Der Journalist und Historiker Tom Segev erzählt, warum er sich beim Schreiben seiner Simon-Wiesenthal-Biografie so schwer tat, welche Rolle der Mossad in Wiesenthals Leben spielte und warum er glaubt, dass Wiesenthal sich letztlich mit den Tätern identifizierte.
(DIESES GESPRÄCH FAND IM RAHMEN DER Ö1-REIHE ZEITGENOSSEN IM GESPRÄCH ENDE SEPTEMBER DIESES JAHRES IM JÜDISCHEN MUSEUM WIEN STATT)
Von Michael Kerbler
NU: Ich würde gerne hier einen dritten Sessel herstellen, symbolisch für Simon Wiesenthal, der im Mittelpunkt unseres Gesprächs stehen wird. Ich habe mit Herrn Wiesenthal im Jahr 1988 ein langes Gespräch geführt, als sein Buch „Recht, nicht Rache“ erschienen ist. Ganz wichtige Punkte, die Sie, Herr Segev, in seiner Biografie angesprochen haben, standen auch damals zur Debatte und deshalb wird an besonders wichtigen Punkten unseres Gesprächs Simon Wiesenthal selbst zu hören sein. Herr Segev, Sie haben das Buch, diese Biografie, als Ihr schwierigstes Buch beschrieben. Warum fiel Ihnen die Abfassung dieser Biografie schwerer, als ein Buch über die Geschichte Israels, über die Palästinenser oder über den Holocaust zu schreiben?
Segev: Es war für mich so schwer – erstens – weil ich noch niemals zuvor eine Biografie geschrieben habe. Zweitens, weil Wiesenthal ein sehr komplizierter Mann war, der nicht leicht zu durchschauen ist und weil ich mir immer gesagt habe, ich will einerseits fair sein zu ihm, also ich habe ihn immer vor mir gesehen, und anderseits will ich fair sein zu dem Material, das er hinterlassen hat. Wiesenthal neigte manchmal zwischen Fantasie und Realität zu leben und das erschwerte mir manchmal auch das Buchprojekt.
Wenn ein Biograf sich daran macht, einen Menschen zu beschreiben, wo beginnt er dann? Wo ist der Anfang des roten Fadens?
Eine Biografie beginnt meistens mit der Beschreibung des Städtchens, in dem der Mann oder diePerson, über die man schreibt, geboren worden ist. Ich habe es in diesem Fall anders gemacht, weil ich dachte, ich will erst mal ein bisschen Neugier erregen beim Leser und habe angefangen mit Wiesenthal in Israel im Jahr 1949, als er die Asche von 200.000 Holocaust-Opfern nach Israel bringt, damit sie dort begraben sind. Das ist ein sehr dramatischer Moment für eine Einleitung! Und dann habe ich gedacht, fangen wir doch gleich mit Eichmann an. Und wenn der Leser dreißig oder vierzig Seiten gelesen hat, ist er – so denke ich mir – auch interessiert, mehr über die faszinierende Persönlichkeit Simon Wiesenthal zu erfahren.
Warum ist Simon Wiesenthal, ein Mann, der Israel so gemocht und verteidigt hat, aber in Österreich geblieben?
Ja, diese Frage, warum er in Österreich geblieben ist, war für mich eine Hauptfrage. Als Israeli wächst man mit der Auffassung auf, dass alle Juden in Israel leben müssen. Übrigens: Das ist nicht meine Meinung. Ich habe kein Problem mit Juden, die nicht in Israel wohnen, aber warum in Österreich? Wieso ist er in Österreich geblieben, zumal ja die meisten überlebenden Juden von Österreich nicht wieder zurückgekommen sind nach Österreich? Wieso ist er hier geblieben? Man hat ihn das so oft gefragt. Israelis haben ihn oft gefragt, warum leben Sie nicht Israel? Und dann hat er gesagt, weil es in Israel nicht genug Nazis gibt für mich. Aber das war wieder so eine Art von Wiesenthal, auszuweichen. Er hatte so diese Art, wenn er etwas nicht sagen wollte, auszuweichen. Ich bin nach langem Überlegen zu dem Schluss gekommen, dass er in Österreich geblieben ist, weil er sich in Österreich zu Hause gefühlt hat. Er hat sich als Österreicher gefühlt. Er hat sich als österreichischer Patriot gefühlt. Und das ist ein bisschen schwer, so zu verstehen und wahrzunehmen. Aber ich glaube, dass es doch so war. Er hat eigentlich sein ganzes Leben lang Wien als seine politische, seine intellektuelle Heimat betrachtet und es war irgendwie natürlich für ihn, dass er eben dann hier geblieben ist, als er aus Mauthausen befreit wurde. Der Grund, warum ich mir so sicher bin? Nun, ich glaube ihm, weil er schon Anfang der 1950er-Jahre sich so große Mühe gegeben hat, Österreich von antisemitischen Erscheinungen zu befreien; er hat immer protestiert gegen irgendeine antisemitische Karikatur in einer Zeitung oder ähnliche Vorfälle. Er hat dauernd versucht, Österreich von Antisemitismus zu befreien und zu säubern. Also, als Israeli hätte ich mir gesagt, was geht dich das an, dass die Österreicher Antisemiten sind. Geh, leb, mach, fang ein neues Leben an. Wenn die Österreicher Antisemiten sind, sind sie Antisemiten, was geht dich das an. Aber es ging ihn eben an, weil er sich hier zu Hause fühlte, weil das seine eigene Gesellschaft war, für die er gekämpft hat.
Ich habe Simon Wiesenthal damals gefragt, was seine Motivation ist, sein Leben in Österreich zu verbringen und Nazi-Verbrecher aufzuspüren und damals hat er folgende Antwort gegeben:
Simon Wiesenthal: Vorerst die Frage an mich selbst, warum hast du überlebt? Es gab Leute, die gescheiter, intelligenter wie du waren, Leute, die der Gesellschaft mehr geben konnten. Und da hat man ein Schuldgefühl und dann bekommen sie als sozusagen Heilung des Schuldgefühls einen Komplex, einen Vertretungskomplex. Ich muss die vertreten, die gerade in diesem Prozess nicht kommen können und anklagen, für die, die nicht kommen können und schildern. Sehen Sie, dieser Schuldkomplex des Überlebens – ich habe nicht überlebt auf Kosten anderer, aber der Fakt allein, dass ich überlebt habe und viele, viele tausende andere nicht, das wird mich begleiten bis zum Ende.
Deckt sich diese Aussage mit Ihrer Recherche? Hat Simon Wiesenthal so einen Vertretungskomplex tatsächlich gehabt?
So ähnlich wie sehr viele HolocaustÜberlebende hatte er ein Schuldgefühl, weil er überlebt hat, weil er relativ weniger gelitten hat als viele andere, weil er überlebt hat durch die Anständigkeit von zwei Deutschen, die ihm geholfen haben. Er hatte das Gefühl, dass er den Überlebenden oder der ganzen Menschheit etwas schuldet. Das ist natürlich tragisch. Wissen Sie, es gibt hunderttausende Holocaust Überlebende, die es fertiggebracht haben, niemals den Holocaust zu vergessen, die es aber gleichzeitig geschafft haben, ein neues Leben anzufangen. Ob in Israel oder sonst wo. Wiesenthal aber blieb immer ein Verfolgter. Man nennt ihn immer „Jäger“. Aber eigentlich war er ein Verfolgter. Er war durch seine Vergangenheit, durch den Holocaust, ein Verfolgter – er ist das niemals losgeworden und das war eigentlich sehr tragisch, auch für seine Familie, für seine Frau, für seine Tochter.
Weil Sie die Suche nach Eichmann erwähnt haben: Welche der vielen Geschichten ist denn jetzt wirklich die richtige?
Die von Wiesenthal …
Gut, dann hören wir Simon Wiesenthal zu.
Simon Wiesenthal: Als im Zenit des Kalten Krieges die Leute, die mit mir gearbeitet haben, ausgewandert sind – Gerichte in Österreich und in Deutschland wollten keine Anklage mehr und keine Prozesse mehr machen – da war für mich klar, ich kann nicht mehr weiterarbeiten. Also, ich habe alle Unterlagen nach Jerusalem geschickt, schicken lassen. Ich habe mir nur zurückbehalten den Fall Eichmann, der sozusagen ein Nachbarsfall war. Und fünf Jahre später kamen die Israelis zu mir und sagten: Ich weiß, du hast uns doch Dinge mitgeteilt im Jahre 1953 über Eichmann, wie sind deine neuen Informationen? Da habe ich gesagt, ja, wir wissen, wo die Schwiegermutter von ihm lebt und die sagt, Eichmann wäre tot und die Tochter wäre mit einem anderen Mann verheiratet und das hat irgendwie korrespondiert mit dem, was die Israelis in der Zwischenzeit herausgefunden haben. 1959, wie sein Vater gestorben ist, stand in der Parte nur der Name Vera Eichmann und kein anderer – neuer – Familienname, so wie alle geschrieben und gesagt haben, sie wäre verheiratet mit jemand anderen. Hier war sie als Vera Eichmann und in einer Parte lügt man nicht. Wir haben noch fotografiert das Begräbnis. Es ging ja um die Feststellung der Identität. Sein jüngerer Bruder sah übrigens genauso aus wie Eichmann auf einem Foto aus dem Jahr 35, das wir hatten. Er hätte können vertauschen das Foto und in seinen Pass geben. Ja, das hat auch etwas geholfen, Eichmann zu identifizieren. Ich war nicht in Argentinien. Das haben die Israelis gemacht. Und wie man ihn gebracht hat nach Israel, habe ich ein Telegramm bekommen, noch bevor das in der Presse war. Dann wurde ich eingeladen, weil die Sache Eichmann war ein Teamwork von vielen Leuten, die sich untereinander nicht gekannt haben. Dadurch wurde mein Name bekannt und in Österreich war ich der „Eichmann-Wiesenthal“ oder der „Eichmann-Jäger“.
Weil Sie, Herr Kerbler, gefragt haben, warum es so schwer sei über Wiesenthal zu schreiben. Wenn wir das eben Gesagte jetzt analysieren würden, Wort für Wort, dann stellen sich hier mindestens 20 Fragen: Stimmt das? Stimmt das, dass er das getan hat? Stimmt das mit dem Fotografieren? Interessant ist, dass er immer „wir“ sagt. So wie er immer die Eigenschaft hatte, immer „wir“ zusagen. Wieso „wir“? Er saß doch alleine in seinem Büro, erst am Rudolfsplatz und dann in der Salztorgasse und hat Zeitungsausschnitte in Akten gelegt. Ich übertreibe es ein bisschen. Er hatte Mitarbeiter, ja, aber eigentlich war er ganz allein. Aber er hat immer so getan, wie wenn er an der Spitze einer Organisation steht, die mindestens eine Kombination von CIA, KGB und Mossad zusammen ist. Er hat das gezielt getan, damit er mehr Aufmerksamkeit schafft, mehr Presse kriegt und mehr Informationen, denn jeder seiner Auftritte hat ihm Informationen gebracht. Man weiß von den Akten, die er in seinem Büro hatte, von alphabetisch geordneten NS-Verbrechern, aber er hat oft, wenn er irgendwo erschienen ist, Briefe und Telefonate gekriegt von anderen Holocaust-Überlebenden und die Fakten hat er registriert und aufgeschrieben. Er hatte also eine große Sammlung von potenziellen Zeugen. Aber noch ein Wort zu Eichmann. Also, es war so, dass der Wiesenthal gleich nach 1945 die Leidenschaft hatte, Eichmann zu finden und die Behörden nicht in Ruhe gelassen hat, nach dem Eichmann zu suchen …
Das wäre ja fast gelungen …
Zu meinem großen Erstaunen hat sich herausgestellt, es stimmt, dass Wiesenthal dabei war, wie die östereichische Polizei versucht hat, den Eichmann in Altaussee zu verhaften, wo Frau Eichmann und die Kinder lebten. Sie dachten, Eichmann werde kommen, um die Silvesternacht mit seiner Familie zu verbringen und dann werden sie ihn verhaften. Einige Tage bevor diese Aktion stattfand, kam ein Israeli zu Wiesenthal und er fragte nach Eichmann und, so erzählt Wiesenthal, ich sagte ihm, vielleicht passiert bald was; das war ein Fehler, weil der Israeli wollte, dass ich ihn mitnehme zu der Aktion. Als sie dann in Altaussee waren, hat sich der Israeli in ein Wirtshaus gesetzt und angefangen, sehr laut den Mädchen über seine Erlebnisse im Unabhängigkeitskrieg von 1948 zu erzählen im Dorf und, also, innerhalb von einer halben Stunde wusste das ganze Dorf, dass da israelische Agenten sind und der Eichmann ist nicht gekommen.
Herr Segev, Simon Wiesenthal hat, nachdem Eichmann 1962 hingerichtet worden ist, gemeint, das hätte man nicht tun sollen. Man habe sich damit eine ganz wichtige Auskunftsquelle genommen, die über den Holocaust Auskunft hätte geben können. Teilen Sie diese Ansicht von Simon Wiesenthal? War es richtig, Eichmann zu exekutieren?
Also, ich bin prinzipiell gegen die Todesstrafe, auch in diesem Fall. Es gab ehrere Israelis, die dagegen waren und es gab eine kleine Diskussion darüber. Martin Buber war dagegen und es gab eine Debatte in der Regierung. Einige Kabinettsmitglieder waren gegen die Exekution von Eichmann. Für mich war neu, dass Wiesenthal dagegen war, und zwar nicht, weil er prinzipiell gegen die Todesstrafe war, sondern weil er wirklich dachte, dass der Eichmann noch sehr viel weiß und man ihn als Zeugen am Leben lassen muss. Das hat mich überrascht.
Wie war denn das Verhältnis zwischen Wiesenthal und dem Mossad nun tatsächlich? Hat der Mossad ihm seine Erfolge nicht gegönnt, wurden seine Leistungen verheimlicht oder wollte der Geheimdienst bloß verhindern, dass die Öffentlichkeit von der Unterstützung Simon Wiesenthals durch den Mossad erfährt …
Ah, ja, gut haben Sie das gesagt. Ich dachte, Sie werden jetzt sagen, er sei Agent gewesen …
Nun, Herr Segev, wie würden Sie denn einen Mann bezeichnen, der von einem Geheimdienst eine monatliche Gage kriegt, und von dem der Geheimdienst dann Gegenleistungen erwartet. Der zum Beispiel – Sie führen das ja auch in Ihrem Buch an – nicht nur Nazi-Verbrecher aufspüren soll, sondern auch Informationen über Personen, die zum Beispiel am Assuan-Staudamm mitplanen oder am syrischen Raketenprogramm mitarbeiten, liefern soll. Wie würden Sie so jemanden bezeichnen?
Ja, o. k. Anfang 1960, also nachdem Eichmann schon in Israel war und während des Prozesses, hat der Mossad in der Tat beschlossen, Wiesenthal zu helfen. Der kam damals aus Linz, war dann in Wien und wollte sein – wie er das nannte – Dokumentationszentrum eröffnen. Der Mossad hat beschlossen, ihm zu helfen und ihm ein monatliches Gehalt zu bezahlen von ungefähr 300 Dollar. In cash hat er das bekommen. Ich glaube, das war damals ziemlich viel, aber nicht furchtbar viel und er hatte sogar einen Decknamen. Der Mossad hat ihn in den internen Korrespondenten „Theokrat“ genannt und dadurch ist es ihm möglich gewesen, die Arbeit fortzuführen, die er 15 Jahre vorher begonnen hat. Das heißt, er war kein Agent, er war kein Spion. Man hat mich sogar gefragt, war das denn überhaupt gesetzlich, was er getan hat und ich habe dann geantwortet, es ist eigentlich nicht so gewesen, dass der Wiesenthal für den Mossad gearbeitet hat. Es ist so gewesen, dass der Mossad für den Wiesenthal gearbeitet hat …
Darf ich da kurz unterbrechen. Es gibt vom Counter Intelligence Corps, dem 430. Detachement der amerikanischen Armee in Österreich, datiert mit 16. Jänner 1950, eine Unterlage, in der es heißt: Simon Wiesenthal, resident of the US-zone of Austria since 1945 and recognized leader of the Jewish DPs, also displaced persons in Upper Austria, Chairman of the Jewish Central Committee, is Chief Austrian Agent of the Austrian Israeli Intelligence Bureau. Ich weiß nicht, ob Sie die …
1950 hat der Mossad noch gar nicht bestanden. Also, der Unfug in dem Fall, was gemeint ist 1950, ist, dass Wiesenthal vorher schon, also zwischen ’45 und ’48 bei der sogenannte „Brigade“ tätig war, und geholfen hat jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa durch Österreich nach Palästina zu bringen. Eben 1950 kann er noch nicht bei irgendeinem israelischen Intelligence Service gearbeitet haben, aber …
Der nachfolgende Satz ist dann auch nicht richtig …
Wie lautet der nachfolgende Satz? Ich erinnere mich nicht an dieses Dokument.
„He has recruted“, also er hat die Mitarbeit von Wilhelm Höttl (hochrangiger SS-Offizier, Adjutant von Ernst Kaltenbrunner; Anm. d. Red.) rekrutiert…
Ah ja, der Höttl hat damals übrigens in Altaussee gewohnt …
… weil es – nur der Vollständigkeit halber – für Israel damals interessant gewesen ist, Informationen über den VDU, die Vorgängerpartei der FPÖ, und über die Organisation „Spider“, also die Organisation „Spinne“ im Ausseer Raum, wo sich Nazis organisiert haben, zu bekommen.
Ich will Ihnen mal sagen, dass diese Art von Dokumenten genau auch ein Teil der Antwort sind, wie Sie gefragt haben, warum es so schwer ist über Wiesenthal zu schreiben, weil so viele Geheimdienste so viel Unfug geschrieben haben, der nicht sein kann. Wiesenthals reguläre Beziehung mit dem Mossad beginnt jedenfalls erst in den 60er-Jahren. Als Israeli war ich eigentlich ziemlich zufrieden zu erfahren, dass der Mossad doch irgendetwas getan hat. Der Mossad hat nicht viel getan, um NS-Verbrecher zu fangen, über wenigstens Wiesenthal haben sie finanziert. Also darüber war ich froh und ich glaube, wenn ich Österreicher wäre, dann würde ich mich auch freuen, dass es den Wiesenthal gab. Man hätte doch eigentlich erwarten können von der österreichischen Regierung, dass sie das tut und von der deutschen Regierung. Die haben es eben nicht getan. Der Wiesenthal musste dauernd kämpfen gegen die österreichischen Behörden und die deutschen Behörden und gegen die amerikanischen Behörden übrigens auch, die manchmal frühere Nazis beschäftigt haben. Es ist passiert, dass er zu der CIA ging und sagt, ich weiß, wo ein bestimmter Verbrecher zu finden ist und die sagten zu ihm, danke schön, der arbeitet schon für uns, suchen Sie uns einen anderen.
Es gab damals in Österreich eine parlamentarische Untersuchung über einen Mitarbeiter des Innenministeriums namens Johann Ableitinger, der Akten oder Wissen der Staatspolizei an alle möglichen Leute verkauft hat. Einer davon, der auch Informationen gekauft hat, war Simon Wiesenthal.
Wiesenthal war fasziniert von Kontakten mit Geheimagenten. Der Ableitinger war ein Mann, bei dem er es leichter hatte, Informationen über NS-Verbrecher zu kriegen, weil der sie ihm wahrscheinlich verkauft hat. Dramatisch für die österreichische Politik war nicht, dass der Wiesenthal Kontakte mit Johann Ableitinger hatte, sondern, dass die israelische Botschaft, wie übrigens andere Botschaften auch, Beziehungen hatte. Also, da gab es einen Detektiv, der Informationen hatte und diese verkauft hat. Das hat Bruno Kreisky irgendwie dazu gebracht zu sagen, dass Wiesenthal Mafia-Methoden benutzt. Und das bringt uns wirklich auf die sehr, sehr zentrale und wichtige Frage, warum Kreisky den Wiesenthal so gehasst hat. Der Wiesenthal hat den Kreisky nicht gehasst. Er war politischer Gegner, aber der Wiesenthal war FPÖ … entschuldigen Sie, ÖVP … Entschuldigung …, aber der Kreisky hat den Wiesenthal gehasst. Kreisky mag ein Kapitel in der Wiesenthal-Biografie sein, aber, so glaube ich, ein viel wichtigeres Kapitel ist Wiesenthal in der Kreisky-Biografie. Denn Kreisky war psychologisch nicht ganz zurechnungsfähig in allem, was das Judentum und Israel anging. Er hatte einen jüdischen Komplex. Wiesenthal hat seine Identität als assimilierter Jude bedroht, allein durch sein Dasein, wie er aussah und wie er sprach und wie er sich als Zionist verstand. Es war die ideologische Ebene. Der Konflikt handelte davon, dass Kreisky nicht mit seiner jüdischen Abstammung fertigwerden konnte. Der Wiesenthal war eben irgendwie das Symbol für all das, was der Kreisky nicht sein wollte und er hat ihm ungeheures Unrecht angetan.
Haben Sie, Herr Segev, den Eindruck, dass Simon Wiesenthal in seinem Leben manchmal auch mit zweierlei Maß gemessen hat? Dass er zum Beispiel als Helmut Kohl, mit dem er befreundet war, Ronald Reagan nach Bitburg gebracht hat, wo auch SS-Opfer beerdigt waren, dass er geschwiegen hat und nichts gesagt hat. Dass er Albert Speer, eine Generalamnestie ausgestellt hat. Er hat ihm ja einen Brief geschrieben, „wir alle haben in unserer Jugend Fehler gemacht“ und als Albert Speer ihm einmal geschrieben hat, er habe sich bemüht die „sanitären Zustände in den KZs zu verbessern“, hat ihm der Simon Wiesenthal geantwortet, dass er – Speer – ein anständiger Mensch sei. Wiesenthal hat immer gesagt hat, es gibt keine Kollektivschuld. Bei Bundespräsident Waldheim hat er das gelten lassen, bei Friedrich Peter, dem er auch nicht nachweisen konnte, dass er persönlich etwas verbrochen hat, da hat das nicht gegolten. Bei den Kreisky-Ministern, die der NSDAP angehört haben, hat Wiesenthal den Finger auf die Wunde legt, bei der ÖVP-Regierung – Finanzminister Reinhard Kamitz, ein NSDAP-Mitglied, der um Aufnahme in die SS angesucht hat – hat Wiesenthal geschwiegen. Also: hat er manchmal mit zweierlei Maß gemessen?
Erstmal wahrscheinlich ja. Aber was wichtiger ist zu sagen, dass es nichts Leichteres gibt, als Widersprüche in der Biografie von Simon Wiesenthal zu finden und es nichts Schwereres gibt, als diese Widersprüche zu verstehen. Ja, er hatte sehr gute Beziehungen zu Helmut Kohl und überhaupt hat er es leichter gehabt in Deutschland als in Österreich. Er hat es leichter gehabt in Deutschland als in Österreich. Die Beziehung mit Albert Speer ist wirklich etwas, was mich ungeheuer überrascht hat. Mir ging es so: Man geht in ein Archiv und da sind Briefe von Albert Speer an Wiesenthal und von Wiesenthal an Albert Speer. Da habe ich mich schon gewundert, was haben die miteinander zu tun? Also, ich kann schon verstehen, wieso der Albert Speer den Wiesenthal brauchte. Warum? Speer hat nichts anders getan nach seiner Freilassung, als sein historisches Image neu aufzubauen. Er hat Kontakte gesucht zu jüdischen Organisationen und auch zu Israel zur Hebräischen Universität, auch in Amerika. Er hat seine Biografie geschrieben, in der er eigentlich schreibt, ich habe von nichts gewusst, aber ich nehme die ganze Verantwortung auf mich. Und die ganze Welt hat ihn geliebt dafür und er war eine Celebrity. Die Beziehung zwischen Wiesenthal und Speer fängt damit an, dass der Wiesenthal ihm einen Brief schreibt und ihn fragt: „Wann hat die Nazi-Führerschaft zum ersten Mal und unter welchen Umständen den Ausdruck „Endlösung“ benutzt?“ Und der Speer antwortet ihm natürlich: „Also, ich habe das niemals gehört, ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden und ich habe das alles erst in Nürnberg gehört, aber ich freue mich, dass Sie mir schreiben, weil ich bin schon lange ein Verehrer von Ihren Büchern. Ich habe mir schon lange überlegt, ich möchte Sie einmal besuchen kommen!“ Und das nächste Bild in diesem Drama stammt dann von einem Mitarbeiter Wiesenthals, der mir erzählte, wie Wiesenthal aus seinem Büro in das Vorzimmer hinausstürzt mit dem Brief in der Hand und sagt: „Ihr glaubt nicht, wer mich besuchen will! Wer uns besuchen will! Der Albert Speer persönlich will uns besuchen!“ Das war für ihn als Holocaust-Überlebender erst mal eine Art Sieg. Also, der kommt mich besuchen. Ich, ich in meinem dritten Stock mit dem eisernen Ofen und umringt von tausenden von Akten von NS-Verbrechen. Albert Speer, der Freund vom Hitler kommt mich besuchen. Das war erst mal für ihn ein Sieg, aber das hat sich dann entwickelt. Die nächste Phase war dann eben eine Beziehung zwischen den zwei, ja man kann’s nur so sagen, den zwei Celebritys. Der eine ist die Holocaust-Celebrity und der andere ist die Nazi-Celebrity und irgendwie treffen sie sich. Dann korrespondieren sie als zwei Architekten, auch sehr schmeichelnd für Wiesenthal. Wiesenthal hat ja Architektur studiert und dann reden sie über die Pläne von Linz und der Speer schickt ihm das und der Speer kam ihn besuchen und sie trafen sich. Der Speer tut etwas Besonderes. Er zeigt Wiesenthal das Manuskript seines Buches noch, bevor er es seinem Verleger zeigt. Lesen Sie das, sagen Sie mir, was halten Sie von meinem nächsten Buch? Irgendwann schreibt dann der Wiesenthal an den Speer den einen Satz: „Wir haben alle Fehler gemacht in unserer Jugend.“ Und das muss man wirklich drei- oder vier- oder fünfmal lesen, um es zu glauben. Wie kann der Wiesenthal dem Speer einen solchen Satz schreiben? Und da kommt man wieder zu dem Thema „Schuldgefühl“ und so wie ich das verstehe, hat sich der Wiesenthal als Opfer mit dem Täter identifiziert. Das gibt’s auch unter Terror, bei Geiseln. Es ist etwas, was, glaube ich, uns wirklich etwas lehrt über die Psychologie von Wiesenthal, dem Holocaust-Überlebenden. Also, Wiesenthal, der Mensch, der immer in einem Schuldgefühl lebt und so stark,dass er sich schließlich identifizieren kann mit dem Nazi-Verbrecher Speer.
Herr Segev, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!
Ich danke Ihnen!