Von Erwin Javor
Schalom Asch, der berühmte jiddische Dichter, nahm an einem Linguistikkongress teil. Die Sprachexperten gaben ihr Bestes, um die Kollegen von der Überlegenheit der jeweiligen Sprache, die sie vertraten, zu überzeugen: Der Franzose hielt einen leidenschaftlichen Spontanvortrag über die Musikalität, die raffinierte Schönheit und die unvergleichliche Einzigartigkeit des Französischen. Der Anglist rümpfte in kaum merkbarem Understatement die Nase und merkte an, wie das Englische in seiner scheinbaren Einfachheit nicht nur die romanischen, sondern auch die indogermanischen Sprachen in meisterhafter Eleganz in sich vereinte. Der Deutsche fand das wenig witzig und pochte flugs auf das unerreicht komplexe Konstrukt der deutschen Grammatik. Schalom Asch hörte bescheiden und voll Bewunderung zu. Als ihn die Kollegen höflich, ohne Befürchtung von ihm übertrumpft zu werden, aufforderten doch auch über die Vorzüge des Jiddischen zu referieren, antwortete er sanft: „Men farstajt jejdes Wort.“ (Man versteht jedes Wort.)
Und genau deswegen wird es in NU ab sofort zumindest eine Kolumne geben, wo man jedes Wort verstehen wird. Unkundige glauben vielleicht, dass sie, wenn ihnen ein paar jiddische Ausdrücke wie Massl, Zores, Tineff, Tachles oder Mezie geläufig sind, schon alles wissen, was es über Jiddisch zu sagen gibt. Tatsache aber ist, dass Jiddisch eine vielschichtige, eigenständige, Jahrhunderte alte Sprache ist, die, fast ebenso lang totgesagt, bis heute überlebt hat und immer noch von Millionen Menschen gesprochen wird. Im Jiddischen lassen sich ganze Leben und tiefe Schichten an unausgesprochenen Hintergründen in einigen wenigen bilderreichen Worten unmissverständlich ausdrücken.
Zum Beispiel: Barches oder Challah ist ein Germzopf. Davon werden traditionell am Shabbat und anderen jüdischen Feiertagen zwei gegessen. Diese trockene Erklärung geht auch anders. Ein Marsmännchen landet an einem Freitag Nachmittag mit seiner fliegenden Untertasse auf der Mazzesinsel. In der Lilienbrunngasse geht es zufällig an der Auslage vom koscheren Bäcker Engländer vorbei und betrachtet voller Gier die ausgestellten Barches. Seine Antennen beginnen heftig zu surren und zu rotieren. Seine sieben Glubsch-augen treten noch mehr hervor. Aufgeregt hüpft es auf und ab und kann sich gar nicht mehr beruhigen. Der Bäcker wundert sich und fragt: „Was ist los? Gibt es auf dem Mars keine Challot?“ Darauf das Marsmännchen: „Nejn, ober dus hett git gepasst zi gefilte Fisch.“ (Nein, aber das würde gut zu „Gefillte Fisch “ passen.)
Ein anderes Beispiel: Unter Juden gilt es als unhöflich, jemanden einfach so nach dem Alter zu fragen, also verpackt man seine Neugier in eine Bruche, einen Segensspruch: „Wi alt is der Jid bis hindertinzwonzig?“ („Wie alt sind Sie? Ich wünsche Ihnen, dass Sie hundertundzwanzig Jahre alt werden sollen!“)
Und wenn man sich das Gegenteil wünscht? In einem Prozess fragt der Richter den jüdische Angeklagten: „Wie alt sind Sie?“ Sagt der Angeklagte: „57 bis 120!“ Der Richter ist verwirrt und fragt: „Was soll das heißen? Ich bin 48. Wie würden Sie das in Ihrer Sprache ausdrücken?“ – „48 bis 49, Herr Rat.“
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