Der Schriftsteller Robert Schindel spricht über die Doppelgesichtigkeit der Figur Benjamin Murmelstein und die Schwierigkeiten, diesen zur Hauptfigur eines Theaterstückes zu machen.
Von Rainer Nowak (Text) und Verena Malgarejo (Fotos)
Es ist nüchternes, lakonisches Werk. Robert Schindel nennt es selbst eine „Realfarce“. Sein neues Stück „Dunkelstein“ widmet sich der widersprüchlichen und umstrittenen Figur des Wiener Rabbiners Benjamin Murmelstein, der als Mitglied des Judenrats nach 1938 vorerst die Ausreise und später die Deportation der Wiener Juden maßgeblich plante und durchführte. Für viele in der jüdischen Gemeinde war Murmelstein ein Kollaborateur der Nazis, Schindel beschreibt ihn verfremdet als Saul Dunkelstein – fast verstörend als realistischen Verhinderer noch schlimmerer Nazi-Verbrechen. Mit „Dunkelstein“ ist Schindel ein irritierendes literarisches Stück über die Shoah gelungen. NU sprach mit dem österreichischen Schriftsteller da, wo er am liebsten redet und Gesprächspartner trifft: im Café Zartl.
NU: Warum beschäftigen Sie sich mit einer für die jüdische Gemeinde derart schmerzenden Figur?
Robert Schindel:Das hat mit der Biografie und meiner eigenen Familiengeschichte zu tun. Es interessiert mich, wie Menschen unter solchen extremen Bedingungen reagieren. In meiner kommunistisch-jüdischen Familie, die das Konzentrationslager überlebt hatte, ging es oft um die Frage sogenannter Funktionshäftlinge.
Gab es solche Häftlinge unter Ihren Angehörigen?
Nein, aber es wurde darüber häufig geredet. Meine Mutter wurde in Ravensbrück von solchen Häftlingen gerettet. Die Kommunisten haben ihre eigenen Leute gerettet, etwa indem sie die zum Tode Verurteilten versteckten.
Aber wieso dann der Wiener Rabbiner Murmelstein als Protagonist?
Auf seine Geschichte und die des Wiener Juden-Rates bin ich im Buch von Doron Rabinovici „Instanzen der Ohnmacht“ gekommen. Er ergreift darin Partei für den Judenrat, verteidigt ihn gegen Angriffe, dass im Judenrat nur Nazi-Kollaborateure gewesen seien. Doron hat mich auch beraten. Als Schriftsteller interessieren einen widersprüchliche Figuren. Der reale Murmelstein war zutiefst widersprüchlich. Das war eine Shylock- Figur, zerrissen von großer Bösartigkeit und Aggressivität einerseits, zugleich der Aufgabe als Rabbiner und der damit verbundenen Verpflichtung, Leben zu retten. Dunkelstein ist aber nicht eins zu eins Murmelstein.
Was sind die Unterschiede?
Der echte Murmelstein war natürlich nicht so reflektiert. Murmelstein wollte die Alten und Kranken schützen, das will Dunkelstein im Stück nicht.
Haben Sie das verstärkt, um ihn noch widersprüchlicher zu machen? Oder einfacher?
Das kann ich Ihnen gar nicht so sagen. Vielleicht habe ich das so geschrieben, um ihn noch pragmatischer darzustellen. So eine Figur bekommt während des Schreibens eine Eigendynamik.
Es gibt mehrere Lebensphasen Murmel- beziehungsweise Dunkelsteins. Es beginnt mit der Rettung Tausender Wiener Juden, die er zur Ausreise drängt und die er auch organisiert. Später hilft er bei den Deportationen in den Osten. Da geht es doch nicht mehr darum, das Leben zu retten, oder? Sondern nur noch darum, die Deportation weniger grausam zu gestalten.
Aber das ist schon etwas. Er schafft außerdem schon mehr: die etwa für die Gemeinde wichtigen Leute von den Listen für die Deportation zu reklamieren. Es gelang ihm sogar, einige, wenn auch sehr wenige Juden, nach 1941 hinauszubekommen. Aber es ging schon darum, auch Menschen, die einander halfen, zusammenhalten zu können. Eine geordnete Deportation, die nicht von der SS abgewickelt wurde, war aus seiner Sicht humaner. Er hatte die Illusion, dass er noch mildernd eingreifen konnte. Für ihn war entscheidend: Wenn es die SS macht, läuft bereits die Deportation chaotisch und mit Toten ab. Und dann wäre natürlich die Fürsorge innerhalb der Gemeinde möglicherweise zusammengebrochen.
Hätte er nicht Alternativen gehabt?
Wahrscheinlich nicht. Er hätte sich höchstens umbringen können.
Wie haben Sie die Figur recherchiert?
Claude Lanzmann hat Murmelstein 1975 für seinen Shoah-Film interviewt, das sind sehenswerte und packende Gespräche in 16 Kassetten. Lanzmann hat das dann aber doch nicht dafür verwendet. Murmelstein lebte zu der Zeit als Möbelhändler in Rom. Nach Wien war er Juden-Ältester im Konzentrationslager Theresienstadt gewesen, in Prag war er 1945 als Kollaborateur angeklagt und dann freigesprochen worden. 1989 starb er in Rom.
Murmelstein wurde immer heftig angegriffen.
Ja, er wurde ständig attackiert.
Weil ein solcher Rabbiner nicht hätte sein dürfen?
Die Juden wussten in Wien überhaupt nicht, wie und warum Murmelstein Dinge entschied. In meinem Stück kommt etwa die wahre Episode vor, dass ein alter Wiener Juden nicht ausreisen wollte und ihn Dunkelstein dazu zwang. Sonst hätte er keine Chance gehabt, aber der Mann verstand die Willkür nicht. Erst im Nachhinein wissen wir, dass er ermordet worden wäre.
War Leben zu retten, immer das einzige Motiv für solche Entscheidungen?
Es gibt natürlich diesen Machtdurst, der gestillt werden muss. Das sagt Dunkelstein auch in einem Monolog.
Hätten Sie so ein Stück vor zehn, 15 Jahren geschrieben?
Vor zehn, 15 Jahren ist die Zeit reif geworden. Es gab davor die falsche Annahme, etwa auch von Hannah Arendt, dass es immer der Plan der Nazis gewesen sei, alle Juden zu ermorden. Aus dieser Position heraus wäre natürlich die Tätigkeit der Judenräte volle Kollaboration. Aber wenn man glaubt, dass die Nazis zu Beginn ihrer Herrschaft die Juden loswerden, also aus dem Land werfen wollten, war die Arbeit der Judenräte richtig. Ich glaube – und das ist mittlerweile wissenschaftlich belegt –, dass die Nazis ursprünglich Interesse hatten, den Juden das Geld und Vermögen zu rauben und sie zu vertreiben. Erst später, als Millionen von Juden im von den Nazis besetzten Gebiet waren, kam die Wannsee- Konferenz mit der sogenannten Juden- Endlösung. Schon davor hatte es allerdings Massen-Tötungen von Juden in Osteuropa gegeben.
Warum war Arendt anderer Meinung?
Man konnte sich offenbar angesichts eines solch bestialischen Verbrechens nicht vorstellen, dass es einen fast spontanen Plan dafür gab. Erst durch neue Forschungen ist es zu einer Rehabilitation der Judenräte gekommen. Vor 15 Jahren hätte mich die jüdische Gemeinde für das Buch zerfetzt. Ruth Klüger hat mich angemailt, dass sie zwar das Buch gut finde und dass sie mit dem Kopfe die Geschichte verstehe. Aber dann sagte sie: „Du kannst dir nicht vorstellen, wie verhasst Murmelstein war.“ Er war verhasster als Eichmann. Er war der Bote und der Vollstrecker. Die Leute glaubten, er machte das gerne und alleine, dass sich die Nazis gar nicht darum kümmerten. Er war natürlich kein ganz Unschuldiger, in Polen brachte sich ein Juden-Ältester um, weil er Kinder in den Tod schicken musste. Aber keiner kann sagen: „Du müsstest dich in einer solchen Situation umbringen.“
War diese äußerst negative Haltung gegenüber den Judenräten nicht auch ein Selbstschutz? Es gab immer die Vorwürfe junger Juden, dass sich die Eltern und Großeltern wie die Schafe zur Schlachtbank hätten treiben lassen.
Das ist eine Theorie, die vor allem aus Israel kam. Aber es stimmt einfach nicht: Wenn es ging, haben sich Juden im Angesicht des Todes häufig versucht zu wehren. Die Juden waren nicht feiger als andere. In Wien hat die Deportation für alle Städte begonnen, niemand hatte damit Erfahrung. Es ist leichter aus Tel Aviv oder Los Angeles heraus solche Vorwürfe zu erheben: Wie kommen die dazu, beim Holocaust mitzuhelfen und sich nicht zu wehren? Vielleicht hätte ich in den 70er-Jahren auch so geurteilt. Wer kann sich in eine solche Situation versetzen und sagen: Ich hätte anders gehandelt? Es ist ein unlösbares Dilemma.