Israels Anspruch auf die gesamte Stadt als Hauptstadt wird von der islamischen Welt nie akzeptiert werden. Er steht daher jeder nachhaltigen Friedenslösung im Wege und macht andere Zugeständnisse sinnlos – egal wie die USA dazu stehen.
Als US-Präsident Donald Trump Ende 2017 die Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels durch die USA verkündete und die Übersiedlung der US-Botschaft dorthin versprach, gab es zwei typische Reaktionen in Israel: Die einen jubelten über einen großen politischen Erfolg, die anderen wunderten sich über die Aufregung. Schließlich sei Jerusalem seit der israelischen Staatsgründung vor 70 Jahren die Hauptstadt des Staates, egal was die Welt dazu sagt. Auch viele Juden in der Diaspora, die sonst kein gutes Wort über Trump verlieren, waren mit dieser Entscheidung einverstanden. Die Reaktion im Rest der Welt, die von scharfer Kritik bis lauter Empörung reichte, stieß bei der großen jüdischen Mehrheit auf tiefes Unverständnis.
Dabei täte es der israelischen Öffentlichkeit und allen Freunden Israels gut, die Gründe dieser Meinungsverschiedenheit zu erforschen und sie nicht einfach auf Unwissen, Antizionismus oder gar Antisemitismus zurückzuführen. Auch wenn Jerusalem de facto die Hauptstadt Israels ist, gibt es gute Argumente dafür, auf eine formale Anerkennung zu verzichten – auch im langfristigen Interesse Israels.
Die ewige und unteilbare Hauptstadt Israels
Dass Jerusalem für Juden ein so emotionales Thema ist, liegt am religiösen und religiös-historischen Stellenwert der Stadt. Doch das teilt sich das Judentum mit dem Christentum und dem Islam. Deshalb galt es beim UN-Teilungsplan 1947 als zwingend, Jerusalem keiner Seite zuzusprechen, sondern als „Corpus separatum“ unter internationale Kontrolle zu stellen. Der Unabhängigkeitskrieg 1948/9 schuf eine andere Realität: Jerusalem wurde geteilt, und Israel erklärte den Westteil zu seiner Hauptstadt. Hätte es je eine Friedenslösung in diesen Grenzen gegeben, wäre dieser Anspruch heute völkerrechtlich wohl unbestritten. Aber auch für Israel war die Teilung, die Juden den Zutritt zur Altstadt und zum Kotel, der Klagemauer, verwehrte, zutiefst unbefriedigend.
Nach der Eroberung Ostjerusalems im Sechstagekrieg 1967 wurde Jerusalem vereinigt, die Kommunalgrenzen weit über das eigentliche Stadtgebiet hinaus ausgedehnt und die gesamte Stadt zur Hauptstadt Israels erklärt – einschließlich eines Ostjerusalem, in dem die arabische Bevölkerung bis heute die überwältigende Mehrheit der Bewohner stellt und das die größte Stadt des Westjordanlandes ist. Bis auf die jüdischen Siedlungsgebiete, die in die Stadt durch eine nationalistische Politik hineingepflanzt wurden, ist Ostjerusalem in der Realität genauso wenig israelisch wie Ramallah oder Gaza. Die seit 1980 offizielle israelische Position – ein vereintes Jerusalem ist die ewige und unteilbare Hauptstadt Israels – ist eine politische Fiktion, die selbst von der Trump-Regierung nicht anerkannt wird.
Denn auch in den Stellungnahmen aus Washington ist nie von einem vereinten Jerusalem die Rede. Die USA bleiben auf dem Standpunkt, dass die Grenzen der Stadt erst in einem Friedensprozess festgelegt werden müssen. Das Jerusalem, das Trump nun anerkannt hat, ist daher nicht die gleiche Stadt, die Israel für sich als Hauptstadt beansprucht. Deshalb konnten US-Diplomaten auch nicht erklären, worin die neue Position zu Jerusalem nun eigentlich besteht.
Für viele Israelis ist das reine Wortklauberei. Selbst wenn sie eine Zweistaatenlösung unterstützen, ist für sie eine neuerliche Teilung Jerusalems unvorstellbar. Zwar war die Zukunft der Stadt ein Thema der Friedensverhandlungen mit der PLO in den 1990er-Jahren, aber zu mehr als einem symbolischen Zugeständnis, indem etwa der arabische Vorort Abu Dis zu einem Teil Jerusalems erklärt und dort eine palästinensische Hauptstadt eingerichtet wird, war auch die damalige Linksregierung nicht bereit. Was immer die politische Lösung sein möge, die Stadt dürfe nicht wieder geteilt werden.
Doch das ist, wie schon gesagt, ein Mythos: In der Realität gibt es kein vereintes Jerusalem. Und während in der christlichen Welt der formale Status der Stadt keine große Rolle spielt, ist dieser für Muslime in aller Welt eine Frage von höchster symbolischer Bedeutung. Dass Mekka und Medina im Islam noch etwas heiliger sind, tut nichts zur Sache: Jerusalem ist ein Ort, der mit der Geschichte des Propheten Mohammed eng verknüpft ist, die Al-Aksa-Moschee eine der heiligsten Stätten. Dass der Tempelberg seit 1967 unter islamischer Verwaltung steht, sollte aus israelischer Sicht diesem Anspruch genügen. Das tut es aber selbst für moderate Muslime nur, solange der Status quo ein Provisorium ist.
Strategische Achillesferse
Den meisten Arabern ist es heute recht gleichgültig, wie es den Palästinensern geht und ob sie je einen eigenen Staat bekommen. Das hat die Politik der arabischen Welt seit 1948 deutlich gezeigt. Aber dass ganz Jerusalem, einschließlich der Altstadt und des arabischen Ostteils, ein souveräner und international anerkannter Teil des Staates Israels wird, das würden nur ganz wenige Muslime je akzeptieren. Und dagegen zu kämpfen wären Millionen bereit.
Das macht Jerusalem für Israel zu einer strategischen Achillesferse. Die langfristige Sicherheit des Staates hängt von drei Faktoren ab: militärischer Stärke, dem Bündnis mit den USA und der zumindest passiven Akzeptanz durch die arabisch-islamische Welt. In den vergangenen Jahren hat das Land bei der Suche nach Anerkennung große Fortschritte gemacht. So manches sunnitische Regime sieht den jüdischen Staat inzwischen als Verbündeten gegen den schiitischen Iran. Dass der Friedensprozess mit den Palästinensern stockt und Israel durch den Siedlungsbau eine Zweistaatenlösung untergräbt, scheint kein Hindernis mehr zu sein. Aber alles, was den Status quo von Jerusalem einzuzementieren droht, und sei es nur eine neue Position der USA, ist es sehr wohl. Das bringt die Massen auf die Straßen, das macht jeden noch so mächtigen arabischen Staatschef, der mit Israel kooperieren will, verwundbar.
Eine Friedenslösung mit den Palästinensern, bei der Ostjerusalem nicht zur Hauptstadt Palästinas wird und die eine für beide Seiten befriedigende Regelung für die Altstadt enthält, wäre für Israel so gut wie wertlos; denn sie hätte in der islamischen Welt keine Legitimität. Israel würde territoriale und politische Zugeständnisse machen, ohne das zu erhalten, was es langfristig für seine Sicherheit will und braucht: die Akzeptanz seiner Existenz und seiner Unversehrtheit durch die Nachbarn und die gesamte muslimische Welt.
Ob dies je gelingen wird, ist unsicher. Aber Israelis sowie Juden in der Diaspora müssen sich bewusst sein, dass das Ziel ohne einen Kompromiss zu Jerusalem unerreichbar ist. Den zu finden ist schwer genug. Jerusalem müsste zwar formal geteilt werden – im Sinne des englischen Wortes „shared“ –, aber nicht gespalten („divided“). Denn natürlich darf kein Stacheldraht mitten durch die Altstadt führen. Um das zu verhindern, braucht es einen echten nachhaltigen Frieden. Und der ist nur möglich, wenn Israel auf den Ostteil und die vollständige Souveränität über die Altstadt verzichtet.
Die Jerusalem-Frage ist das, was Sozialwissenschafter als Trilemma bezeichnen. Es gibt drei Ziele, von denen immer nur zwei erreichbar sind: eine vereinte Stadt, ein nationaler Anspruch als Hauptstadt und ein nachhaltiger Frieden. Vereint und im Frieden kann Jerusalem nur in einem binationalen israelisch-palästinensischen Staat sein – ein Albtraum für die meisten Israelis. Als Hauptstadt in einem Friedensvertrag anerkannt wird nur das jüdische Westjerusalem werden. Und solange Israel auf einer vereinten und unteilbaren Hauptstadt besteht, kann es keinen nachhaltigen Frieden geben. Daran hat auch Trumps Kehrtwende nichts geändert.
Zitat:
Auch wenn Jerusalem de facto die Hauptstadt Israels ist, gibt es gute Argumente dafür, auf eine formale Anerkennung zu verzichten – auch im langfristigen Interesse Israels.