Sie ist eine unermüdliche Kämpferin gegen das Vergessen der Verbrechen der Nazis: Ein Gespräch mit Anita Lasker-Wallfisch, der Cellistin des Mädchenorchesters von Auschwitz.
Von Axel Reiserer, London
Anita Lasker wurde 1925 in Breslau (Wroclaw) in eine „typisch deutschjüdische Familie“ geboren. Ihr Vater war einer der angesehensten Rechtsanwälte der Stadt und „durchdrungen von deutscher Kultur: Am Sonntag haben wir die Klassiker gelesen, den Faust konnte ich auswendig.“ Ihre Mutter war leidenschaftliche Amateurmusikerin, und Anita lernte früh Cello spielen.
Auf das Aufkommen des Nationalsozialismus und Antisemitismus reagierte die Familie mit der Hoffnung, „die Deutschen werden schon wieder zur Besinnung kommen“. Spät, viel zu spät, realisierte die Familie die tödliche Gefahr. Nur der ältesten Schwester Marianne, die sich auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete, gelang 1939 die Flucht nach Großbritannien.
Anita und ihre ältere Schwester Renate wurden 1941 zur Zwangsarbeit eingezogen. Sie verhalfen französischen Kriegsgefangenen durch gefälschte Dokumente zur Flucht. Im April 1942 wurden die Eltern deportiert und vermutlich kurz später nahe Lublin erschossen. „Ich versuche, mir den Tod meiner Eltern nicht vorzustellen“, sagt Frau Lasker-Wallfisch.
Als sie gemeinsam mit Renate nach Frankreich flüchten will, werden sie im September 1942 verhaftet. Dass man sie schließlich wegen „Urkundenfälschung, Feindbeihilfe und Fluchtversuch“ zu 18 Monaten verurteilt, erweist sich als Glücksfall: Nach Auschwitz wird Anita Ende 1943 in einem Gefangenenwagen deportiert und entgeht damit der Selektion. „Kriminelle hatten einen höheren Wert als Juden“, erinnert sie sich. Bei der Ankunft in Auschwitz erwähnt sie, dass sie Cello spielt und wird in das Mädchenorchester des Konzentrationslagers aufgenommen. So überlebt sie die Vernichtungsmaschine. Auch mit ihrer Schwester Renate wird sie bald wiedervereint: „Es war alles Zufall. Wir wussten, dass es jeden Augenblick aus sein konnte. Es herrschte reine Willkür. Ich habe Glück gehabt.“
Das Orchester war wenige Meter von den Gaskammern entfernt untergebracht: „Auschwitz, das waren Menschen in schwarzen Umhängen, brüllende Männer, bellende Hunde und über allem der Gestank von verbrannten Leichen.“ Im Mädchenorchester, geleitet von der Mahler- Nichte Alma Rosé, musste sie unter anderem für KZ-Arzt Mengele die „Träumerei“ von Schumann spielen. Jahrzehnte später wählte ihr Enkel es für seine Aufnahmeprüfung an ein englische Schule: „Er sagte: ‚Das Stück hat meiner Großmutter das Leben gerettet.‘“
Ende 1944 wird das Mädchenorchester nach Bergen-Belsen transportiert. „Auschwitz war organisierter Mord, Bergen-Belsen war Chaos.“ Zigtausende sterben noch, bevor die Briten das KZ am 15. April 1945 befreien. Anita Lasker-Wallfisch: „Ich war 19 und fühlte mich wie 90.“ Elf Monate dauert es, bis sie und ihre Schwester nach Großbritannien ausreisen dürfen: „Das war die größte Enttäuschung, dass uns niemand wollte. Ein Belgier konnte nach Belgien, ein Franzose nach Frankreich zurückkehren. Aber wir?“
In London, wo sie bis heute lebt, wird Anita Lasker-Wallfisch Mitbegründerin des weltbekannten English Chamber Orchestra. 1952 heiratet sie den ebenfalls aus Breslau stammenden Pianisten Hans Peter Wallfisch. Auch ihr Sohn Raphael Wallfisch und die Enkelsöhne Benjamin und Simon brachten es als Musiker zu Ruhm, 2008 gewann Benjamin für die Musik zum Film „Atonement“ einen Oscar.
Nachdem sie über 40 Jahre ihre Kriegserlebnisse geschwiegen hatte („Wir waren beschäftigt, mit unserem Leben zurechtzukommen, und gefragt hat uns keiner“), zeichnete Anita Lasker-Wallfisch für ihre Familie Anfang der 1990er Jahre ihre Erinnerungen in dem bewegenden Buch „Ihr sollt die Wahrheit erben“* auf. Seither hat sie in zahllosen Diskussionen als Zeitzeugin über ihr Leben berichtet und dafür sogar ihren Schwur gebrochen, nie wieder deutschen Boden zu betreten: „Wir sprechen für jene, die keine Stimme mehr haben.“ Bis heute trägt sie die Auschwitz-Nummer 69388 auf ihrem linken Unterarm: „Ich käme mir als Verräterin vor, würde ich das wegmachen lassen.“
Erleben Sie es, dass Leute sagen, wir wollen von Auschwitz nichts mehr hören?
Die junge Generation ist sehr beeindruckend, es sind die Erwachsenen, die sagen, es ist genug. Vor einiger Zeit war ich in Kärnten, Haider- Country, zur Eröffnung einer Gedenkstätte auf dem Loibl-Pass. Alles war sehr eindrucksvoll, aber man muss auch sagen: Auf der anderen Seite steht so ein Mahnmal seit 50 Jahren. Österreich hinkt sehr nach. Die Menschen, die ich treffe, sind fabelhaft, aber sie stoßen oft immer noch auf Widerstand.
Sehen Sie neue Nazis in Österreich und Deutschland?
Ja, bestimmt. Ich war im Erzgebirge in Ostdeutschland, es ist nicht unähnlich den dreißiger Jahren mit hoher Arbeitslosigkeit. Dann kommt das wieder, dass irgendwer daran schuld sein muss. Wenn es gerade nicht die Juden sind, dann eben die Türken. Aber über Österreich mache ich mir mehr Sorgen, weil man in Deutschland viel früher begonnen hat, alles zu tun, was dieses blödsinnige Wort „Wiedergutmachung“ wiedergibt. Es gibt ja nichts mehr gut zu machen, aber vielleicht kann man es jetzt besser machen.
Warum muss man heute noch über Auschwitz sprechen?
Weil das eine absolut einmalige Sache war. Es ist ein Unterschied, ob sich gebildete, intelligente und studierte Leute zusammensetzen und besprechen, wie man alle Juden ermordet. Diese kaltblütige Planung eines Massenmords, das ist noch nie da gewesen, das ist der Unterschied zwischen dem Holocaust und Ruanda, ohne dass ich etwas herabwürdigen will. Mord ist Mord, ein Toter ist zu viel. Aber es ist sehr wichtig, den Holocaust immer als einzigartig darzustellen und dass sich das intelligente Menschen ausgedacht haben.
Gibt es die Gefahr einer „Überfütterung“, wo man Ihnen sagt: „Nicht schon wieder …“?
Ja, die gibt es und darum muss man sehr vorsichtig sein und immer die Beziehung zur Gegenwart herstellen. Nicht meine Leidensgeschichte zählt, sondern wie wir heute zueinander stehen. Die Gefahr ist, dass der Holocaust unter einen Glassturz gestellt wird, mit dem keiner mehr etwas zu tun hat. Ich war in Berchtesgaden (wo Hitlers Berghof steht, Anm.), das scheint heute ein Nazi-Wallfahrtsort zu sein. Ein junger Mann wollte eine Gedenkfahrt nach Auschwitz organisieren, da hat man ihm gesagt: ‚Was hat Berchtesgaden mit Auschwitz zu tun?’ Dann hat er sogar seinen Job verloren. Das ist sehr bedrückend, da muss man etwas tun.
Ist ein neuer Holocaust möglich?
Das habe ich mich oft gefragt. Es ist nicht unmöglich. (Schweigt.) Ich weiß nicht, was mit uns los ist. Tiere sind sympathischer als Menschen. Die töten, weil sie Hunger haben, aber damit ist es fertig. Aber wir Menschen? Wir müssen uns absolut ermorden und dann auch noch eine Begründung erfinden. Warum musste man eigentlich die Juden ermorden, frage ich mich. Wir haben angeblich Jesus ans Kreuz geschlagen … Nun, ich habe es nicht getan.
Das waren doch die Römer …
Natürlich, aber es ist ganz angenehm zu sagen, es waren die Juden. Dabei vergisst man, dass Jesus selbst Jude war. Das ist ja der ganze Wahnsinn: Irgendwie müssen die Menschen immer einen Grund finden, andere zu hassen. Als der Krieg vorbei war, dachte ich, Antisemitismus wird es nicht mehr geben, und wenn einer Antisemit ist, dann ist es sein Problem, nicht meines. Aber langsam wird das wieder unser Problem.
Ist es die Lehre von Auschwitz, dass das Unvorstellbare möglich ist?
Das Unvorstellbare ist möglich, wenn man die niedrigsten Instinkte weckt. Das macht mir Angst. Irgendjemand muss immer schuld sein. Ich bin so ein Realist, dass ich denke, wahrscheinlich sind alle Menschen ein bisschen antisemitisch, denn Juden sind so ein Rätsel, sie sind ja auch ein Rätsel für mich: Es ist schwer zu beschreiben, was ein Jude ist. Und dann kommt der Blödsinn, dass man von dem Juden spricht. Den gibt es ja gar nicht. Wir sind so verschieden, verschiedener kann man gar nicht sein. Juden kann man nicht unter einen Hut bringen. Außer man vergast sie.
* Anita Lasker-Wallfisch, „Ihr sollt die Wahrheit erben“, 9. Auflage 2008, Rowohlt Taschenbuch Verlag