Francis Steiner flüchtete mit dem ersten Kindertransport nach England, wo er 52 Jahre Korrespondent der Kathpress war. NU fuhr mit ihm Auto.
Von Axel Reiserer, London
Als mir Francis Steiner vorgeschlagen hatte: „Kommen Sie doch einfach mit dem Zug nach Banbury, ich hole Sie dann mit dem Auto ab“, hatte ich schon leichte Bedenken. Der 87-jährige Mann sieht kaum mehr und bewegt sich mit Hilfe von zwei Stöcken nur mehr äußerst schwerfällig. Aber Auto fährt er noch! Aus einer Mischung aus Höflichkeit, Bequemlichkeit und Neugierde nahm ich sein Angebot dennoch an.
Vor dem Bahnhof Banbury, dem rund 100 Kilometer von London entfernten Wohnort von Francis Steiner, überlege ich dann ein paar Wochen später bei jedem ankommenden Fahrzeug, ob er das nun sein könnte. Aber die Autos sind alle viel zu neu. Ihn hingegen stelle ich mir beispielsweise in einem Morris Minor vor, Baujahr 1957 und gebaut im benachbarten Oxford. Der Wind pfeift, von Herrn Steiner keine Spur und mir fällt ein, dass ich seine Telefonnummer nicht bei mir habe.
Da erschüttert ein ohrenbetäubendes Geräusch die schmale Bahnhofszufahrt und ein Microcar – das sind jene Miniaturautoimitationen aus Kunststoff, die man unerklärlicherweise ohne Führerschein bewegen darf – nimmt Ziel auf mich. Francis Steiner hält ungefähr 0,5 Zentimeter vor meinem rechten Schienbein und ruft zur Begrüßung: „Sie müssen sich da erst Platz verschaffen.“ Was nicht nur wegen der „Größe“ des Fahrzeugs eine gewisse Herausforderung ist, aber irgendwie schlichte ich mich zwischen Gehstöcken, Umhängetasche, Wasserflaschen und Papieren, und wir brausen los. Selten in meinem Leben habe ich mich so enthusiastisch angeschnallt.
„Zuerst zeige ich Ihnen unsere schöne Landschaft und dann führe ich Sie ein wenig außerhalb zu einem Pub, wo man sehr gut essen kann. Später fahren wir dann noch nach Burton Dassett, zu einem Ort, wo …“ Was Francis Steiner noch sagt, geht in dem unsäglichen Krach des Fahrzeugs unter. Ab ca. 20 km/h beginnt das Armaturenbrett so stark zu vibrieren, dass ich jederzeit erwarte, dass es uns entgegenfliegt. Francis Steiner scheint das nicht zu stören, er fährt beherzt in den nächsten Kreisverkehr ein, ich brülle noch „Halt!!!“, da hat er schon ein anderes Auto zur Notbremsung gezwungen und fährt gänzlich unbeeindruckt weiter.
Das Hupen und Fäusteschwingen aus dem anderen Auto ignorieren wir ebenso souverän wie die Tatsache, dass sich hinter uns bald eine endlose Schlange bildet. Dabei kommt mir die Fahrt gefährlich schnell vor. Geschwindigkeit ist offenbar eine Fiktion. Schließlich aber erreichen wir (fragen Sie nicht, wie) das Pub. Francis Steiner erzählt mir alles über die Gegend, in der wir uns befinden. „Hier stoßen sieben Grafschaften zusammen, in der Nähe ist Oxford, aber auch Stratford-upon-Avon, die Shakespeare-Stadt …“ Er kennt hier jeden Hügel, jede Kirche, jedes Landgut – für Francis Steiner, der am 2. Oktober 1922 in Wien als Franz Steiner geboren und noch heute von der Familie „Franzi“ gerufen wird, ist das hier sein Zuhause geworden.
Manchmal wundert er sich darüber selbst noch. „Wir waren eine ganz typische Wiener Bürgerfamilie, sehr emanzipiert vielleicht“, erinnert er sich im Gespräch. Der Vater beendete seine Berufslaufbahn als Senatsvorsitzender am Handelsgericht, die Mutter war 1912 eine der ersten Studentinnen an der Universität Wien, sein Bruder und er besuchten das Schottengymnasium. Man wohnte in der Habsburgergasse in einer herrschaftlichen Wohnung und hatte zwei, manchmal sogar drei Hausangestellte. Sein 2003 verstorbener älterer Bruder Willi Steiner schrieb: „Es war für uns alle selbstverständlich, dass ich Jus studieren würde, um möglichst schnell in den Staatsdienst eintreten zu können.“
Willi Steiner wurde tatsächlich ein herausragender Jurist. Allerdings nicht im Dienst des österreichischen Staates, sondern zunächst in London, danach in Cambridge, wo er an der rechtswissenschaftlichen Fakultät arbeitete. Zu seinem Tod veröffentlichte sogar die „Times“ einen Nachruf – verfasst von seinem vier Jahre jüngeren Bruder Franzi. Beide mussten 1938 vor den Nazis aus Wien fliehen. Francis Steiner: „Obwohl wir schon seit zwei oder drei Generationen katholisch waren und mein Urgroßonkel Ende des 19. Jahrhunderts sogar Bischof von Stuhlweißenburg (Székesfehérvár) wurde, waren wir für die Nazis reinrassige Juden.“ Bis ins 15. Jahrhundert lässt sich die Familiengeschichte zurückverfolgen, und sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits waren die Vorfahren Juden aus dem Gebiet zwischen Wien, Budapest und Pressburg.
Wien, als Reichshauptstadt, hatte dabei immer eine Vorrangstellung. Umso schwerer muss wiegen, was hier nach dem 11. März 1938 geschah. „Wir waren in unserer Wohnung in der Habsburgergasse und haben natürlich gehört, was am Heldenplatz geschah“, sagt Francis. „Wenn ich in diesen Tagen über den Graben gegangen bin, konnte ich nicht übersehen, was mit den Juden geschah.“ Die Steiners waren keinen Übergriffen ausgesetzt, aber die Angst war allgegenwärtig. Der Vater wurde mit 60 Jahren zwangspensioniert, seine Gesundheit war zudem schon lange angegriffen. Die Eltern konzentrierten sich nun auf die Rettung ihrer Kinder.
Zunächst gelang es mit Hilfe amerikanischer Verwandter, Willi nach Erwerb eines Diploms an der Konsularakademie im Sommer 1938 zu einem Studienaufenthalt nach Großbritannien zu schicken. Francis beendete damals noch die Sexta bei den Schotten („Sie waren bekannt dafür, dass sie nicht antisemitisch waren und nach dem Sommer 1938 mussten sie sowieso schließen.“), dann begann das Bangen um ihn. Schließlich konnte er mit dem ersten Kindertransport das Land verlassen und traf am 13. Dezember 1938 in Großbritannien ein. Er war 16 Jahre jung. Willi und Franzi haben ihre Eltern nie wieder gesehen.
Die Eltern flüchteten erst 1940 aus Österreich nach Ungarn. „Mein Vater hat immer geglaubt, sie seien geschützt, weil er im Ersten Weltkrieg an der Front war“, sagt Francis Steiner. In Ungarn hilft ihnen „die heilige Mutter Kirche“ (Francis Steiner), unbefristeten Aufenthalt zu bekommen, und bei Verwandten finden sie Unterschlupf. Die Gesundheit des Vaters verschlechtert sich ständig. Nach der Besetzung Ungarns 1944 bietet ihnen die Kirche Schutz an, doch die Eltern wollen sich nicht trennen. Im Mai werden sie in Budapest festgenommen, ihre Spur verliert sich in einem Deportationslager.
Francis Steiner: „Da mein Vater für damalige Verhältnisse ein alter Mann war und an schwerer Diabetes und Herzproblemen litt, nehme ich an, dass er glücklicherweise den Transport nach Auschwitz nicht überlebt hat. Bei meiner Mutter bin ich eigentlich ziemlich sicher, dass das nicht der Fall war …“
Während Willi in Großbritannien noch eine Rechtsausbildung absolvierte, wurde Francis nach seiner Ankunft in einem Stift aufgenommen. Nach Schulabschluss wurde er auf der Isle of Man in dem berüchtigten Lager für „feindliche Ausländer“ interniert. „Am Anfang war das ja eine kultivierte Volkshochschule. Aber dann hat man die politischen und jüdischen Flüchtlinge entlassen, sodass nur mehr die wirklichen feindlichen Ausländer überblieben, und das war dann schon langweilig.“ – „Wie bitte?“ – „Wenn Sie es gewohnt sind, mit kultivierten Mitteleuropäern zu verkehren – Wissenschaftlern, Musikern, Schriftstellern –, dann ist das etwas anderes als unter deutschen Lümmeln, die wahrscheinlich wirklich alle Nazis waren.“
Erst nach 15 Monaten, im September 1941, wird auch Francis Steiner aus der Internierung entlassen. Er engagiert sich im „war effort“ und studiert Volkswirtschaft. Vor Kriegsende bekommt er 1945 eine Stelle im Staatsdienst, obwohl er damals noch nicht die britische Staatsbürgerschaft hat: „Ich war ein Unikum. Ich hatte einen österreichischen Pass, in dem stand: Britischer Staatsbediensteter.“ Heute hat er beide Staatsbürgerschaften. Später wurde er Börsenmakler, „ohne überhaupt zu wissen, was ein stock broker macht“. Ab 1955 war er zudem nebenbei Korrespondent der katholischen österreichischen Presseagentur Kathpress in Großbritannien („Für das Geld habe ich es nicht gemacht.“). Die Tätigkeit übte er bis 2007 aus, insgesamt 52 Jahre: „Ich war der längstdienende Auslandskorrespondent der österreichischen Presse.“ Der Journalismus blieb Francis Steiners große Liebe: Heute noch ist er im Redaktionsausschuss der „Deddington News“ und redigiert Beiträge für das Lokalblatt.
Die Republik Österreich verlieh ihm das Goldene Ehrenzeichen, zu seinem Abschied lud ihn die Kathpress nach Wien und Kardinal Schönborn nahm sich Zeit für ein gemeinsames Mittagessen. „Das ist mir nicht an der Wiege gesungen worden, dass ich einmal mit dem Kardinal essen werde und am Fenster stehe und auf die Orte blicke, wo wir einst zu Hause waren.“ In die Wohnung der Steiners zog nach der Flucht der Eltern die Familie der ehemaligen Hausbesorgerin, deren Schwiegersohn sich im März 1938 als „illegaler Nazi“ zu erkennen gab. Die Wohnung wurde niemals rückerstattet.
Und dennoch sagt Francis Steiner: „Wären unsere Eltern noch da gewesen, wären wir zurückgekommen. Wider besseres Wissen habe ich mir eingeredet, das ist nicht die Schuld der Österreicher, sondern des invadierenden Feindes (der Deutschen, Anm.)“ – „Aber Sie haben doch alles gesehen?“ – „Ja, Grausliches. Aber ich wollte es nicht wahrhaben. Die Österreicher, die ich kenne, haben es verstanden, und die anderen will ich nicht kennen.“
In seinem Nachruf, den er schon längst selbst geschrieben hat, sagt Francis Steiner über sich: „Ich bin symmetrisch gespalten wie der Doppeladler der Monarchie – in einen Austro-Briten und einen Anglo- Österreicher.“ In den letzten Jahren kam aber noch etwas dazu: „Jahrzehnte wollte ich von meiner jüdischen Abstammung nichts wissen und habe mich nur als Katholik verstanden. Aber heute bin ich stolz darauf. Heute bin ich dreiköpfig, neben Brite und Österreicher bin ich auch ein mitteleuropäischer Jude.“
Wir fahren dann tatsächlich noch nach Burton Dassett, wo mich Francis Steiner zum Grab seiner Frau führt, in dem auch er einmal beigesetzt werden möchte. Wir fahren mit seinem schrecklichen Fahrzeug über enge Hügelwege, bis wir zu jenem Aussichtspunkt kommen, von dem man die sieben Grafschaften sehen kann. Das ist Zuhause. Die Bergabfahrt animiert ihn dann noch, die Geschwindigkeit zu erhöhen, denn unglückseligerweise sind die englischen Microcars nicht auf 40 km/h beschränkt. Er erzählt, dass er bis vor wenigen Jahren auch noch Motorroller gefahren sei. Aber jetzt erlaube es seine Tochter nicht mehr. Obwohl sich die Plastikkarosserie im Fahrtwind eigenartig verformt und der Motorenlärm jeden Düsenjet übertreffen würde, fühle ich mich vollkommen sicher. Dank der Weisheit, des Witzes und der Güte dieses alten Mannes.