David Harris, geboren 1949 in New York als Sohn europäischer Juden, ist seit 1990 Exekutivdirektor des 1906 gegründeten American Jewish Committee, einer der ältesten und wichtigsten jüdischen Organisationen. Harris war maßgeblich an der Betreuung der größten Migrationsbewegung von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion nach Israel beteiligt. NU besuchte ihn in New York.
Man schrieb das Jahr 1978. Von einem Büro am Brahmsplatz im vierten Wiener Bezirk begleitete David Harris eine historische Migrationsbewegung: die Auswanderung hunderttausender Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion über Österreich nach Israel. „Es war eine wunderbare Zeit, ich durfte Menschen betreuen, die die ersten Momente in ihrem Leben in Freiheit verbrachten. Ich nahm sie in Empfang und erlebte, dass das offizielle Österreich half, diese wichtige Migrationsbewegung nach Israel in Gang zu bringen und zu organisieren. Österreichische Soldaten schützten die jüdischen Migranten, und ich dachte immer wieder daran, was Soldaten vierzig Jahre zuvor hier getan hatten. Nun schützten sie Jüdinnen und Juden vor neuen Feinden: palästinensischen Terroristen, der Baader-Meinhof-Bande oder den Roten Brigaden. Es verwirrte mich, vor allem, wenn ich an meinen Vater und sein Bild von Österreich dachte und gleichzeitig erlebte, wie sehr sich dieses Land engagierte, sowjetische Jüdinnen und Juden in die Freiheit zu bringen und sie vor einem kulturellen Genozid zu retten.“
Seinen Eltern war nach dem Anschluss die Flucht in die USA gelungen. Vor allem der Vater wollte nie mehr nach Österreich zurück. „Als sogar der Antrag auf Wiedergutmachung abgelehnt wurde, war mein Vater am Boden zerstört“, erinnert sich David Harris. „Wenige Monate nach der Ablehnung kam ein Brief aus Wien mit einer Entschuldigung, man habe etwas verwechselt und mein Vater würde selbstverständlich eine Wiedergutmachung bekommen. Aber da war mein Vater bereits tot. Wiedergutmachung ist auch so ein Wort. Was geschehen ist, kann man mit einem Scheck nicht ,wieder gut machenʻ, egal wie hoch der Scheck auch immer sei.“
Normales Dilemma
Die Familie seiner 1923 in Moskau geborenen Mutter war in der Stalin-Zeit nach Paris emigriert, später in die USA ausgewandert. Die des Vaters, der 1920 in Budapest geboren wurde, gelangte über Berlin nach Wien. Der Vater galt als Wunderkind der Wissenschaft, doch der „Anschluss“ 1938 beendete nicht nur abrupt das Familienleben – die Großmutter wurde Köchin in der sowjetischen Armee, der Großvater flüchtete nach China und gelangte schließlich in die USA, sein Vater blieb bei einer Tante in Wien –, sondern bedeutete auch das Ende der Schulbildung für seinen Vater. Der floh nach Frankreich, meldete sich bei der französischen Fremdenlegion und landete in Nordafrika, wo er nach dem Sieg der Nationalsozialisten über Frankreich drei Jahre in einem algerischen Arbeitslager interniert wurde. Beim ersten Fluchtversuch wurde er verwundet, doch schließlich schlug er sich mit einer Gruppe von Berbern nach Algier durch. Er heuerte beim amerikanischen Militärnachrichtendienst OSS (Office of Strategic Services) an und wurde für seine lebensgefährlichen Einsätze mit einer neuen Identität ausgestattet.
Nach dem Krieg wurde er vom OSS in die USA zurückberufen, wo ihn ein Bekannter aus dem Militärnachrichtendienst unter die Fittiche nahm: Filmregisseur John Ford gab dem jungen Juden aus Europa Arbeit als Techniker in Hollywood. Noch in Europa hatte er seine spätere Frau kennengelernt, Sohn David wurde in Santa Monica geboren. Doch bald übersiedelte die Familie nach New York. Die oberflächliche Atmosphäre behagte den Eltern nicht: „Meine Eltern waren Europäer. Hollywood, oder besser gesagt, Los Angeles war so weit von der europäischen Geschichte und Tradition entfernt.“
In den sechziger Jahren lebte die Familie einige Zeit in München. Seine Eltern, erinnert er sich, diskutierten damals oft darüber, was wohl die Nachbarn, die Menschen auf der Straße, in den Restaurants, während der Nazi-Zeit getan hatten. Ob sie bei der SA, der SS oder „nur“ bei der Wehrmacht waren. „Meine Eltern sprachen ständig davon, wieso hier nichts von Schuldgefühlen zu spüren war. Gleichzeitig freundete ich mich mit deutschen Kindern an, genoss das Essen und lebte zusehends in einem Dilemma, ich lebte ein normales Leben in einer abnormalen Situation.“
1979, ein Jahr, nachdem er in Österreich russische Jüdinnen und Juden bei der Emigration nach Israel unterstützt hatte, engagierte er sich beim American Jewish Committee, 1990 wurde er dessen Executive Director. Österreich und sein „schlampiges“ Verhältnis zu seiner Vergangenheit akzeptierte er nicht: „Ein hochrangiger österreichischer Politiker sagte damals zu mir: ,Ich war gerade in Auschwitz, jetzt werde ich Sie um einen Gefallen bitten.ʻ Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Das hat mich in meiner großen Skepsis gegenüber Österreich bestärkt.“
Erst das berühmte Einbekenntnis der Mitverantwortung Österreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus, das der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky 1991 im Nationalrat aussprach, brachte eine Veränderung. „Allerdings erleben wir mit Österreich ein ständiges Wechselbad, es gab ja auch Jörg Haider und den Aufstieg der FPÖ. Unsere Linie als AJC ist es nicht, Politiker zu unterstützen, doch ich muss sagen, Sebastian Kurz ist ein echter Freund und verlässlicher Partner der Juden. Als Bundeskanzler musste er tatsächlich alle Skeptiker gegenüber Österreich umstimmen. Bei seiner Rede in Israel vor tausenden amerikanischen Jüdinnen und Juden sagte er wörtlich, es sei Österreichs moralische Verpflichtung und Teil der Staatsräson, Israel zu unterstützen. Das war ein Meilenstein für die österreichische Gegenwart und Zukunft.“
Dunkle Wolken
Österreich habe heute eine blühende jüdische Gemeinde, die selbstbewusst und öffentlichkeitwirksam auftritt und auch im Parlament mit jüdischen Abgeordneten vertreten ist. In seiner eigenen Familie konstatiert Harris in der Frage des politischen Engagements generationsabhängige Zugänge: „Meine Mutter ist skeptisch, was jüdische Kandidaten für ein politisches Amt in den USA anlangt. Sie sagt immer: ,Wenn wirtschaftlich oder politisch etwas schlecht läuft, wird man die Juden dafür verantwortlich machen.ʻ Meine Generation beurteilt das ganz anders, nämlich mit Stolz über den Fortschritt und die Offenheit des Landes. Meine Kinder wiederum sehen keinen Unterschied, ob jemand jüdisch ist oder nicht, Hauptsache, er oder sie macht gute Politik.“
Es wäre allerdings geradezu selbstmörderisch, die dunklen Wolken am Horizont nicht wahrzunehmen, sowohl in den USA, wo die jüngsten Anschläge auf Synagogen Anlass zu Sorge geben, als auch in Europa. „Wir vom AJC haben in den vergangenen Jahren immer wieder auf das Thema Antisemitismus aufmerksam gemacht, doch kein Politiker wollte auf uns hören. Ich sehe drei Auslöser: Die extreme Rechte, die Jihadisten und deren Anhänger sowie die extremen Linken, deren Antizionismus nicht mehr von Antisemitismus zu unterscheiden ist. Die geradezu zwanghafte Beschäftigung mit Israel z. B. durch die BDS-Bewegung ist doch kein Engagement für die Palästinenser, sondern eines gegen Jüdinnen und Juden. Wer kümmert sich denn um das Schicksal der Palästinenser im Libanon oder in Syrien? Leider gibt es keine Impfung gegen diese Krankheit namens Antisemitismus. Vielleicht müssen wir auf die Jahre seit dem Zweiten Weltkrieg als goldene Ära zurückblicken, die sich jetzt dem Ende zuneigt.“
Harris plädiert dafür, die Geschichte des Judentums nicht ausschließlich als Geschichte des Holocaust zu erzählen: „Von den siebeneinhalb Milliarden Menschen weltweit sind nur 15 Millionen jüdisch. Die meisten Menschen haben bestimmt noch nie einen Juden getroffen. Warum sollen sie sich mit der Schoah beschäftigen? Und ist die Opferrolle das Einzige, was über Juden vermittelt werden soll? Wer waren wir vorher und wer sind wir nachher? Da geht es um den Geist des Überlebens, des Fortbestands, das sollten Jugendliche erfahren. Es schmerzt mich, dass diese Geschichten nicht erzählt werden, vor allem auch nicht von Juden. Man kann und darf nicht über ermordete Juden weinen, wenn man nicht auch über die lebendigen jüdischen Gemeinden spricht. Es geht nicht, dass Regierungen Israel angreifen oder Antisemitismus im eigenen Land nicht bekämpfen, aber gleichzeitig Krokodilstränen in Auschwitz vergießen.“ Ein großes Thema sei auch die Demografie, fügt Harris an: „In Europas Schulen behaupten Jugendliche, die aus der Türkei, aus Syrien, dem Irak stammen, der Holocaust sei Fiktion, um die Staatsgründung Israels zu legitimieren.“
Zwar hätten Jüdinnen und Juden heute einen Platz, wo sie hingehen können, wenn es unangenehm werde. Doch die Empfehlungen amerikanisch-jüdischer Organisationen zur Auswanderung bezeichnet er als Chuzpe. Jeder solle selbst entscheiden, wo er leben möchte. „Die Frage ist doch, wohin geht das Europa der Aufklärung und der Demokratie, das Europa, das menschliche Würde hochhält, wenn die Juden Europa verlassen? Ich sage den europäischen Politikern: Antisemitismus ist nicht unser Problem, es ist eures. Wir sind vielleicht das erste, aber letztendlich sind alle Demokratien das Ziel. Wenn man das nicht versteht, hat man aus der Geschichte tatsächlich nichts gelernt.“