Der erinnerungspolitische Umgang mit der Vergangenheit hat sich in Wien zwar stark verändert, weist jedoch nach wie vor Ambivalenzen zwischen Lueger-Denkmal und Holocaust-Mahnmal auf.
von Adrian Jonas Haim
Hierzulande fällt es den Leuten schwer, sich zu erinnern, das weiß man schon seit Kurt Waldheim, der in seiner Biografie leider auf die Details seiner Kriegsjahre vergessen hatte, also auf seine SA-Mitgliedschaft und seinen Dienst als Offizier in Gebieten, in denen es zu massiven Verbrechen kam. Darüber hinaus fällt es ganz allgemein schwer, sich an große nationale Persönlichkeiten zu erinnern – also nicht allen. Die ÖVP hatte das Porträt des austrofaschistischen Diktators Dollfuß bis 2017 in ihrem Parlamentsklub hängen, und die Kurt-Waldheim-Memorial-Library ist noch immer nicht geschlossen. Nein, auf Dollfuß kann man sich kaum positiv beziehen, so sehen das inzwischen auch die Jungen bei der ÖVP, bei Hitler wird es noch schwieriger, so sehen das inzwischen auch einige bei der FPÖ.
Notgedrungen wird oft Kaiser Franz Joseph I. als Daddy der Nation bemüht, aber sind wir nicht eigentlich eine Demokratie und war das nicht eben jener Kaiser, der 1848 die demokratischen Revolten niedergeschlagen und 1914 den Ersten Weltkrieg großteils mitverursacht hat, der ja gewissermaßen den Anfang vom Ende Österreich-Ungarns markierte?
Nein, es ist nicht leicht, sich in Österreich zu erinnern. Bis zur sogenannten „Waldheim-Affäre“ (1986–1992) konnte sich überhaupt niemand so richtig an die Jahre während des Nationalsozialismus erinnern, aber zweierlei stand entgegen aller Widersprüchlichkeit fest: Österreich war das erste Opfer des nationalsozialistischen Führerstaates, dessen Führer selbst aus Österreich stammte, und trotzdem waren die Soldaten Helden, die im Angriffskrieg nur ihre Pflicht für die Verteidigung des Vaterlands taten. Ihnen zu Ehren errichtete man an jedem Dorffriedhof pathosgeladene „Kriegerdenkmäler“ und „Soldatengräber“, die da bis heute – sehr oft ohne kritische Kontextualisierung – der mörderischen Maschinerie Respekt zollen.
Geschichten aus der Gruft
Dieser Ungeist findet sich jedoch keinesfalls nur in jeder geschichtsvergessenen Gemeinde am Land, er prägt in derselben Gestalt den höchstoffiziellen Wiener Zentralfriedhof. Doch betritt man diesen, eröffnet sich einem eine zusätzliche Problematik: Zuallererst muss man durch ein gewaltiges Steinportal hindurch, bestehend aus zwei phallischen Obelisken, die beide den Namen Karl Luegers tragen. Der Politiker, der 1888 das antisemitische Wahlbündnis zwischen Christlichsozialen und Deutschnationalen anführte, gründete 1893 die Christlichsoziale Partei (CS – Vorläufer der ÖVP) und konnte auf Grundlage vulgärer antisemitischer Politik, die er mit reaktionär katholischer und antiliberaler Ideologie vermengte, von 1897 bis 1910 das Amt des Wiener Bürgermeisters bekleiden. Dass er demnach ein Wegbereiter des NS-Vernichtungsantisemitismus war, ist in der Vergangenheitsforschung unumstritten, nicht zuletzt, weil ihm als politischem Idol ganze elf Seiten in Adolf Hitlers Mein Kampf gewidmet sind.
Hitler nahm auch, wie viele Wiener und Wienerinnen, an Luegers Beerdigung am Zentralfriedhof teil. Passiert man das genannte Lueger-Portal, so steuert man auf die „Friedhofskirche zum heiligen Karl Borromäus“ zu, die 1910 bis 2000 den Namen „Dr.-Karl-Lueger-Gedächtniskirche“ trug. Um zu dieser zu gelangen, passiert man die Präsidentengruft, in welcher alle bisherigen Staatsoberhäupter samt Gattinnen bestattet sind, um dann hinter dem WC bei jener Kirche anzukommen, deren abstoßender Inhalt unverändert geblieben ist: Im oberen Teil des Altarraums findet sich ein Gemälde Luegers, kniend im Sterbehemd, unter dem Hochaltar findet sich die bizarre Kirchengruft Luegers, welche – ganz ohne kritische Kontextualisierung – mit Friedhofskränzen, Prunk, Deutschlandfahnen und dem konservierten Leib Luegers selbst befüllt ist.
Verlässt man diesen ob seiner architektonischen Imposanz symbolisch „heiligsten Ort“ des Friedhofs und geht westwärts, so gelangt man bald zur „Gruppe 40“, der „Nationalen Gedenkstätte“, in welcher Widerstandskämpfer und NS-Kinderopfer („Am Spiegelgrund“) mit den Bombentoten 1944/45 zusammengelegt wurden – dies geschah in den 2010er Jahren, also nach zwei Jahrzehnten „Denkmal-Boom“, eröffnet mit gut gemeinten Statements der SPÖ-ÖVP-Bundesregierung. Ein Sinnbild für jene schizophrene Erinnerungskultur, welche Täter und Opfer nicht auseinanderhalten kann oder will.
Monumente des Antisemitismus
Dem „Radau-Antisemiten“ Lueger wurde jedoch nicht nur ein Grabmal gesetzt, auch der Universitätsring im Herzen der Republik trug seinen Namen, bis er 2012 infolge heftiger erinnerungspolitischer Debatten neu benannt wurde. Folgt man der Ringstraße, die das Herz der Hauptstadt umschließt, in Richtung Stadtpark, so gelangt man rasch zum Karl-Lueger-Platz, auf dem eine überlebensgroße Bronzestatue des antisemitischen Politstars majestätisch auf einem massiven Steinsockel weilt, umringt von vier kleineren Steinstatuen, welche die dankbaren Stadtbewohner repräsentieren. Gestürzt wurde er bislang nicht, aber jüngst finden sich Adaptierungen in Form des in Versalien geschriebenen Wortes SCHANDE auf dem Monument, gesprüht in jeder verfügbaren Graffiti-Farbe.
SPÖ-Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler, im Juli von der Kronen Zeitung zu einem möglichen Abriss der Statue befragt, erklärte, statt der Entfernung des Denkmals eine „Zusatztafel“ anbringen zu wollen, um die „Schuld“ im öffentlichen Raum sichtbar zu machen. Doch wie erkennbar ist eine Zusatztafel neben diesem heroischen Bronzekoloss? Warum kein Mahnmal? Warum keine komplette Umgestaltung?
Umgestaltet ist das Denkmal ja seit kurzem, wenn auch nicht offiziell.
Auch andere Erinnerungszeichen wurden derart rekontextualisiert: Vom selben Bildhauer – Josef Müllner, seinerzeit ein glühender Nationalsozialist – stammt (neben Kriegerdenkmälern) auch der berühmte Siegfriedskopf an der Universität Wien, dort aufgestellt von der Deutschen Studentenschaft, bis heute Treffpunkt der deutschnationalen Burschenschafter. Dieser wurde 1990, am Beginn der erinnerungspolitischen Wende, durch eine „Farbschüttaktion“ modifiziert, am 8. Mai 2002 wurde er vor laufender ORF-Kamera durch studentische Aktivisten und Aktivistinnen „entmannt“, die ihm mit Hammer und Meißel die Nase entfernten und „Siegfriedskopf steh’ uns bei – die Antifa haut uns entzwei“ skandierten. 2006 wurde der Siegfriedskopf von der Universität an eine weniger prominente Stelle im Arkadenhof verlegt und mit einem „Glassturz“ versehen, auf dem sich Textbeiträge und Fotografien finden, unter anderem von der jüdischen Schriftstellerin Minna Lachs.
Erosion des Mythos
Infolge der erinnerungspolitischen Wende ab den späten Achtzigerjahren wurde viel erkämpft. Nach Jahrzehnten des Opfermythos, des Gedenkens an die „Helden“ der Wehrmacht und die „Opfer“ des „alliierten Bombenterrors“ rückten mit der Erosion desselben Mythos sukzessive die Opfergruppen in das Sichtfeld der Erinnerung, zunächst aber vorwiegend durch Bottom-Up-Initiativen.
Gedenksteine, Erinnerungstafeln, Orte des Gedächtnisses – die Servitengasse im 9. Bezirk etwa – wurden in aller Regel von couragierten Bürgern und Bürgerinnen errichtet, welche die Politik mit wahrhafter Überzeugung vor sich hertrieben. Von politischer Seite kam da wenig, und das Wenige kam spät. So wurde das offizielle Schoah-Memorial Wiens erst 2000 am Judenplatz errichtet – von der Stadt, nicht vom Bund, wohlgemerkt. Dieser hat erst im Juni 2020 mit dem Bau der Schoah-Namensmauer im 9. Wiener Gemeindebezirk begonnen. ÖVP-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka bedankte sich während des Spatenstichs „beschämt“ beim Initiator, dem Schoah-Überlebenden Kurt Y. Tutter, denn der Spitzenpolitiker erinnerte sich ehrlicherweise selbst daran, dass es nicht Aufgabe eines Überlebenden sein sollte, für ein solches Denkmal im öffentlichen Raum zu sorgen. Finanziell möglich gemacht hat das Projekt übrigens die ÖVP-FPÖ-Regierung, auch wenn sie zunächst nur die Hälfte der Kosten übernehmen wollte.
Tutter wollte das Denkmal eigentlich neben dem Parlament an der Ringstraße errichten, doch da war es der Stadt Wien dann wohl zu sichtbar. Fertiggestellt soll es im Herbst 2021 werden – ob dann der Lueger noch am Ring zu sehen ist?