70 Jahre nach seiner Flucht nach Großbritannien wurde Erich Reich in den Adelsstand erhoben. NU erzählte er sein Leben.
Von Axel Reiserer, London und Marion Trestler (Foto)
Unter dem Eindruck des Novemberpogroms im Dritten Reich verkündete die britische Regierung am 21. November 1938 ihre Bereitschaft zur Aufnahme jüdischer Kinder unter Verzicht auf Einreisevisa. Voraussetzung war allerdings, dass die Flüchtlinge privat untergebracht und versorgt werden sollten. Juden, Christen und Quäker bildeten Hilfskomitees, die den Transport und die Unterbringung der Kinder organisierten.
Bereits am 2. Dezember 1938 trafen die ersten 200 Kinder aus Berlin in Großbritannien ein. Aus Wien, wo die Lage besonders prekär war, konnte die erste Gruppe am 11. Dezember abreisen, nachdem die Niederländerin Gertrude Wijsmuller- Meijer quasi im Alleingang Adolf Eichmann die Ausreise von 600 jüdischen Kindern abgerungen hatte. Wijsmuller-Meijer wird heute in Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt.
Durch die Kindertransporte konnten bis Kriegsausbruch am 1. September 1939 etwa 10.000 jüdische Kinder in Sicherheit gebracht werden. Erich Reich traf am 29. August gemeinsam mit seinem älteren Bruder Ossi mit einem Schiff aus Polen in Großbritannien ein. Erich war damals vier Jahre alt. Wer kann verstehen, was es für die Eltern und das Kind bedeutet, wenn ein Vierjähriger allein in ein unbekanntes Land, dessen Sprache er nicht spricht, zu unbekannten Menschen in eine unbekannte Zukunft reist und keinerlei Hoffnung auf ein Wiedersehen besteht? „Ich habe keine Erinnerungen mehr an Wien und an unsere Deportation“, sagt Erich Reich heute, mehr als 70 Jahre später. Sein Vater war Handelsvertreter und sang in der Synagoge in der Leopoldstadt. Erich war der jüngste von drei Söhnen.
Im Herbst 1938 wurde die Familie nach Polen abgeschoben. „Meine Großmutter kam ausgerechnet aus einem Ort namens Oswiecim“, erzählt Reich, wobei er den polnischen Namen für Auschwitz verwendet. All dies wird er erst viele Jahre später erfahren. In Großbritannien kommt er nach Dorking zu einer Familie aus dem Sudetenland und wächst bei ihr auf. „Es waren gute, ehrliche, hart arbeitende Leute“, erinnert er sich. Er hält das Ehepaar Emily und Joseph Kreibich für seine leiblichen Eltern, besucht die örtliche Schule und geht mit ihnen am Sonntag zur Messe.
Alles ändert sich, als nach Kriegsende 1945 plötzlich ein Fremder auftaucht. „Ich war draußen und spielte mit meinem Roller, da stand plötzlich dieser junge Mann da und fragte mich: ‚Kannst du mir sagen, wo die Familie Kreibich wohnt?‘“ Wenig später wurde Erich ins Haus gerufen: „Meine Ziehmutter sagte zu mir: ‚Das ist dein Bruder Jacques.‘ Es war ein totaler Schock, ich hatte keinerlei Erinnerung an meine wirkliche Familie.“ Jacques war bereits im Februar 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien gekommen und hatte dann jahrelang nach seinen Brüdern gesucht.
Nach dem Krieg wanderte Erich 1949 zu seinem Onkel und seiner Tante nach Israel aus. Er ging er in einen Kibbutz, besuchte die Schule und wurde in der Armee zum Fallschirmjäger ausgebildet. Im Suez- Krieg 1956 diente er in einer Einheit unter Ariel Sharon: „Er war ein brutaler Kerl, aufbrausend und unberechenbar. Ich konnte ihn damals nicht ausstehen, und das hat sich nicht geändert.“
Zu dieser Zeit erkrankt sein Bruder Ossi an Krebs. Erich kommt Anfang 1957 nach London, aber es ist zu spät: „Das hat mich mein ganzes Leben nicht in Ruhe gelassen, dass er starb, bevor ich ihn noch einmal sehen konnte. Er sagte stets: ‚Mein kleiner Bruder wird kommen und mich besuchen.‘ Doch dann starb er wenige Tage, bevor ich nach London kam. Er ist dem Holocaust entkommen und starb mit 27 Jahren. Das lässt mich bis heute nicht los.“ Der ältere Bruder Jacques lebt bis heute, mittlerweile 82 Jahre alt, in Australien.
In London trifft Erich 1957 seine erste Frau und bleibt. Zuerst arbeitet er als Computerfachmann, später bei dem Reisebüro-Unternehmen Thomson Holidays und danach bei Thomas Cook. Aus der Ehe stammt Erichs älteste Tochter, die Verbindung hält aber nur drei Jahre. „Wir haben einfach nicht zusammengepasst.“ Heute hat Erich aus drei Ehen fünf Kinder im Alter zwischen 51 und 23 Jahren und acht Enkelkinder.
In einem Alter, wo andere bereits beginnen, sich auf den Ruhestand vorzubereiten, begann Erich noch einmal etwas völlig Neues. Mit 55 Jahren gründete er 1990 sein eigenes Unternehmen, den Reiseveranstalter Classic Tours, der Wohltätigkeit mit Urlaubsabenteuer verbindet. In Großbritannien ist es Tradition, dass Menschen eine besondere sportliche Leistung vollbringen – etwa einen Marathon laufen – und dafür von anderen gesponsert werden, wobei das gesammelte Geld stets einem guten Zweck zukommt.
Reich organisierte etwa Fahrradfahrten von der Nordspitze Israels bis an den Südzipfel des Landes oder Trekking-Touren im Himalya. „Am bewegendsten für mich war eine Fahrt vom Brandenburger Tor in Berlin bis an den Eingang von Auschwitz“, erzählt er. „Mein Sohn und der Sohn meines Bruders Ossi waren mit dabei. Es war sehr aufwühlend.“
In den vergangenen zwanzig Jahren hat Reich mit seinen Mitarbeitern auf diese Weise etwa sechzig Millionen Pfund für fast 300 Wohltätigkeitsorganisiationen gesammelt. Für seine Tätigkeit wurde er im Mai in den Adelstand erhoben, fortan darf er sich Sir Erich nennen. „Ich sehe das als eine Auszeichnung für uns alle. Für meine Mitarbeiter ebenso wie für meine Familie.“ Wenn er von der Familie spricht, kreisen seine Gedanken immer wieder um seine Eltern, die er als Vierjähriger verloren hat. Während den Söhnen die Flucht nach Großbritannien gelang, blieben sie in Polen. „Das letzte Lebenszeichen von ihnen ist eine Rot-Kreuz-Karte aus dem Warschauer Getto vom 22. Mai 1942 an unseren Onkel. Später habe er herausgefunden, dass 1944 in Auschwitz ein Mann namens Sigmund Reich war.“ Reichs Mutter Mina wurde aller Wahrscheinlichkeit nach bereits zuvor in Treblinka umgebracht. Seit seiner Rückkehr aus Israel hat sich Erich Reich immer mehr im jüdischen Leben Londons engagiert.
Seit Jahren ist er Vorsitzender der „Kindertransport-Vereinigung“, die sich um die „Kinder“, wie sie sich bis heute auch auf Englisch nennen, annimmt. Von Vortragsrunden bis zu Hilfen bei Amtswegen und in sozialen Härtefällen reicht die Bandbreite der Aktivitäten. „Ich bin sehr jüdisch“, meint Reich von sich. „Meine Eltern wurden ermordet, weil sie religiös waren. Ich bin nicht religiös, aber es würde mich zutiefst verletzen, wenn meine Kinder sich vom Judentum lossagten. Es gibt da ein Band, ich kann es nicht beschreiben, aber es ist vorhanden.“
Dieses Band reicht zurück in die Wiener Leopoldstadt. Seit dem Krieg hat Reich Wien viele Male besucht. „Ich liebe diese Stadt, die Kaffeehäuser, die Oper, die Atmosphäre, mit der ich mich jedesmal sofort verbunden fühle.“ Und die Vergangenheit? Die Angst, die Verfolgung, die Vertreibung? „Ich habe das alles verdrängt“, sagt Reich. „Es ist wichtig, die Geschichte zu kennen. Aber es hat keinen Sinn, in der Vergangenheit zu leben.“
Doch woran wir uns nicht erinnern können oder wollen, wird uns oft durch andere ins Bewusstsein gerufen. „Einmal war ich auf einer Veranstaltung und saß an einem Tisch mit einem dicken, großen Juden aus New York“, erzählt Reich. „Auf einmal sagt er zu mir: ‚Ich kenne dich.‘ – ‚Unmöglich‘, erwidere ich. Doch dann sagt er: ‚Wir waren gemeinsam auf dem Schiff nach England. Du warst eine echte Plage für uns alle und hast ständig nach deinem Bruder gerufen: ‚Ossi, schnell, Papier!‘“ Reich war seekrank und wurde von heftigen Magenkrämpfen geschüttelt. „Aber“, so fügt er hinzu, „Ich habe es laut den Berichten jedes Mal gerade noch geschafft.“ Und so auch in seinem weiteren Leben.