Seit einigen Monaten ist die Welt im Banne von Covid-19. Für unsere globalisierte Gesellschaft mag diese Gefahr, wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß, neu sein. Die Geschichte zeigt jedoch erstaunliche Parallelen.
„Gotts verhengnis und seine straffe“ – so bezeichnete Martin Luther todbringende Seuchen. Anders als von Luther angenommen, kann inzwischen konfessionsübergreifend als gesichert angenommen werden, dass todbringende Seuchen keine Gottesstrafe, sondern allzu Menschlichem anzurechnen sind: Schlechte hygienische Umstände, fehlende Kanalisation und mangelhafte medizinische Kenntnisse waren die Wegbereiter der Pest, der nahezu die Hälfte der damaligen Bevölkerung unseres Kontinents zum Opfer fiel. Man kann also keineswegs sagen, dass die Corona-Seuche die erste große Epidemie wäre – nicht nur in Europa, sondern weltweit.
So sind etwa aus dem kleinasiatischen Reich der Hethiter sogenannte „Pestgebete“ erhalten (1500 v.d.Z.), die auf eine stattgefundene Pest-Epidemie hindeuten. Während des Peloponnesischen Krieges (5. Jh. v.d.Z.) wütete in Athen, als die Stadt von den Spartanern belagert wurde, die „Attische Seuche“, die ebenso soziale wie politische Folgen hatte; und im 6. Jh. gab es die „Justinianische Pest“, so bezeichnet, weil sie die Armee des oströmischen Kaisers Justinian empfindlich dezimierte und es diesem daraufhin nicht gelang, das Imperium Romanum wiederherzustellen.
Suche nach der Schuld
Es gibt jedenfalls erstaunliche Parallelen in den Reaktionsweisen aller von Pandemien betroffenen Gesellschaften, die man als anthropologische Konstanten bezeichnen könnte. Allerdings macht die digitalisierte Welt von heute einen Unterschied. Informationen gehen im Sekundentakt durchs Internet – und damit auch eine Flut von Unfug von sogenannten Fake News, die verunsichern. Denn viel schneller als das Virus selbst schienen sich in den vergangenen Wochen Verschwörungsmythen über SARS-CoV-2 zu verbreiten. Denn in Krisenzeiten sind Menschen besonders anfällig für Irrationalität.
In der Vergangenheit gab es bei Seuchen, etwa bei der Pest, immer Volksgruppen oder Religionen, die für diese verantwortlich gemacht wurden. Schon die Geschichtsschreibung in der griechischen Antike weist erhebliche Verschwörungsgedanken auf, die auch im Mittelalter während des großen Peststerbens, zur Zeit des „schwarzen Todes“, dazu führten, dass – unter dem Vorwurf der Brunnenvergiftung – ganze jüdische Gemeinden in der Schweiz und in Deutschland vernichtet wurden.
Ähnliche Gerüchte kamen nach der Spanischen Grippe auf, die am Ende des Ersten Weltkrieges wütete. Damals waren es die Spanier, die scheel betrachtet und gemieden wurden, weil man sie als Urheber dieser höchst ansteckenden Krankheitswelle sah. Das Massensterben seinen Namen allerdings erst, nachdem der spanische König daran erkrankt war. Dabei stammte die Krankheit womöglich aus Amerika. Der erste Patient könnte ein US-Soldat gewesen sein, der sich in einem Militärlager in Kansas krankmeldete. Wenige Wochen später gelangte die Grippe mit Truppentransportern an die Front nach Frankreich. Ein deutscher Soldat schrieb am 20. Juni 1918 in sein Tagebuch: „Heute Morgen hat unsere Kompanie 40 Mann mit hohem Fieber, wieder müssen mehrere mit Tragbahre fortgetragen werden. Das geht so Tag für Tag.“
Mehr Tote als im Weltkrieg
Von 1918 bis 1920 forderte die Spanische Grippe aktuellen Schätzungen zufolge rund 50 Millionen Menschenleben, eine Dreiviertelmillion davon in Amerika. Sie war tödlicher als das Kampfgeschehen des Ersten Weltkriegs. Medizin und Politik waren von der Pandemie völlig überfordert. Erst im Jahr 1933 gelang es, das verantwortliche Virus zu isolieren.
Von der Spanischen Grippe abgesehen waren die drei verheerendsten und todbringendsten Krankheiten bisher Malaria, Tuberkulose und Aids. Beim Ausbruch der harmlos klingenden, jedoch gleichfalls gefährlichen „Vogelgrippe“, die sich 1997 epidemisch zu verbreiten begann, meinten Wissenschaftler, dass ähnliche Erreger jederzeit in mutierter Form wieder zu Seuchen führen könnten. Nur wann und in welcher Ausdehnung war zu diesem Zeitpunkt noch offen – und ist es nach wie vor. Dass das nicht minder ansteckende Ebola-Virus zu keiner weltweiten Hysterie führte, lag vor allem daran, dass die Epidemie auf Westafrika – insbesondere auf den Kongo und Uganda – beschränkt blieb. Außerdem wurde inzwischen ein wirkungsvoller Impfstoff entwickelt, der aber aufgrund mangelnder Aufklärung und auch wegen des herrschenden Misstrauens gegen westliche Ärzte in den betroffenen Ländern zu wenig zum Einsatz kommt.
Lehren aus der Vergangenheit
Können wir aus den Seuchen der Vergangenheit lernen? Weil die Wissenschaft trotz allen Fortschritts die Infektionskrankheiten noch keineswegs im Griff zu haben scheint, sorgt die Coronakrise seit Wochen für Verunsicherung: Hamsterkäufe, Existenzangst – und Angst um Freunde und Angehörige. Außerdem kursieren Falschmeldungen und Verschwörungstheorien über die Entstehung der Pandemie. Eine solche ist ein Stresstest für jede Gesellschaft, der tiefe Spuren hinterlässt – auch beim Einzelnen. Schon im 16. Jahrhundert gab es etwa panikartiges Horten von Vorräten. Die Stadt München (er)fand dagegen geradezu modern anmutende Maßnahmen: In einem Dokument des Stadtarchivs aus dem Jahr 1532 steht geschrieben: „Wer an der Pest erkrankt ist, der muss zu Hause bleiben und seine Hausgenossen auch. Und es wird also geregelt, dass zum Beispiel diese Leute, die da in ihrem Haus festsitzen, versorgt werden durch städtisch bestellte Hilfskräfte, die für sie einkaufen.“
Als Maßnahme gegen die Pest wurden auch neue Gesetzgebungen geschaffen, so zum Beispiel der „Passport“ – der „pass a porto“, der ursprünglich nur als eine amtliche Erlaubnis gedacht war, den Hafen passieren zu dürfen. Es war eine der ersten Bestimmungen gegen die Verbreitung der Pest, die man beispielsweise in Venedig eingeführt hatte. Außerdem wurden damals bereits Seuchenkordons gezogen, entweder um Orte zu isolieren, in denen die Seuche bereits grassierte, oder um noch nicht betroffene Gebiete zu schützen. In Philadelphia wurde das Spucken unter Strafe gestellt und Täter umgehend inhaftiert. In spanischen Seehäfen mussten kranke Ankömmlinge in Quarantäne – bis heute eine effektive Schutzmaßnahme. Dass man damals noch kein Fernsehen und Internet hatte, war vor allem in Glaubenssachen verhängnisvoll: In religiöser Verblendung öffneten die Kirchen Tag und Nacht, damit Anti-Seuchen-Gebete zum Himmel geschickt werden konnten. Ärzte und Pflegepersonal arbeiteten weltweit bis zur Erschöpfung, auch wenn ihnen oft nicht mehr einfiel, als den Kranken Bettruhe, Senfwickel oder Abführmittel zu verschreiben.
In den vergangenen Jahrzehnten hat schließlich auch die Popkultur die Seuche entdeckt, vornehmlich in Gestalt von Horror- und Zombiefilmen und mittels „infizierender“ Videospiele. Vor allem der Zombiefilm ist ein typisches Pandemie-Phänomen: Zombies sind ansteckend. Das heißt: Die beißen. Und dann ist man sofort infiziert und mutiert binnen kürzester Zeit zur schlurfenden Inkarnation eines Untoten.