In seinem Sachbuch „Die Lösungsbegabung“ beschreibt der Genetiker und Autor Markus Hengstschläger neue Strategien, um den großen Herausforderungen für die moderne Gesellschaft zu begegnen. Individuelle und kollektive Lösungen stehen einander dabei nicht im Weg. Im Gegenteil.
Von Martin Engelberg
„Der Mensch ist lösungsbegabt. Dieses auch genetisch mitbestimmte Potenzial muss aber laufend am Blühen gehalten werden. Nur so versetzen wir Menschen uns in die Lage, die vorhersehbaren und auch unvorhersehbaren Probleme der Zukunft zu bewältigen. Wer nicht mit offenen Augen und offenen Ohren in Bewegung bleibt, kann nicht finden, was er sucht und vergibt auch die größte Chance des Lebens – nämlich tolle Dinge zu finden, die man gar nicht gesucht hat.“ (Markus Hengstschläger)
Verlangen die Probleme der Gegenwart also neue, kreative Lösungen? Wie kann der Mensch etwa auf die Herausforderungen des immer schneller werdenden Wandels, der digitalen Revolution, der Klimakrise oder aktuell einer Virus-Pandemie reagieren? Dafür müsse er sich, so Markus Hengstschläger, auf eines seiner größten Potenziale besinnen – seine Lösungsbegabung. Und es liege in der Hand jedes einzelnen, dieses Potenzial zu erkennen und auszuschöpfen.
NU: Begriffe wie „Lösungsbegabung“, „Förderung des genetisch mitbestimmten Potenzials“, „Bildung und Talentmanagement“ sind in Ihrem Buch zentral. Höre nur ich da eine jüdische Tangente raus?
Markus Hengstschläger: Gar nicht! Als wir dieses Interview vereinbart haben, hatte ich die Antworten schon parat. Sie hätten also gar nicht fragen müssen! Soll heißen: Das Potenzial der Lösungsbegabung ist zwar auch genetisch mitbestimmt, aber es kommt nur durch Wissenserarbeitung zur Geltung und durch ständige Übung. Es muss vor allem ein grundlegendes Interesse bestehen, die nächste Generation hier zu fordern und zu fördern. Sind wir da nicht bei einem ganz wichtigen Teil der jüdischen Tradition?
Bei der Tradition, Kinder schon früh für das Lernen zu begeistern und dieses lebenslange Lernen als wichtigen Bestandteil zu begreifen. Was mich an der jüdischen Erziehung stets fasziniert hat, war die Anregung – ja fast Nötigung –, immer wieder eine besonders g’scheite Frage zu stellen. Das wurde bejubelt, auch wenn die Frage noch so abwegig war.
Das ist ein zentraler Punkt: Gegebene Wahrheiten nochmals in Frage zu stellen, neu und in anderen Zusammenhängen zu denken, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Auch guter Humor gehört dazu. Der hat ja schließlich auch oft eine disruptive Wirkung. Das sind auch, wie ich meine, sehr wichtige Werte in der jüdischen Tradition. Und darum geht es unter anderem in meinem Buch. Zum Beispiel: Die wichtigste Förderung des Kindes besteht darin, ihm die Lösungsfindungsprozesse nicht abzunehmen. Kinder müssen selbst Lösungen finden „dürfen“. Das ist eine ganz fundamental wichtige Erfahrung. Wenn man selbst Lösungen gefunden hat, wenn man weiß, dass man das kann, prägt das einen für das ganze Leben. Und es ist Motivation dafür, sich später in kollektive Lösungsfindungsprozesse einzubringen.
Aber sind es nicht oft Einzelpersonen, nicht Kollektive, welche die großen Erfindungen erdacht haben?
So und so. Die aktuelle Entwicklung eines Impfstoffs gegen das SARS-CoV-2 Virus zeigt zum Beispiel: Nur die kollektive Leistung von Grundlagenforschung, Pharmaindustrie und Politik, die für die Rahmenbedingungen sorgt, ermöglicht eine solche schnelle Entwicklung. Diese Kooperation ist wohl in der Geschichte einmalig. Es ist atemberaubend mitzuverfolgen, wie so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die unterschiedlichsten Wege denken und gehen. Wie sie ständig miteinander kommunizieren. Wir brauchen das Kollektiv – und da sehe ich wieder Bezug zur jüdischen Tradition. Es braucht nicht nur ein ganzes Dorf, wie es so schön heißt, sondern sogar mehrere Dörfer, um Begabungen und Talente maximal zu fördern, und darin hat sich das Judentum ja immer besonders ausgezeichnet.
Wichtig ist auch der von Ihnen geprägte Begriff „Mut aus Sicherheit“.
Der Mensch braucht sowohl Mut für Neues als auch Sicherheit. Er braucht „Yes-or-yes“-Projekte, wie ich sie nenne. Das sind Vorhaben, bei denen ich genau weiß, wie ich zu einer Lösung komme, weil ich sie vielleicht schon oft bewältigt habe. Ich kenne das Resultat. Das braucht der Mensch, um Sicherheit zu haben. Auch Rituale können Sicherheit geben. Und diese sind ja auch in der jüdischen Tradition enorm wichtig. Als meine Frau und ich einmal zu einem Schabbat-Abend bei Ihnen eingeladen waren, war es wunderschön mitzuerleben, wie Ihre Familie das Ritual, die Gesänge, die Gespräche am Tisch usw. zelebrierten und genossen – vor allem auch Ihre Kinder. Ich würde meinen, das gibt ihnen die nötige Sicherheit.
Gibt es dazu parallel auch „Yes-or-no“-Projekte?
Selbstverständlich. Wir müssen immer wieder etwas Neues, Innovatives ausprobieren oder etwas Gewagtes riskieren, egal ob in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder sonstwo. Das wird nicht immer funktionieren, aber wir müssen es versuchen. Bei „Yes-or-yes“ holen wir uns die Sicherheit, aber wenn wir nur so agieren würden, gäbe es keine Innovation. Wenn wir hingegen nur „Yes-or-no“- Projekte verfolgen würden, dann geht uns vielleicht – wenn sie längere Zeit nicht zum Erfolg führen – irgendwann die Kraft aus.
Besonders schön finde ich auch Ihre Überlegungen zu Optimisten, Pessimisten und Ermöglichern. Was hat es damit auf sich?
Wohl wissend, dass es viel mehr Typen und auch alle Übergänge gibt: Wir haben auf der Welt einerseits blauäugige Optimisten, die sagen „Das geht sich schon aus. Die Politik oder die Wissenschaft wird das schon richten.“ Es sind jedenfalls die anderen. Diese Leute verlassen sich darauf und lehnen sich zurück. Zerbrechen sich nicht weiter den Kopf darüber. Dann haben wir die eingefleischten Pessimisten. Die sagen: „Das geht sich alles nicht aus. Und wenn es sich dieses Mal doch noch ausgeht, dann kracht es sicher das nächste Mal.“ Diese Leute können oder wollen sich auch nicht konstruktiv in einen Lösungsprozess einbringen. Und dann haben wir noch die Ermöglicher bzw. „Enabler“, wie es im Englischen so treffend heißt. Die sagen: „Einfach wird es nicht.“ Aber sie bringen sich ein, arbeiten an Lösungen. Wenn sie scheitern, stehen sie immer wieder auf und versuchen es noch einmal. Sie sind überzeugt, dass wir es schaffen können. Und jede und jeder Einzelne von uns kann einen Beitrag leisten. So klein er auch zu sein scheint. In der Pandemie eine Maske zu tragen, in die Armbeuge zu husten, Abstand zu halten, oder für gefährdete Personen einkaufen zu gehen. Wenn jeder diese Leistungen ins Kollektiv einbringt, dann entstehen daraus eine enorme Kraft für Lösungen und gewaltige Leistungen.
Markus Hengstschläger
Die Lösungsbegabung. Gene sind nur unser Werkzeug. Die Nuss knacken wir selbst!
Ecowin, Elsbethen 2020
256 S., EUR 24,–