiman die unterschiedlichen Ansätze zur Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit. Und macht ersichtlich, wie Gesellschaften mit dem Bösen in der eigenen Geschichte umgehen.
Von Michael J. Reinprecht
Der Titel dieses Buches überrascht – und verstört zugleich. Vor allem aus hiesiger Sicht, hat doch Österreich seine eigene Schuld am NS-Verbrechen viel zu lange mit der flaumigen Kuscheldecke des Opfermythos zugedeckt und erst sehr spät seine Mittäterschaft anerkannt. Allerdings hält Susan Neiman der heimischen Leserschaft nolens volens den Spiegel vor, wenn sie sagt, sie glaube fest daran, „dass wir nicht wissen, wohin wir gehen, wenn wir nicht die Vergangenheit erinnern“.
„Vergangenheitsaufarbeitung“ war das erste Wort, das die jüdische US-Amerikanerin aus Georgia bewusst aufnahm, als sie nach sechsjährigem Philosophiestudium in Harvard 1982 zu einem Post-Doc-Aufenthalt nach Berlin zog. „Warum machen wir das nicht in den USA?“, fragte Neiman sich. Warum sind Hiroshima, der Vietnamkrieg, ja vor allem der amerikanische Bürgerkrieg kein Thema einer solchen Aufarbeitung?
Das Massaker an schwarzen Teilnehmern einer Bibelrunde in Charleston, South Carolina, im Juni 2015 war für sie dann Anlass, dieses Buch vergleichender Geschichtsbetrachtungen zu schreiben. Jahrelang hatte sie zuvor verfolgt, wie die Deutschen gelernt hatten, „mit dem Bösen in ihrer Geschichte umzugehen“. Denn: „Ich bin nach Berlin gekommen, weil ich mehr über die Nazis erfahren wollte.“ Neiman beobachtete mit dem Sensorium der Außenstehenden, wie unterschiedlich die Aufarbeitung der Geschichte in der DDR und der BRD ablief. Mit ihrem Buch will sie auch „gegen die Stimmen anschreiben, die mit Hinweisen auf den Aufstieg der extremen Rechten auf parlamentarischer Ebene (AfD) bzw. dem rechten Terror den Erfolg der Aufarbeitung der Verbrechen der Nazi-Diktatur relativieren“, so die Autorin vergangenen Sommer bei einer Diskussion mit dem deutschen Schriftsteller Ingo Schulze an der Volksbühne Berlin.
Für den im Dunstkreis der österreichischen Debatte großgewordenen Leser ist der Beitrag des Buches zu „gleichwertiger Behandlung“ der Vergangenheitsbewältigung beider deutscher Staaten vor 1990 spannend. In einer Reihe von Gesprächen mit Intellektuellen, Politikern und Künstlern diskutiert Neiman die Frage, ob der „verordnete Antifaschismus“ in der DDR sinnvoll war. Sie untersucht Ursache und Wirkung der erst zögerlichen, dann aber umso engagierteren Aufarbeitung der Bonner Republik bis hin zu den wesentlichen Schritten kollektiver Erinnerung im wiedervereinten Deutschland.
Die Debatte rund um das Entstehen des Holocaust-Mahnmals am Berliner Brandenburger Tor ist ein gutes Beispiel. Nicht nur für die deutsche Erinnerungsarbeit selbst, auch die rechtsradikale Kritik an ihr: „Wir Deutschen sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“, lässt Neiman den Neofaschisten und AfD-Politiker Bernd Höcke zu Wort kommen. Um im gleichen Atemzug befreiend zu bemerken, wie undenkbar die Vorstellung eines Deutschland sei, „das voller Denkmäler für Menschen wäre, die für die Nazis gekämpft haben“.
Sichtbar gemachte Werte
Denn in den Südstaaten der USA ist das nicht so. Neiman, geboren 1955 in Atlanta, führt den Leser ganz direkt in den Diskurs über die Aufarbeitung des Amerikanischen Bürgerkriegs vor 150 Jahren und der darauf folgenden, jedoch sehr langsamen „Normalisierung“ des Verhältnisses zwischen Schwarz und Weiß. Die Autorin lässt uns teilhaben an der jüngsten Geschichte des „tiefen Südens“ und an verwurzelten Narrativen (vor allem des „Lost Cause“), die dem europäischen Leser zumeist nur peripher bekannt sind.
Aus der jüngeren Geschichte kommen als Fallbeispiele der grässliche Lynchmord an dem 14-jährigen Emmett Till 1955 in Mississippi, dessen weiße Mörder freigesprochen wurden und anschließend die Story ihrer abscheulichen Tat gegen gutes Honorar einer Illustrierten verkauften. Oder die Geschichte der schwarzen Amerikanerin Rosa Parks, die – während der Prozess gegen die Mörder Tills verhandelt wurde – ins Gefängnis wanderte, weil sie sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz im städtischen Bus von Montgomery, Alabama einem weißen Fahrgast freizumachen. Beide Fälle standen am Beginn der wirkmächtigen Bürgerrechtsbewegung, die 1964 mit dem Civil Rights Act von Erfolg gekrönt wurde. Knapp hundert Jahre nach Ende der Abschaffung der Sklaverei im Süden der USA.
Und die Denkmäler der Konföderierten stehen immer noch. Doch sie sind in jüngster Zeit – sowohl im Gefolge der Black-Lives-Matter-Bewegung als auch angesichts des Erstarkens der White-Supremacy-Ideologie – zunehmend in die Schusslinie der Kritik geraten. Neiman thematisiert dies, ohne die Frage nach Cancel Culture direkt beim Namen zu nennen. Die meisten Statuen zum Gedenken an die Südstaaten-Föderation waren 50 Jahre nach dem Bürgerkrieg mit dem Ziel aufgestellt worden, „den Mythos des Lost Cause zu erschaffen“, schreibt Neiman. Denn bei Denkmälern ginge es nicht um Geschichte, „es sind sichtbar gemachte Werte“. Sie sind wichtiges Werkzeug zur Schaffung und zum Erhalt der Narrative: „Nicht die Vergangenheit steht dabei auf dem Spiel, sondern die Gegenwart und die Zukunft.“
Das Seelenleben einer Nation
Letztlich stellt Neiman den Deutschen kein schlechtes Zeugnis aus: Wenn sie etwa das Holocaust-Museum an der Washington Mall erwähnt, zugleich aber ein Denkmal, das an die amerikanische Sklaverei und den Völkermord an den Native Americans erinnern würde, vermisst. „Würden wir Einwände erheben gegen Deutsche, die zwar einräumten, dass der Holocaust schrecklich war – dann aber im Zentrum Berlins nur ein Denkmal zur Erinnerung an die amerikanische Sklaverei errichten?“
Der Hamburger Literaturwissenschafter und Kunstmäzen Philipp Jan Reemtsma brachte es in einem Gespräch mit der Autorin vergangenen November auf den Punkt: „Es ist von entscheidender Bedeutung für das Seelenleben bzw. das politische Leben einer Nation, sich der eigenen Vergangenheit – vor allem wenn diese Vergangenheit eine verbrecherische gewesen ist – zu stellen.“
Susan Neiman leistet mit ihrem Buch einen spannenden Beitrag zur Frage eines von Achtsamkeit und Ehrlichkeit geprägten Umganges mit der eigenen Geschichte. Denn selbst wenn Wokeness und Political Correctness im gesellschaftlich-politischen Diskurs zu den Werten von Gedankenfreiheit und der Freiheit der Rede in Widerspruch stehen können – in der Frage der Bewältigung und Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit haben sie unwidersprochen ihren Platz.
Susan Neiman
Von den Deutschen lernen
Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Hanser, München 2020
576 S., EUR 28,80