Was geschieht, wenn man einen strukturell rassistischen Klassiker erklärend kommentiert? Warum soll Wokeness ein neues Lebensgefühl vermitteln? Und welche Probleme ergeben sich durch eine als Kategorie verstandene Identität? Drei Anmerkungen zu Thema.
Vorsicht, Glatteis!
VON MICHAEL J. REINPRECHT
Vom Winde verweht: Vor einem halben Jahr hat der zur Warner-Gruppe gehörige Streamingdienst HBO Max das oscargekrönte Südstaatenepos Gone with the Wind aus dem Programm gestrichen. Und auch vieles, was einst geschrieben und aus eigener Kindheit erinnert, wird vom Wind der Zeit zum Südseekönig ins Taka-Tuka-Land verweht.
Ist die Freiheit der Kunst und der Rede selbst Opfer geworden im Kampf gegen Rassismus – ein Kampf, der heute wichtiger ist denn je, weil die menschenverachtende Ablehnung des Anderen und Antisemitismus eine Renaissance erleben? Hierzulande wurde die Freiheit der Kunst bereits 1867 im Staatsgrundgesetz fest verankert und die Freiheit der Meinungsäußerung ist unverrückbarer Bestandteil des westlichen Wertekanons. Sie steht allerdings im Gegensatz zum Diskriminierungsverbot. Doch wer entscheidet, wer bestimmt, was gesagt werden darf? Wer ist hier die Autorität? Es scheint, diese ist diffus in der Gesellschaft verankert. Steht das nicht im Widerspruch zur Rechtsgemeinschaft, die wir als liberal-demokratischer Rechtsstaat sind?
Wie aus einer Kehle hatte im Jänner 2015 Frankreich „Je suis Charlie“ gerufen, und vor der französischen Botschaft am Wiener Schwarzenbergplatz brannten hunderte Kerzen vor entsprechenden Plakaten. Doch heute sieht sich das französische Selbstverständnis der laïcité und der Freiheit des Ausdrucks in der Defensive. „Von den amerikanischen Ideen droht Gefahr“ titelte die New York Times dazu Mitte Februar und zitierte Präsident Emmanuel Macron, der „das intellektuelle und kulturelle Erbe Frankreichs durch einige US-sozialwissenschaftliche Theorien bedroht“ sieht. Und diese heißen: Wokeness und Cancel Culture.
„Redeverbote an der Universität sind ein Anschlag gegen den Hort des ewigen Gedankenstreits. Aus Intoleranz kann am Ende sogar Unterdrückung werden“, schrieb Zeit-Mitherausgeber Josef Joffe im Herbst 2019. Schulen, aber vor allem Universitäten müssen Raum für Streit und Debatte bieten. Der Zweifel an Gesagtem ist Bedingung für Diskussion. Deshalb sind Ausladungen von Vorträgen und Diskussionen, aber auch die Zerstörung von Denkmälern mit der Gedankenfreiheit, einem Grundpfeiler unserer Kultur, unvereinbar.
Cancel Culture schwebt wie ein Damoklesschwert über der zarten Pflanze Freiheit. Die Gefahr ist, dass nicht mehr das Argument des oder der Einzelnen zählt, sondern die Einordnung zur Gruppe, der man zugeschlagen wird. Hat man dann als weißer, heterosexueller Mann jedes Recht verloren, sich glaubwürdig am Kampf gegen Rassismus und gegen Antisemitismus zu beteiligen? Wokeness und Cancel Culture sind kein guter Dienst an der Freiheit des Wortes, an der Freiheit der Kunst.
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Lachskandal von heute, heilsame Lehre von morgen
VON GABRIELE FLOSSMANN
Ausländische Zeitungen zum Frühstück können gefährlich sein. Wer sich dieser Bedrohung aussetzt, dem fällt womöglich ein Interview unter die von FFP2 noch ungeschützte Nase, in dem sich John Cleese über Cancel Culture, Wokeness und Political Correctness beschwert. Die mit diesen Begriffen bezeichneten „neuen Moden des zwischenmenschlichen Umgangs“, so meint der britische Komiker, wären der Langeweile-Tod jedweden Humors. Hätten diese „Moden“ schon in den 1970ern die öffentliche Meinung beherrscht, wären die Monty Pythons nie zu einem Kult, nie zur Legende geworden. Ein Leben ohne Monty Pythons? Ohne Life of Brian? Für Menschen wie mich, die an trüben Tagen aus dem dahingesummten Ohrwurm Always Look on the Bright Side of Life den Mut für einen neuen Alltag beziehen, ein erschreckender Gedanke. Und ein Anlass zur Selbstanalyse.
Wer in der Früh seinen ersten Kaffee durch eine Aluminiumkapsel presst, wird vielleicht wach – aber sicher nicht woke. Wer ein E-Auto fährt, schon eher. Man braucht ja nicht zu wissen, ob der Strom, den man lädt, aus einem Atomkraftwerk der Nachbarländer zugekauft wird. Und auch nicht, wie und wo die voluminöse Batterie des E-Mobils erzeugt und schon gar nicht wie und wo sie entsorgt wird. Hauptsache, man ist wach, richtet über andere und fühlt sich gut dabei. Dieses neue (?) Lebensgefühl sollen offenbar neue Begrifflichkeiten wie Wokeness und/oder Cancel Culture vermitteln. Nach dem Motto: Moralisch zu leben war gestern. Heute gilt es, moralisch zu reden – was so viel heißt wie: sich politisch korrekt auszudrücken.
Die aus den USA importierten Ausdrücke beschreiben das vermeintlich neue Phänomen, dass prominente Personen oder deren persönliche Äußerungen im Internet von einer weiteren Person oder Gruppe „gecancelt“, also im übertragenen Sinne „entfernt“ werden. Und dass andere möglichst „wach“ darauf achten, dass dieses „Canceling“ mit einer bisweilen ziemlich brutalen Konsequenz passiert. Die Heftigkeit der Reaktionen auf ungeliebte Äußerungen des jeweils anderen politischen Lagers steigt schon seit Längerem deutlich an. Nicht nur in den USA. Sind Meinungs- und Kunstfreiheit der demokratischen Welt bedroht? Gibt es Sprechverbote?
In der Diskussion stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber. Weltuntergangspropheten befeuern Kulturpessimisten und umgekehrt. Beide Seiten begreifen Kritik als Angriff auf ihre Identität. Kreuz- und/oder Querdenker reißen Proteste – egal wofür oder wogegen – an sich, anstatt in eine inhaltliche Diskussion einzusteigen und sich mit beiden Seiten der Debatte auseinanderzusetzen. Richtig ist: In den letzten Monaten und Jahren werden viele überfällige Debatten in einer größeren Öffentlichkeit verhandelt. Nur dass sie ihren Ursprung auf einer neuen Plattform, nämlich den sozialen Medien, haben – und damit auch eine viel größere, internationale Reichweite. Mit politischen Modewörtern und neuen Plattformen wird jedenfalls versucht, etwas zu einem aktuellen Phänomen hochzustilisieren, was in Wahrheit gar nicht neu ist. Ist die tolerante Haltung Andersdenkenden gegenüber also ein frommer Wunsch? Ein untrügliches Zeichen dafür ist, dass den Menschen mehr und mehr das Lachen vergeht. Nicht nur wegen der Corona-Pandemie. Es entsteht eine Art von Anti-Komik, wie in der Gesellschaft insgesamt geht auch in der Humorproduktion die Schere immer weiter auseinander – um dann umso unvermittelter zuzuschneiden. Eine Lachkultur, die alle Gesellschaftsschichten vereint, scheint es nicht mehr zu geben. Das ist nicht nur bedauerlich, sondern kann auch gefährlich werden. Denn wer nicht mit mir lachen kann, gerät in den Verdacht, mich auszulachen. Und bei der Schadenfreude liegt die Betonung immer auf dem Schaden – für alle Beteiligten.
Alle Theorien und praktischen Anwendungen des Komischen gehen von einer bestimmten Funktion des menschlichen Zwerchfells aus. Es geht um „Entladung von Spannungen“, um konstruktive Kritik, um lustvolle Verzweiflung, um erlaubte Tabuverletzungen, um Triebsublimierung und dergleichen. Der Lachskandal von heute könnte die heilsame Lehre von morgen sein. Weshalb man sich den bürgerlichen wie den zivilisatorischen Fortschritt kaum ohne Humor, ohne das Lachen vorstellen kann. Im Zuge von Globalisierung, weltanschaulichen Kulturkämpfen und gewinnorientierten Marketingstrategien erleben Begriffe wie Macht, Würde, Ehre, Respekt derzeit zwar eine Renaissance, aber vor allem eine verbale.
Ob man nun eine historisch umstrittene Statue gleich umwerfen sollte oder besser eine Plakette anbringt, die den Hintergrund dazu kritisch einordnet, oder ob man veraltete, heute als rassistisch oder sexistisch geltende Begriffe aus Romanen und Kinderbüchern eliminieren oder besser mit erklärenden Fußnoten versehen soll, das sind Fragen, die nicht nur die Kulturszene noch lange begleiten werden. Wer nicht „woke“ darauf achtet, ob das, was er sagt, politisch korrekt ist, fällt bis auf Weiteres einem „Canceling“ zum Opfer. Ob damit auf Dauer „Culture“, also Kultur zu machen ist, braucht man eigentlich gar nicht mehr abzuwarten.
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Identitätspolitik: Eine fadenscheinige Debatte
VON MARK E. NAPADENSKI
Seit einiger Zeit scheinen sich zwei Positionen zum Thema der Identitätspolitik zu bilden. Die einen befürworten sie, die anderen lehnen sie ab. Doch die Debatte wird mitunter fadenscheinig geführt, vor allem von jenen, die aus einem gewissen Schuldgefühl heraus, „weiß und privilegiert“ zu sein – und als Akt der Solidarität – all jene unterstützen möchten, die aufgrund von Herkunft, Aussehen, sexueller Orientierung etc. strukturell diskriminiert werden. Dabei werden offensichtliche Merkmale wie Hautfarbe und solche, die nicht offensichtlich sind, wie Religion und Sexualität, vermischt. Unterstützer*innen der marginalisierten Gruppen erachten es als Pflicht der Gesellschaft, diesen Sichtbarkeit zu verschaffen, sie also im öffentlichen Diskurs zu ermächtigen. Die kritischen Stimmen sehen darin eine moralische Zwickmühle. Nicht, weil sie das Problem der Diskriminierung verkennen, sondern weil sie befürchten, dass das Ergebnis dieser Entwicklung nicht mit den Werten einer freien und offenen, im Idealfall einer nicht-diskriminierenden Gesellschaft vereinbar ist. Identität gewinnt jedenfalls immer mehr an Bedeutung. Man selbst beginnt, die eigene Identität zuzuordnen, zu kategorisieren.
Das Resultat daraus ist, dass wir wieder am Anfang stehen: Es ist nicht mehr wichtig, welche Meinung vertreten wird, sondern in welchen Kategorien eine Person sich selbst einordnen möchte. Das Problem liegt nun darin, diese Kategorien (früher wurden sie Schubladen genannt) derart zu etablieren, dass Personen sich nur noch durch ihre vermeintliche „Identität“ selbst definieren oder definiert werden. Dabei ist allerdings vieles nicht offensichtlich. Viele wollen ihre „Identität“ auch nicht vor einer Gruppe, in der Öffentlichkeit, preisgeben müssen. Zudem sind Menschen, die diskriminiert werden, oft intersektional: Das heißt, sie werden aus mehreren, einander überschneidenden Gründen diskriminiert, weil sie z. B. weiblich, jüdisch und homosexuell zugleich sind. Dies führt besonders bei jenen Menschen, die sich selbst nicht als Opfer von Diskriminierung wahrnehmen, zu einem inneren Konflikt.
Anscheinend scheiden sich die Wege daher bei den moralischen Ansprüchen, die an eine Gesellschaft gestellt werden. Möchte man durch seine Meinung oder durch seine Identität Teil einer Debatte sein? Das lässt sich so einfach nicht voneinander trennen. Doch wie so oft gilt, dass der respektvolle Umgang miteinander sowie die Offenheit gegenüber anderen Meinungen immer wichtiger werden, um voreilige Schlüsse zu vermeiden. Das alles natürlich politisch korrekt und ohne Angst „gecancelt“ zu werden!