Es war eine medial grimmige Zeit in der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), damals vor 20 Jahren. Über Geschehnisse in der IKG berichtete nur die IKG-eigene Zeitschrift Die Gemeinde. Gegenteilige Meinungen wurden recht skrupellos zensuriert. Über aktuelle oder gar kontroversielle Themen der jüdischen Welt wurde nicht geschrieben, auch nicht in den anderen jüdischen Publikationen. Ich saß damals im Vorstand der IKG und war einigermaßen frustriert über diese Situation.
Erwin Javor und ich sprachen oft darüber. Irgendwann machte es dann „klick“. Wir beschlossen die Gründung einer eigenen Zeitung. In einem legendären Brainstorming wurden die Grundzüge beschlossen. Mit dabei die geistreichen Köpfe, der Werbe-Profi Harry Bergmann und der Grafiker Joey Badian. Der Titel NU war gefunden, das Logo eine geniale Kombination aus den lateinischen Buchstaben N und U, in denen raffiniert die hebräischen Buchstaben נ ו eingearbeitet waren.
In der Nullnummer erklärten wir die verschiedenen Bedeutungen des wunderbaren jiddischen Wortes NU: Nun? Tu was! Es sei Beschwerde, Kommentar, eine spöttische, verschmitzte oder hämische Bemerkung, ein Ächzen, Stöhnen oder Wehklagen – schrieben wir auf der Titelseite. Im Editorial erklärten wir uns unter anderem so: „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, die Gemeindemitglieder zu informieren und eine Diskussion in Gang zu bringen. Eine Aufgabe, die das Mitteilungsblatt unseres Präsidenten ‚Die Gemeinde‘ nicht erfüllen will.“
Ein guter Anfang
Vor allem die ersten Ausgaben waren dann hauptsächlich der Kritik am damaligen IKG-Präsidenten Ariel Muzicant und scharfer Kritik am Zustand der IKG gewidmet. Mit spitzer Feder langte Gerhard Bronner zu. Erwin Javor, Peter Menasse und ich waren auch nicht zimperlich. Schon früh schrieben arrivierte Journalisten Beiträge für NU, wie Karl Pfeiffer, Eric Frey und die Historikerin Helene Maimann, ergänzt durch junge Journalistinnen wie Saskia Schwaiger und Alexia Wernegger (heute Weiss).
Ein großer Schritt zur Professionalisierung war die Ernennung von Peter Menasse zum Chefredakteur und das Engagement des großartigen Fotografen Peter Rigaud. Erwin Javor und ich blieben Co-Herausgeber. Peter Menasse machte aus NU eine kritische Zeitung, auf einem gänzlich höheren Niveau und einer professionellen Aufmachung samt grandiosen Fotos von Peter Rigaud. Peter Menasse redigierte mit viel Umsicht die Texte und entgiftete sie, ohne sie zu entschärfen. NU war zu einer Zeitung geworden, die Juden und Nichtjuden für Juden und Nichtjuden inner- und außerhalb der jüdischen Gemeinde schrieben.
Zunehmend stießen weitere arrivierte Journalisten zur NU-Redaktion, wie z.B. Rainer Nowak, damals Ressortleiter Innenpolitik der Presse, ebenso wie ambitionierte junge Journalistinnen. Die Diskussionen und Beiträge von Barbara Tóth (heute leitende Redakteurin beim Falter), Petra Stuiber (heute stellvertretende Chefredakteurin beim Standard und zuletzt mit dem „Kurt-Vorhofer-Preis“ ausgezeichnet – wir gratulieren!) waren legendär.
Die NU-Redaktionssitzungen waren wunderbar. Wir freuten uns auf diese mindestens genauso wie auf die daraus entstehenden Produkte. Wunderbar bewirtet im Hause Javor, erlebten wir miteinander Abende der spannendsten Diskussionen, voller Intellektualität und gegenseitiger Wertschätzung trotz oft sehr unterschiedlicher Meinungen. Und das alles immer untermalt mit bestem Humor, sodass wir oft Tränen lachten.
Herausforderungen und Einblicke
Anfangs hatten wir ja noch überlegt, Geschichten auf Vorrat zu produzieren. Dabei gingen uns die Beiträge nie aus. Im Gegenteil – wir erhielten viel mehr Angebote, als wir publizieren konnten. Die größte Herausforderung lag vielmehr darin, uns die Originalität, die Bereitschaft zu kontroversiellen Themen zu bewahren und uns nicht von folkloristischen, lieben und angepassten Beiträgen überschwemmen zu lassen.
Mit eigentlich zeithistorisch bedeutenden Geschichten wie jener über Arnold Schwarzenegger, der in Jugendjahren Neonazis durch die Grazer Innenstadt gewatscht haben soll, oder über den legendären Fußballer Matthias Sindelar, der „Papierene“, der im NU als Ariseur eines jüdischen Kaffeehauses entlarvt wurde, ging NU um die Welt. Dementsprechend nahm die Leserschaft immer weiter zu.
Ohne die – vor allem anfangs – großzügige finanzielle Unterstützung durch Erwin Javor wäre NU nicht möglich gewesen. Ebenso wenig wie ohne die Beiträge vieler sehr professioneller und engagierter Journalisten, die ohne Honorar großartige Artikel lieferten. Deren einziger Lohn war: interessante Einblicke ins Judentum, die Gemeinde und die jüdische Welt insgesamt sowie die bereits beschriebene, wunderbare, für alle bereichernde Atmosphäre in der Redaktion.
Nach einigen Jahren beschloss IKG-Präsident Muzicant, dass auch die Kultusgemeinde eine Zeitung wie das NU herausgeben sollte. Es hält sich die Mär, er hätte dazu eine Sitzung einberufen, die letzte Ausgabe von NU auf den Tisch geworfen und gesagt: „So eine Zeitung möchte ich auch haben!“ Die Gründungsgeschichte von NU bedenkend, stellte das nachgerade eine Ironie der Geschichte dar. Wir begrüßten unseren neuen Mitbewerber Wina und freuten uns, denn wir wussten: Konkurrenz belebt.
Ebenso legendär wurde die Serie „Dajgezzen und Chochmezzen“. Erwin Javor und Peter Menasse dajgezzten („sich auf hohem Niveau Sorgen machen“, wie es hieß ) und chochmezzten („alles so verkomplizieren, dass niemand – einschließlich einem selbst – sich mehr auskennt“) über aktuelle Themen. Erwin Javor und Peter Menasse „at their best“, wie es so schön heißt.
Nach zirka zehn Jahren kommunizierte mir Erwin Javor wiederholt, dass er sich vom NU zurückziehen und einem anderen Projekt widmen wolle. Lange konnten wir es nicht glauben, bzw. wollten wir es nicht wahrhaben. Inzwischen ist klar geworden, dass er bereits konkrete Pläne zur Gründung eines unabhängigen Nahost-Thinktanks im Kopf hatte, die er mit „mena-watch“ realisierte. Es war der Moment gekommen, die alleinige Herausgeberschaft sowie auch die Finanzierung und Administration zu übernehmen. Erfreulicherweise gelang dies und konnten wir die Arbeit nahtlos fortsetzen.
Meine Kandidatur bei den Nationalratswahlen 2017 auf der Liste der neuen ÖVP löste dann eine Kontroverse mit Peter Menasse aus, der sich – auch als früherer Pressesprecher von Caspar Einem – dem sozialdemokratischen Lager zugehörig fühlte. Mir schien das nachgerade eine besonders spannende Konstellation zu werden. Wir würden mitunter ganz kontroversielle Themen im NU behandeln können, in bester Tradition unserer Zeitschrift. Peter Menasse war jedoch nicht dafür zu gewinnen und zog sich nach vielen und langen Gesprächen von NU zurück.
Nicht mehr wegzudenken
Aber bekanntlich wohnt jedem Ende ein neuer, wunderbarer Anfang inne: Andrea Schurian, arrivierte ORF-Journalistin und zuletzt langjährige Ressortleiterin Kultur beim Standard, ließ sich als Chefredakteurin für NU gewinnen und bildet seither gemeinsam mit meiner Frau Danielle Spera als Herausgeberin das Führungsteam von NU. Danielle hatte von Anfang an, damals noch als ORF-Journalistin, bei NU mitgearbeitet. Ihre großartigen Interviews und Beiträge waren und sind eine große Bereicherung für das Magazin.
Heute ist NU aus dem jüdischen Leben Österreichs nicht mehr wegzudenken. Wir haben eine breite Leserschaft und Fangemeinde inner- und außerhalb der jüdischen Gemeinde und erscheinen derzeit mit fast 6000 Exemplaren für Abonnenten und im Straßenverkauf, in ausgewählten Buchhandlungen und Trafiken. Und wir haben jetzt auch wieder einige neue Mitarbeiter im NU, sehr erfreulicherweise auch junge, mit ganz neuen Themen und Zugängen.
Ein großes „Schkoiach“ (jiddisch für: Bravo!, gut gemacht! Und: Du hast etwas gut gemacht und du sollst die Kraft haben, mehr davon zu tun) an alle, die NU zu dem gemacht haben, was es ist und auch in Zukunft machen werden. Ein herzliches Masel Tow dem ganzen Team und bis 120!