Der Doyen der analytischen Großgruppenanalyse, Josef Shaked, erzählt über die Anfänge der Psychoanalyse in Wien, die Faszination der Masse und Generationenkonflikte seit 1968.
Von Martin Engelberg (Bericht) und Peter Rigaud (Fotos)
NU: Aus welcher Familie stammen Sie?
Shaked: Meine Eltern waren religiös und zugleich starke Zionisten, deswegen gingen wir auch schon 1933 nach Palästina. Alle anderen Familienangehörigen wurden später nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Wir gingen nach Haifa, wohnten dort zuerst in einer arabischen Gegend in der unteren Stadt. Als jedoch nach zirka drei Jahren die Unruhen begannen, sind wir auf den Carmel Berg gezogen. Meine Eltern waren modern orthodox, mein Vater war ein Mitglied der Hapoel Misrachi (die Arbeiterbewegung der Nationalreligiösen Partei). Er war eigentlich Steuerberater, aber als aufrechter Zionist wollte er das Land physisch aufbauen und war anfangs Bauarbeiter. Das hat aber seine Kräfte überstiegen und er hat auch nicht genug verdient, sodass er am Abend noch im Kino arbeitete, wo er die Untertitel in den Filmen manuell drehen musste. Schließlich begann er wieder als Buchhalter zu arbeiten, was aber gegen seine ursprünglichen Ideale war.
Und Sie?
Im Zuge einer Pubertätskrise habe ich in einer Arbeiterbibliothek begonnen, Freud zu lesen. Ich erinnere mich, es war das Buch „Die Psychopathologie des Alltagslebens“
Ich wollte also schon mit 16 Psychoanalytiker werden. Ich habe auch Marx gelesen, war aber sehr bald vom Marxismus enttäuscht, da waren schon die Schauprozesse der 30er-Jahre, der Hitler-Stalin-Pakt.
Das haben Sie im damaligen Palästina schon mitbekommen?
Ja, sehr intensiv, es kamen ja sehr viele Einwanderer aus Europa, von denen wir alles hörten. Wir waren sehr gut informiert.
Wie kamen Sie dann nach Wien?
Im Unabhängigkeitskrieg (1948)war ich Soldat, in einer Versorgungseinheit im Libanon, in Jerusalem, aber ich war nie in Kämpfe verwickelt. Danach wollte ich Medizin studieren, weil ich dachte, dass das nötig sei, um Psychoanalytiker zu werden. Damals gab es jedoch noch kein Medizinstudium in Jerusalem, so bekam ich als Soldat ein Stipendium in die USA. Nach einem Jahr wurde jedoch das israelische Geld so abgewertet, dass ich das Studium nicht mehr bezahlen konnte. Ich ging also gleichzeitig arbeiten, um nach Europa studieren gehen zu können. Zur Wahlstanden Frankreich, Italien und Österreich. Für meine Eltern war Wien die Kaiserstadt. Alle Israelis glaubten damals noch, dass Österreich Opfer war und im israelischen Pass stand ja: Gültig für alle Länder außer Deutschland. So kam ich Ende 1955 nach Wien, gerade als die Russen von hier weggingen.
Wie war damals die Situation der Psychoanalyse in Wien?
Die psychoanalytische Gesellschaft (Wiener Psychoanalytische Vereinigung, WPV) war damals im Untergrund, niemand wusste etwas, an Kliniken durfte man nicht darüber reden. Dann habe ich die Auskunft bekommen, dass es noch eine andere Gesellschaft gibt (Wiener Arbeitskreis für Psychoanalyse), dort sei es auch leichter. So bin ich zu Caruso gekommen (Igor Alexander Graf Caruso, 1914–1981, Begründer des Arbeitskreises). Er hat mich mit offenen Armen empfangen, er war eine schillernde Gestalt, zuerst christlich orientiert, dann marxistisch. Die Kandidaten im Arbeitskreis waren hauptsächlich katholische Priester aus Südamerika, von der Befreiungsbewegung. Er sagte zu mir, ich kann sofort anfangen, da dachte ich mir, ich mache einmal die Ausbildung bei ihm und gehe dann später in die WPV. Ich kannte seine Geschichten damals noch nicht, das wurde erst später bekannt.
Dann aber interessierten Sie sich zunehmend für die Massenpsychologie.
Anhand der Erlebnisse in Palästina, es kamen ja Millionen Menschen ins neue Israel, aus den arabischen Ländern, aus Europa, aus Sibirien, ich habe alle diese Geschichten gehört, habe nicht verstanden, wie in dem aufgeklärten Europa das alles passieren konnte – diese Massenphänomene haben mich besonders interessiert. Damals gab es in Wien und in Deutschland die ersten Versuche mit Gruppenanalyse, das war ein wenig analytisch, ein Mischmasch aus Gruppendynamik, Soziologie, oft erschien es mir wie eine Plauderstunde – alles nicht sehr befriedigend. Erst mit Ricciardi(Alice Ricciardi, 1910–2008, geborene Gräfin von Platen-Hallermund, deutsch-italienische Ärztin und Psychoanalytikerin und Mitbegründerin der Workshops in Altaussee), die damals begann, in der Villa ihrer Mutter in Aussee analytische Gruppen zu machen, begann ich mit der gruppenanalytischen Arbeit.
Sie gelten als der Entwickler des Konzeptes der analytischen Großgruppe.
Ja, ich bin der Einzige, der es analytisch macht. Es gibt also keine Vermischung mit Soziologie, Gruppendynamik und Ähnlichem.
Die Dynamiken der Massenbewegungen der 20er-, 30er- und 40er- Jahre, der Nazibewegung, des Stalinismus – haben Sie durch die Gruppenanalyse Antworten dafür gefunden?
In der Großgruppe, ja – alle Phänomene sind dort feststellbar – im Kleinformat. In der Kleingruppe treten alle Familienprobleme auf. Die Großgruppen vertreten die Gesellschaft, dort finden sich alle Massenphänomene im Kleinen wieder – ganz im Sinne der Theorien von Bion (Wilfred Ruprecht Bion, 1897–1979, britischer Psychoanalytiker, entwickelte wichtige gruppenanalytische Theorien). Das alles hat mich sehr überzeugt in der Großgruppe, dazu der Großgruppenleiter als Vertreter der Gesellschaft, der Ordnung, die Rebellion gegen ihn. In Altaussee haben wir jetzt zwei Mal im Jahr Workshops, wo wir zuletzt jeweils 150 Teilnehmer hatten.
Was sind Ihre eindrücklichsten Erinnerungen von Großgruppen?
Das war die 68er-Generation, Leute aus konservativen Nazi-Familien, aus christlichen Familien, die auch antisemitisch waren. Ich war doppelt besetzt bei denen, sie waren sehr aggressiv, wollten die Welt verbessern, haben gegen ihre Nazi-Eltern rebelliert, aber andere Tyrannen als Vorbilder genommen, Ho Tchi Min, Castro, Stalin. Ich war für sie ein Scheiß-Liberaler einerseits, andererseits war ich der jüdische Vater, der ihnen die Absolution erteilte, der bessere Vater, der Opfer war, nicht Täter wie ihre Eltern. Einerseits war ich ein Vertreter der liberalen Gesellschaft, die für sie faschistisch war, andererseits habe ich sie nicht verdammt – es war ein Prozess. Sie waren sehr phantasievoll, es ist bekanntlich im Terrorismus geendet, aber es hat auch die Gesellschaft dynamisiert und auch liberalisiert.
Das ist schon 30 Jahre her. Wie ist es in den letzten 20 Jahren?
Alle paar Jahre kommt eine neue Generation, da bin ich immer ein wenig desorientiert. Es ist immer ein wenig anders. Die heutigen Studenten sind fleißig, brav, wollen schnell fertig werden, weil sonst finden sie keinen Job. Sie interessieren sich eher für ihre privaten Probleme, dort sind sie ziemlich ernsthaft interessiert, daran musste ich mich erst gewöhnen, zuerst habe ich sie nicht richtig verstanden, war böse auf sie, dann habe ich gesehen, dass das eine andere Gesetzmäßigkeit hat.
Mir erschien es sehr auffällig, dass in jeder Klein- oder Großgruppe, in der Deutsche oder Österreicher dabei sind, immer die Themen Juden, Antisemitismus, Nazizeit, Israel auftreten.
Immer, ja immer – so bin ich auch auf die Großgruppe in Wien gekommen. (Im Jahr 2003 fand eine vielbeachtete psychoanalytische Großgruppe zum Thema Psychoanalyse und Politik statt). Das war höchst interessant. Die Leute standen so unter Druck, ihre Geschichte zu erzählen, ich bin kaum zu Wort gekommen. Am Anfang waren da 120 Leute.
Wie geht es Ihnen damit, dass Sie als Jude in Deutschland und Österreich die Rolle haben, dass sich die Teilnehmer durch Sie mit den Themen Antisemitismus, Nazizeit usw. auseinandersetzen?
Ich habe den Antisemitismus gleich gespürt, wie ich nach Wien kam, es gab viele Reste vom Nationalsozialismus. Am Anfang gab es ja noch die Aufmärsche von Neonazis, von den Couleur-Studenten, die Gegendemonstrationen der Linken gegen sie, das habe ich alles miterlebt.
Wenn Sie über die Jahrzehnte zurückblicken: Wie hat sich der Antisemitismus in Österreich entwickelt?
Am Anfang habe ich mich hier sehr fremd gefühlt, war aber sehr fasziniert, ich komme in Kontakt mit ehemaligen Nazis, aber es ist wie in einem Film, weil es kann mir nichts passieren und ich kann diese Epoche miterleben. So passierte es uns zum Beispiel einmal beim Medizinstudium, da waren verschiedene Studenten, auch israelische und einer erzählte, dass er mit einem anderen Studenten befreundet war, und der sagte eines Tages, er will jetzt nicht mehr mit ihm reden, er ist jetzt Mitglied in einer Burschenschaft und möchte mit ihm keinen Kontakt mehr haben. Wien war eine so düstere Stadt in den Fünfzigerjahren. Einer sagte, er habe nichts gegen Juden, aber immer wenn er einem Juden die Hand gibt, hat er so ein mulmiges Gefühl. Es gibt es heute schon auch noch, aber es sind nur mehr Relikte, damals war es Teil des Alltags.
Gibt es in den Gruppen charakteristische Unterschiede zwischen Teilnehmern aus Österreich, Deutschland oder etwa der Ukraine?
Vor einigen Wochen leitete ich eine Gruppe in Kärnten, die Teilnehmer erzählten, wie ihre Großväter, Großmütter von Partisanen erschossen worden sind, dass die Partisanen Kärnten bedroht haben. Die deutschen Studenten waren ganz entsetzt darüber und meinten, die Partisanen wären doch die Befreier gewesen. Zumindest in Kärnten ist es z. B. deutlich anders als in Wien. Die Kärntner in Wien sind ja bereits „Flüchtlinge“, die ja diesem Klima entflohen sind. Deutsche Teilnehmer haben sich immer viel ernsthafter mit der Nazizeit auseinandergesetzt, sie hatten keine andere Wahl, die Österreicher sagten ja immer, sie waren Opfer – das war auch in Aussee so. Die Deutschen haben immer gegen ihre Nazieltern gekämpft, die Österreicher sagten immer, das geht sie nichts an.
Sie haben auch eine besondere Beziehung zum jüdischen Witz.
Das kam auch über Freud. Ich habe entdeckt, dass es ein gutes Mittel ist, um mit Konflikten umzugehen; Dinge, die schwer verbalisierbar sind und indem man darüber lachen kann, erhebt man sich über das Geschehen und dann wird es besprechbarer. Es kann sogar ein Interventionsmittel in einer Gruppe sein, man muss aber natürlich sehr aufpassen damit.
Welcher Witz fällt Ihnen spontan als Lieblingswitz ein?
Wenn eine Gruppe sich etwa besonders lange herumquält anzufangen, intim miteinander zu werden, dann erzähle ich gerne den folgenden Witz: Zwei Juden fahren im Zug nach Lemberg. Sagt der eine: Entschuldigen Sie, wissen Sie wie spät es ist? Der Andere schaut weg. Daraufhin fragt der Erste nochmals, bekommt aber wieder keine Antwort und wird böse. Daraufhin sagt ihm der andere: Schauen Sie, ich sehe, dass Sie fremd sind in Lemberg. Wenn wir ankommen, bin ich verpflichtet, Sie zu Schabbes einzuladen. Ich habe eine Tochter im heiratsfähigen Alter und Sie werden sich verlieben. Frage ich Sie – was mache ich mit Schwiegersohn, der sich keine Uhr leisten kann. Da versteht dann die Gruppe, wenn sie miteinander intim werden, kann es gefährlich werden.
Fühlen Sie sich als Österreicher?
Sehr ambivalent. Am Anfang habe ich mir nur als Israeli gefühlt, inzwischen hat sich alles relativiert, ich erlebe Österreich, und es gibt schlimmere Länder – in Ungarn gibt es legale faschistische Parteien. Ich fühle mich als Halb-Österreicher, nicht so gut wie in Amerika, Wien ist liberal, wenn man in die Provinz geht, gibt es noch immer viele Relikte.
Ängstigt Sie die Entwicklung in Ungarn und in anderen Ländern?
Wenn ich nüchtern denke und abwäge, dann sage ich, wir sind weit davon entfernt. Aber durch die Shoa ist so eine Art Seismograph entstanden, wo man sofort alarmiert ist, wenn solche Tendenzen entstehen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen. Auch Deutschland galt als Höhepunkt der europäischen Zivilisation und nach ein paar Jahren ist alles ganz anders geworden.
Wenn Sie ein Politiker fragte, was zu tun ist, um so etwas zu verhindern, was würden Sie ihm raten?
Möglichst die Tradition der Aufklärung hochzuhalten, für Demokratie, für Liberalismus zu sein. Ich bin aber nicht dafür, unter dem Deckmantel besonders liberal sein zu wollen, zum Beispiel Rechtsextreme zu Nationalratspräsidenten zu machen, so weit soll man nicht gehen. Da sind die Franzosen weiter, sie sagten: Le Pen, o.k., der ist in Südfrankreich stark, aber er soll nie auf nationaler Ebene Geltung bekommen, man vereinbarte nie mit ihm zu kollaborieren – das funktioniert in Österreich nicht immer.
PROF. DR. JOSEF SHAKED
Prof. Dr. Josef Shaked, Psychiater und Psychoanalytiker, etablierte als erster die analytische Großgruppen im deutschsprachigen Raum, war Gründer der gruppenanalytischen Workshops in Altaussee und leitet dort seit 1976 alle analytischen Großgruppen. Er wurde 1929 in Kisvárda (deutsch Kleinwardein), einer Kleinstadt im Nordosten Ungarns, an der Grenze zur Slowakei und zur Ukraine, geboren, welche damals einen jüdischen Bevölkerungsanteil von über 30% hatte. Seine Familie emigrierte 1933 nach Haifa. Im Zuge seines Medizinstudiums kam Shaked 1955 nach Wien, wo er seither lebt und arbeitet. Er feierte vor kurzem seinen 80. Geburtstag und erhielt zahlreiche Ehrungen.