Religiöse Dogmen bestimmen zunehmend die Politik und unterwandern die Trennung von Kirche und Staat. Leben wir im Zeitalter der Gegenaufklärung?
Ein Essay von Herbert Voglmayr
„Alle Menschen sind entweder Juden oder Hellenen“, schrieb Heinrich Heine 1839 in seiner Denkschrift für Ludwig Börne, „Menschen mit asketischen, bildfeindlichen, vergeistigungssüchtigen Trieben oder Menschen von heiterem, entfaltungsstolzem und realistischem Wesen“. Diese Äußerung stand im Zusammenhang mit einer Diskussion über den europäischen Ursprung, der zunächst in der Sprachwissenschaft aufgekommen war. Die Entzifferung des Sanskrit und die Entdeckung der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft führte zur Konstruktion eines „arischen“ Ursprungs der europäischen Kultur und zu einer vorerst nur sprachwissenschaftlichen Gegenüberstellung des „Arischen“ und des „Semitischen“. In der Folge wird dieser Gegensatz völkerpsychologisch und kulturhistorisch ausgedeutet, womit sich ein Konflikt aufbaut, der in seinen unendlichen Proliferationen bis heute fortwuchert.
Die besondere Wendung von Heines Antwort auf die Frage nach dem europäischen Ursprung besteht darin, dass sie den Gegensatz verallgemeinert. Statt um Arier oder Semiten geht es um einen allgemeinen Gegensatz, der alle Menschen betrifft, um den Gegensatz zwischen weltabgewandter Vergeistigung und weltzugewandter Sinnlichkeit. Dabei verknüpft er die (jüdische) Geistigkeit ironisch mit „Trieb“ und „Sucht“ und verleiht dem Gegenpol der (griechischen) Sinnlichkeit den Ehrentitel „Wesen“.
In ähnlicher Weise sieht Sigmund Freud den jüdischen Beitrag zur Kulturgeschichte im Streben nach dem, was er den „Fortschritt der Geistigkeit“ nennt. Dieser Fortschritt entspreche auf der Ebene der kollektiven Kulturentwicklung dem, was Freud auf der Ebene des individuellen Seelenlebens als „Sublimierung“ bezeichnet und als höchste Leistung seelischer Bildung und Reifung betrachtet. Und er sieht so wie Heine diesen kulturhistorischen Fortschritt der Juden ursächlich mit dem Bilderverbot des Dekalogs verbunden. Allerdings ist Freud im Gegensatz zu Heine der Ansicht, dass sich die Kulturentwicklung keinem Trieb verdankt, sondern im Gegenteil einem Triebverzicht. Nur durch Zähmung der menschlichen Triebnatur komme man zur Ablehnung von Magie und Mystik, zu aufklärerischem Denken und zur Betonung des Ethischen. Dabei geht es nicht um ein zwanghaftes Entweder-oder von Intellektualität und Sinnlichkeit, sondern um ein fruchtbares Sowohl-als-auch, sodass man das erwähnte Heine- Zitat dahingehend ändern müsste, dass alle Menschen sowohl Juden als auch Hellenen sind.
Die Einschätzung des jüdischen Bilderverbots als entscheidende Markierung im kulturhistorischen Fortschritt der Menschheit hat eine lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht und etwa von Immanuel Kant, dem wohl prominentesten Vertreter der europäischen Aufklärung, in der „Kritik der Urteilskraft“ besonders hervorgehoben wird: „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, noch irgendein Gleichnis, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erde, noch unter der Erden ist.“
Das Bilderverbot ist zunächst eine Zurücksetzung der sinnlichen Wahrnehmung gegenüber einer abstrakten Vorstellung, bringt aber auch die Unterscheidung von wahr und falsch, von Vernunft und Wahnsinn in die Götterwelt. In der biblischen Tradition ist es an Ethik und Gerechtigkeit geknüpft, während Idolatrie mit Gesetzlosigkeit, Unzucht und Gewalt verbunden ist, mit Blutopfern und orgiastischen Tänzen. Bilderanbetung wird als eine Art Wahnsinn betrachtet, der Menschen mit zwanghafter Gewalt in seinen Bann schlage und von der geistigen Erkenntnis Gottes abbringe, sie auf wahnhafte Weise in die Welt der sichtbaren Dinge verstricke, wo jedes Bild die Möglichkeit in sich trage, als Gott angebetet zu werden, was dann unweigerlich zu Götzendienst und Vielgötterei führe.
Der Fortschritt vom Polytheismus zum Monotheismus, der durch das jüdische Bilderverbot markiert ist, hat Parallelen in anderen Kulturräumen, etwa in der griechischen und da besonders in der platonischen Philosophie, die über das sinnlich Gegebene hinauszugehen versucht, um die Welt mit den Augen des Geistes zu erfassen (was übrigens den Heine’schen Gegensatz von Juden und Hellenen relativiert). Eine moderne Parallele (und Weiterentwicklung) ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die sich aus einer philosophisch-literarischen Bewegung, die das Gottesgnadentum absolutistischer Machthaber in Frage stellte, zu einer gesellschaftspolitischen Emanzipationsbewegung entwickelte, die jegliche politische Autorität dem Urteil kritischen Denkens unterwarf und damit eine Entwicklung einleitete, die den modernen Rechtsstaat mit Gewaltenteilung, parlamentarischer Demokratie sowie Trennung von Kirche und Staat hervorbrachte. Das politische Projekt einer friedlichen Einigung Europas wäre ohne diese von der Aufklärung eingeleitete Entwicklung kaum möglich geworden. Eine gewaltige Leistung nach den vielen Blutopfern im Namen der nationalistischen Vielgötterei, im Namen religiöser Dogmen oder eines arischen Ursprungs der europäischen Kultur.
Seit dem Ende des Kalten Krieges erleben wir eine Entwicklung, die man eher als Gegenaufklärung bezeichnen könnte. Zuerst war vom „Ende der Geschichte“ die Rede, dann kam die These vom „Kampf der Kulturen“ auf, die sich schnell als Kampf der Religionen manifestierte und zu einem Erstarken der religiösen Rechten führte. Religiöse Dogmen bestimmen zunehmend das politische Geschehen und machen die Trennung von Kirche und Staat tendenziell rückgängig. Auch Errungenschaften des Rechtsstaates stehen in Frage, wenn etwa ein prominenter britischer Richter vorschlägt, das archaische Scharia- Recht ins europäische Rechtssystem zu integrieren. Dass christliche Europapolitiker einen Gottesbezug in die europäische Verfassung schreiben wollen oder in Irland soeben ein Gesetz in Kraft trat, das hohe Strafen für Gotteslästerung vorsieht, hat wohl eher anekdotischen Charakter, passt aber ins Bild. Bedenklicher ist es, wenn soziale Spannungen ahistorisch als religiöse Konflikte definiert werden, um den Hass zwischen den Religionen zu schüren. Die Aggressivität, mit der etwa in Österreich die politische Parole „Abendland in Christenhand“ ausgerufen wird, hat schon fast den Charakter eines Aufrufes zum Religionskrieg, und das von einer politischen Gruppierung, die mit dem Christentum wenig zu tun hat, vielmehr ihrer rassistischen Politik ein christliches Gewand umhängt.
Das verbreitete Unbehagen an dieser Entwicklung zeigte sich etwa an den schwärmerischen und illusorischen Erlösungshoffnungen, die sich (auch in Europa) an die Präsidentschaft Barack Obamas knüpften und jetzt von der Realität gedämpft werden. Es wäre an der Zeit, in der veränderten historischen Situation an die Tradition der Aufklärung anzuknüpfen und den Stimmen wieder mehr Gehör zu verschaffen, die für eine offene Gesellschaft auf Basis aufgeklärter Rationalität eintreten. Traditionen bleiben aber nur lebendig, wenn sie sich in veränderten Situationen selber ändern.