Von Erwin Javor
Bis jetzt waren Sie im Jiddisch-Kurs für Anfänger. Jetzt sind Sie, glaube ich, langsam reif dafür, über das bloße Vokabelheft hinauszuwachsen und aufzusteigen in die Oberstufe Jiddisch für Fortgeschrittene. Für die Meisterklasse müssen Sie sich dann schon noch etwas mehr anstrengen, aber die kommt irgendwann auch noch. Mit anderen Worten, es geht beim Jiddischen nicht so sehr um die Worte, die Vokabeln, sondern darum, wie sie angewendet werden, um die Denkstrukturen, die dahinterliegen.
Was meine ich damit? Die Essenz des jüdischen Seins ist Ungläubigkeit. Skepsis. Zweifel. Hinterfragen. Denken ist in unserer Kultur nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Das Überleben des Judentums hat von dieser Haltung profitiert und ist wahrscheinlich auch so entstanden. Auf Jiddisch geht das dann zum Beispiel so:
Eines Tages erscheint dem Rebbe ein Malach (ein Engel) und macht ihm ein unwiderstehliches Angebot: „Du hast die Wahl, Reb Shloime. Gott hat dich auf Grund deiner Mitzves auserwählt. (Mitzves sind gute Taten, das haben Sie ja schon gelernt. Wenn Sie sich nicht erinnern, schauen Sie in Ihrem Vokabelheft aus dem Anfängerkurs nach.) Du hast zwei Möglichkeiten, Reb Shloime“, sagt der Malach. „Ich kann dir geben alles Geld der Welt oder alle Weisheit dieser Welt. Was willst du haben?“ – Der Rebbe klärt und klärt (denkt) und entscheidet sich nach langer Überlegung schließlich für die Weisheit.
Amen! Ein gleißender Blitz zischt aus den Wolken, erhellt den Horizont und geleitet den Rebbe durch die dunkle Nacht nach Hause in sein Stibl (Stübchen). Dort bleibt er. Die ganze Nacht. Den ganzen Tag. Noch eine Nacht. Noch einen Tag. Isst nichts. Trinkt nichts. Und kommt und kommt nicht mehr heraus. Die Kehille (Gemeinde) macht sich schon langsam Sorgen. Es hat sich herumgesprochen, dass ein Malach ihrem Rebbe alle Weisheit dieser Welt geschenkt hat und sie sind naturgemäß neugierig. Und jetzt sperrt er sich im Stibl ein? Nach einer Woche kommt der Rebbe endlich wieder heraus, mit Tfillen (Gebetsriemen) und Talles (Gebetsschal), blass, abgemagert, mitgenommen, aber mit verklärtem Blick. – „Nu, Rebbe? Was weißt du jetzt?!“ fragen sie ihn. Reb Shloime gibt von sich einen Sifz (Seufzer) und einen Krächz (Stöhnen) und sagt: „Ich weiß jetzt, dass ich das Geld hätte nehmen sollen!“
Apropos krächz: Sitzen drei Juden im Schwitzbad (Sauna). Krächzt der erste: „Oj!“ – Nach einer Weile krächzt der zweite: „Oj!“ – Darauf unwirsch der dritte: „Wir haben doch vereinbart, nicht über die Kinder zu reden!“
Wie dem auch sei. Wie ich schon sagte, zur Essenz des Jiddischen und somit der jüdischen Kultur gehört der Zweifel am Edlen im Menschen: Ein Galizianer (Jude polnischen Ursprungs) und ein Rumäne (natürlich auch kein Goj) sind Schitwes (Geschäftspartner), die sich, wie es gute Tradition dieser beiden Völker ist, ständig misstrauen und daher belauern. Geht der Galizianer auf Sommerfrische. Schon am ersten Tag ruft ihn aufgeregt der Rumäne an: „Ein Unglück ist geschehen! In der Nacht hat man eingebrochen und das ganze Geld aus der Kassa gestohlen! Wus soll ech tin?“ (Was soll ich tun?) – Darauf gelassen und trocken der Galizianer: „Leg es zirick arajn.“ (Leg das Geld einfach in die Kassa zurück.)
Und? Wie gefällt es Ihnen in der Oberstufe?
* Mammeloschn (Jiddisch): Mutterwitz; Muttersprache. Aus dem Hebräischen Loschn: Zunge, Sprache.