Chemie-Nobelpreisträgerin Ada Yonath erzählt über ihre Erfahrungen mit dem Nobelpreis-Komitee, ihre polnischen Wurzeln, ihre Schwierigkeiten in Deutschland und Österreich sowie ihren Kampf gegen wissenschaftliche Windmühlen.
Von Lukas Wieselberg (Interview) und Verena Malgarejo (Fotos)
NU: Als Sie Anfang Oktober 2009 vom Nobelpreis-Komitee angerufen wurden – wie überrascht waren Sie?
Yonath: Woher nehmen Sie an, dass ich es nicht schon vorher gewusst habe?
Haben Sie?
Nein, es wird nichts im Vorhinein verraten. Zwei Menschen in meiner Umgebung haben es zwar schon gewusst, weil sie Wochen zuvor mit der Übersetzung des Nobelpreis-Manuskripts ins Hebräische beschäftigt waren, aber auch sie haben mir nichts gesagt.
Also haben Sie wirklich nichts gewusst?
Nein. Bis auf den Tag selbst, da gab es schon vor dem Nobelpreiskomitee Anrufe.
Von wem?
Von den Medien. Die Sache war so: Ich wurde einen Tag zuvor von der Nachrichtenagentur AP in New York angerufen. Sie sagten, dass ich gute Chancen für den Nobelpreis habe. Ich habe geantwortet: „Es ist jetzt drei Uhr morgens in Amerika, vermutlich haben Sie zu viel getrunken und wollen mich veräppeln.“ Ich konnte es einfach nicht glauben. Am Mittwoch begannen dann um sechs Uhr in der Früh die Telefonanrufe, aber nicht vom Nobelpreiskomitee, sondern von den israelischen und internationalen Medien. Die Nachricht hat sich also schnell herumgesprochen. Meine Enkelin hat sich um die Anrufe gekümmert, sie hat die Nummern notiert, ich konnte ja nicht mit allen gleichzeitig reden.
Wie viele Anrufe hatten Sie, bevor dann endlich Stockholm anrief?
Ich weiß nicht, vielleicht 100. Zehn Minuten, nachdem das Komitee dann endlich angerufen hatte, waren die Leitungen blockiert, und zwar nicht nur meine, sondern auch die des gesamten Weizmann-Instituts.
Wie haben Sie sich bei der offiziellen Nachricht gefühlt?
Ich habe mich natürlich sehr gefreut und war sehr glücklich. Neun Jahre zuvor war ich aber noch glücklicher, als ich erstmals die Ribosomen- Struktur sehen konnte, das war wirklich unglaublich. Den Preis bekommt man oder man bekommt ihn nicht. Es ist ein schönes Gefühl, aber nicht zu vergleichen mit meiner eigenen Entdeckung.
Zu Ihrer Biografie: Woher stammen Ihre Eltern?
Aus Polen, Zdunska Wola, ein kleiner Ort 20 Kilometer südwestlich von Lodz. Auch alle meine Verwandten stammen von dort.
Leben heute noch Verwandte in der Gegend?
Nein. Alle, die es nach Israel geschafft haben, haben überlebt. Der Rest wurde von den Nazis vernichtet.
Wurde in Ihrer Familie über ihre Herkunft gesprochen?
Manchmal, aber nicht sehr viel.
Wie war das?
Ich weiß nicht. Ich hatte eine Großmutter und einen Großvater in Israel, beide sind gestorben, als ich noch sehr jung war. Es war natürlich nicht schön, darüber zu sprechen. Ich kann keine große Geschichte erzählen: Mein Vater starb, als ich elf Jahre alt war. Es gab nicht viel Zeit, um über die Vergangenheit zu sprechen.
Haben Sie jemals Zdunska Wola besucht?
Ja, ich war zwei oder drei Mal da, das erste Mal 1986 noch in der kommunistischen Zeit. Ich bin sogar auf die Zäune des Friedhofs geklettert, um die Gräber der Großeltern zu sehen. Mittlerweile hat sich viel geändert, es wurde viel gebaut und ich bin eine kleine Expertin für Zdunska Wola geworden.
Wie oft waren Sie in Österreich?
Rund zwanzig Mal, ich bin Mitglied im Beirat des Instituts für Biophysik und Nanosystemforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Graz, habe Auszeichnungen bekommen und nehme an Konferenzen teil.
Wann sind Sie zum ersten Mal nach Deutschland oder Österreich gekommen?
Ich glaube 1975, anlässlich einer Konferenz der deutschen Max- Planck-Gesellschaft. Über einhundert Proteinkristallografen aus aller Welt haben sich im Tiroler Ort Alpbach getroffen. Es war nicht einfach für mich, hierher zu kommen, gar nicht einfach.
Es ist immer seltsam, solche Fragen zu stellen, aber was war „nicht einfach“?
Sie deuten das in Ihrer Frage ja schon an. Ich war zwar nur indirekt von der Geschichte betroffen, weil ich ja schon in Israel auf die Welt gekommen bin und meine unmittelbare Familie bei mir hatte. Aber ich war nicht blind, ich kannte die Geschichte und hatte Teile meiner Großeltern verloren. Die Geschehnisse der Zeit sind schrecklich, gleichgültig, wie man selbst davon betroffen ist, es war schrecklich, daran zu denken. Dieses Gefühl hat sich nicht geändert. Ich habe z. B. nie Deutsch gelernt. Ich hatte jahrelang mein eigenes Institut in Deutschland, aber kann noch immer kein Deutsch. Ich kann nicht einmal sagen: „Sie haben die falsche Nummer gewählt, rufen Sie eine andere an.“ Verstehen kann ich es, sagen kann ich es nicht.
War das Ihre Reaktion auf die Nazis?
Ich weiß nicht, ich habe das nicht geplant oder beabsichtigt, es ist einfach so passiert. Nageln Sie mich nicht auf eine „Reaktion“ fest.
Wie hat Ihre Umgebung reagiert, etwa als Sie zum ersten Mal in Alpbach waren? Hat Sie irgendwer auf die Geschichte angesprochen?
Nein, das war eine internationale Fachkonferenz über Kristallografie, nicht über Geschichte. Niemand ist glücklich, über die Vergangenheit zu sprechen. Also warum sollte ich es sein?
Und in den folgenden 24 Jahren, die Sie zum Teil in Deutschland verbrachten, haben sich Ihre Gefühle da verändert?
Nein, ich fühle mich immer noch unwohl, auch wenn die Arbeit selbst fantastisch war. Ich habe es geschafft, meine Gefühle von meiner Arbeit zu trennen. Ich denke nicht allzu viel nach über meine Gefühle, ich war auch niemals aus Spaß in Deutschland oder Österreich. Ich habe meine Arbeit gemacht und habe das Land wieder verlassen. Nun bin ich ein bisschen älter und erhalte Preise. Aber ich habe mich niemals so gefühlt, also ob ich hier leben würde. Es war für mich das höchste der Gefühle, zum Supermarkt zu gehen und etwas zum Essen einzukaufen. Ich habe viel gearbeitet, auch in der Nacht. Fünf Jahre lang hatte ich nicht einmal eine Wohnung, ich habe entweder im Büro geschlafen oder in meinem Auto. Ich hatte mir 1981 eines gekauft, um Material aus dem Labor von Berlin nach Hamburg zu transportieren. Fliegen war damals kompliziert, die Bahn hat für die kurze Strecke acht Stunden gebraucht, deshalb bin ich mit dem Auto oft die Transitroute gefahren. Das war einfacher, und so konnte ich auch darin schlafen, im Sommer im Auto, im Winter im Büro. Ich habe oft bis zwei Uhr in der Früh gearbeitet, ein paar Stunden geschlafen und dann weitergearbeitet.
Was haben Ihre Kollegen dazu gesagt?
Die dachten, ich sei komplett verrückt. Sie waren auch nicht sehr erfreut darüber, dass ich als meine Wohnadresse „Max-Planck-Institut“ angegeben hatte. Aber was hätten sie tun sollen? Sie konnten mich nicht verändern. Ich habe mich erst nach einer Wohnung umgesehen, als meine Mutter angekündigt hat, dass sie mich besuchen kommt. Auf der Rückbank meines Autos war kein Platz mehr frei, deshalb habe ich eine Wohnung gesucht. Das war fünf Jahre nach meinem Arbeitsbeginn in Hamburg.
Gibt es institutionelle Verbindungen zwischen ihrer Abteilung am Weizmann- Institut und österreichischen Instituten?
Nicht wirklich. Es gibt eine Memorial Lecture an der Universität Graz, die Otto Loewi gewidmet ist. Er hat 1936 den Nobelpreis in Medizin gewonnen, das Preisgeld musste er den Nazis abliefern, ehe er fliehen konnte. Dann gibt es in Graz auch einen Fonds, der den wissenschaftlichen Kontakt zwischen Israel und Österreich intensivieren soll. In erster Linie geht es dabei um den Austausch von Studierenden und Graduierten.
In Wien haben Sie während Ihres aktuellen Aufenthalts die Wilhelm- Exner-Medaille verliehen bekommen. Wissen Sie, warum?
Nein, keine Ahnung. Ich habe aufgehört, über solche Dinge nachzudenken.
Es ist vermutlich nicht die einzige Auszeichnung neben dem Nobelpreis, die Sie bekommen haben?
Nein, aber nach dem Nobelpreis waren es nicht mehr viele. Es gibt ja Menschen, die behaupten, dass mit dem Nobelpreis die Zeit der Auszeichnungen vorbei ist. Die Wilhelm- Exner-Medaille ist etwas anderes, sie ist kein Preis und bietet somit auch kein Preisgeld.
So ist halt Österreich.
Ich weiß nicht, ob das der Grund ist. Niemand kann finanziell mit dem Nobelpreis mithalten, also zeigt man auf andere Weise seine Anerkennung, mit Ehrendoktoraten, Medaillen etc.
Haben Sie die Anzahl Ihrer Auszeichnungen gezählt?
Nein, aber ich schätze, es sind so an die dreißig.
Sie sind unter ärmlichen Verhältnissen in Jerusalem und Tel Aviv aufgewachsen. Wie haben Sie es geschafft, zur Wissenschaft zu kommen?
Ich habe viel gelernt und studiert. In der Schule gab ich anderen Schülern Nachhilfe und arbeitete im Leseraum sowie in der Bibliothek, habe also auch Geld verdient. Damit konnte ich meiner Mutter und meiner Schwester helfen, mit denen ich gemeinsam bis zu meiner Militärzeit gewohnt habe.
Auf der Website der Nobelstiftung steht, dass Sie sich schon sehr früh für Wissenschaft interessiert haben.
Das stimmt, ich wollte schon mit fünf Jahren die Welt erkunden. Bei einem „Experiment“ habe ich versucht, die Höhe unseres kleinen Balkons mit verschiedenen Einrichtungsgegenständen zu messen. Ich habe einen Tisch auf einen anderen Tisch gestapelt, darauf einen Stuhl gestellt usw., konnte aber noch immer nicht die Decke erreichen. So bin ich selbst auf die Konstruktion gestiegen, auf den Boden gefallen und habe mir dabei den Arm gebrochen. Kurz gesagt: Ich war schon als Kind so, dass ich, wenn mich etwas interessiert hat, unbedingt herausfinden wollte, wie es funktioniert.
Es hat dann doch einige Zeit gedauert, bis Sie sich erstmals mit Ribosomen beschäftigt haben, wann war das?
Mitte der 1970er-Jahre. Ich war gar nicht so sehr an Ribosomen an sich interessiert, sondern an dem Prozess, wie der genetische Code in Proteine übersetzt wird.
Sie wollten als erste diese „Proteinfabriken“ kristallisieren und damit ihre Struktur und ihre Funktion bestimmen.
Bis zu meinen Experimenten dachte man, dass Ribosomen überhaupt nicht kristallisiert werden können. Es ist zwar versucht worden, aber ohne Erfolg. Das lag daran, dass Ribosomen nicht stabil genug sind, sie sind sehr groß, flexibel und kompliziert. Es gab bereits Studien, die gemeint haben, dass es überhaupt nie möglich sein wird, sie zu kristallisieren.
Sie standen in diesen Jahren ziemlich alleine in der Wissenschaftsgemeinde. Woher haben Sie ihre Kraft bezogen weiterzumachen?
Mich haben die anderen nicht interessiert. Ich wollte endlich wissen, wie die Struktur der Ribosomen aussieht und nicht anderen Menschen zuhören.
Waren Sie von Beginn an sicher, dass Sie einmal Erfolg haben würden?
Nein, überhaupt nicht. Aber ich hatte vom Start weg einige, wenn auch kleine Hinweise darauf, dass es klappen könnte. Das hat mir gereicht weiterzumachen. Es gibt nichts, was mich weniger interessiert, als die Meinung anderer, solange ich nur arbeiten kann. Es war auch nie mein Ziel, populär zu werden.
Sie wollten auch nicht eines Tages den Nobelpreis gewinnen?
Daran habe ich nie gedacht. Es muss schrecklich sein, immer an einen Preis zu denken. Die wirkliche Auszeichnung ist die wissenschaftliche Entdeckung, nicht die Ehrung. Als ich im Jahr 2000 erstmals die genaue dreidimensionale Struktur und Architektur eines kompletten Ribosoms sehen konnte, war das viel aufregender als der Nobelpreis.