Das Judentum ist vor allem dann vielschichtig und komplex, wenn es um heikle Themen geht, die für Nicht-Juden oft schwer verständlich sind. Die Homosexualität ist ein solches heißes Eisen. Ein Gespräch über gleichgeschlechtliche Liebe mit Lior Bar-Ami, Rabbiner der Wiener liberalen jüdischen Gemeinde Or Chadasch.
NU: Im Buch Levitikus wird die Homosexualität unter Männern verurteilt, ja sogar die Todesstrafe angedroht. Die Mischna bekräftigt diese Drohung der Bibel. Das liberale Judentum hat weltweit dazu eine offene Haltung gefunden. Wie wird das religiös begründet?
Lior Bar-Ami: Zunächst einmal gilt es zu bedenken, dass die Tora das Konzept der Homosexualität, also die Liebe und Zuneigung zwischen zwei Menschen des gleichen Geschlechts, nicht erwähnt. Wenn wir die Verse im Buch Levitikus genau lesen, dann ist der Analverkehr zwischen zwei Männern das Einzige, was die Tora verbietet, aber nicht ihre Liebe zueinander. Weiters müssen wir die Geschlechterrollen der Tora verstehen. Im toraitischen Verständnis ist der Mann der aktive Partner und die Frau die passive Empfangende. Es sind stets Männer, die den Geschlechtsakt initiieren. Somit ist für die Tora die anale Penetration zwischen zwei Männern auch eine Umkehrung der Rollen, ein Partner wird sozusagen zur Frau.
Auch müssen wir den Kontext verstehen, in welchem diese Verse stehen. Die Tora sagt, dass diese Praxis eine „Toëwa“, ein Gräuel, ist. Das Wort „Toëwa“ finden wir mehr als hundertmal in der hebräischen Bibel. Es steht fast ausschließlich im Zusammenhang mit nichtisraelitischen Praktiken des Götzendienstes, und im Buch der Könige finden wir sogar eine konkrete Verbindung des Wortes zur männlichen Tempelprostitution anderer Völker, denen Israel nicht folgen soll (1. Kön. 14,24). Somit können wir diese Verse auch so verstehen: Die Verse in Levitikus sind ein Verbot des Analverkehrs zweier Männer, wenn er im Kontext des Götzendienstes stattfindet. Dieses sind zwei Lesarten der Verse in Levitikus – das Wichtigste ist jedoch, dass die Tora das heutige Verständnis der Homosexualität nicht erwähnt.
Was bedeutet das für das liberale Judentum?
Das liberale Judentum interpretiert die Tora und die halachischen Werke zusammen mit den Erkenntnissen von heute. Die Erkenntnisse der Biologie, Soziologie und Psychologie, die belegen, dass Homosexualität eine normale Variation der menschlichen Sexualität ist, sowie der gesellschaftliche Wandel hin zur Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Paare und verschiedener Gender-Identitäten werden vom liberalen Judentum angenommen und in die Auslegung hineingenommen. Aber es bedurfte natürlich eines Prozesses hin zur heutigen Offenheit. Bereits in den 1960er Jahren setzten sich die Women for Reform Judaism und der Central Council of American Rabbis (CCAR) für die Entkriminalisierung der Homosexualität ein, aber es hat bis 2013 gedauert, dass die CCAR gleichgeschlechtliche und heterosexuelle Paare in der Eheschließung vollkommen gleichgestellt hat.
Wie können homosexuelle Juden in ultraorthodoxen Gemeinden „überleben“? Oder anders gefragt: Gibt es Homosexuelle in Mea Schearim?
Natürlich gibt es LGBTIQ* Personen in jeder Bewegung des Judentums. In der Ultraorthodoxie ist es freilich viel schwieriger für Menschen, die gleichgeschlechtlich empfinden, bzw. deren Gender-Identität nicht mit ihrem Geburtsgeschlecht übereinstimmt. Ein Coming-out führt in vielen Fällen zu einem Ausschluss aus der Familie und aus der Gemeinschaft, was sehr schmerzhaft ist. Auch heiraten Menschen in den Gemeinden sehr früh und bekommen Kinder. Das heißt, dass es zumeist auch zur Scheidung und zu einer Kontaktsperre zu den Kindern kommt.
Viele machen diesen Schritt, auch wenn er schmerzhaft ist, damit sie vollkommen sie selbst sein können. Wieder andere leben ihre sexuelle Orientierung heimlich aus.
Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es auch ultraorthodoxe Jüdinnen und Juden gibt, die dem Thema offen gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür ist mein Kollege und Freund Rabbiner Mike Moskowitz, der ultraorthodoxer Rabbiner ist, aber in einer der größten LGBTIQ* Synagogen der USA arbeitet und sich für die Akzeptanz von Menschen verschiedener sexueller Orientierungen und Gender-Identitäten einsetzt.
Gemeinsam mit den evangelischen Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften haben Sie vergangenen Juni mit Or Chadasch unter dem Motto „Religions for Equality“ an der Europride teilgenommen. Was hat Sie dazu bewegt?
Wir haben gemeinsam die Initiative „Religions for Equality“ gegründet, um uns offen für die Akzeptanz verschiedener Lebensformen in unseren Religionsgemeinschaften und der Gesellschaft im Allgemeinen einzusetzen. Oft werden LGBTIQ*-Personen im Namen der Religion bzw. im Namen der Religionsgemeinschaften diskriminiert, daher war es uns ein besonderes Anliegen, offen als religiöse Gemeinde dafür einzutreten und uns Intoleranz und Diskriminierung entgegenzustellen. Die Resonanz war überwältigend, und auch heuer planen wir wieder an der Regenbogenparade teilzunehmen.
Akzeptiert das liberale Judentum gleichgeschlechtliche Partnerschaften bzw. die Ehe homosexueller Paare? Können sich homosexuelle Paare bei Or Chadasch trauen lassen?
Ja, das liberale Judentum akzeptiert Menschen, ihre Partnerschaften und ihre Familien in all ihrer Vielfalt. Wie ich bereits erwähnte, entschied die CCAR im Jahr 2013, gleichgeschlechtliche und heterosexuelle Paare gleichzustellen. So finden sich in der Agenda für rabbinische Kasualien auch Texte für gleichgeschlechtliche Paare oder solche mit verschiedenen Gender-Identitäten. Auch im konservativen Judentum können Menschen gleichen Geschlechts heiraten. In diesem Verständnis stehen auch wir als jüdische liberale Gemeinde, und ich traue gleichgeschlechtliche Paare.
Sie selbst machen aus Ihrer Homosexualität kein Geheimnis, gehen offen damit um. Hat Ihnen das jemals Probleme als Rabbiner, Unverständnis in Ihrer Gemeinde oder im Umgang mit der orthodoxen Gemeinde Wiens beschert?
Die liberale Bewegung und liberale Gemeinden stehen allen Menschen offen, sie akzeptieren die menschliche Vielfalt, somit kann ich als offen schwuler Mann Rabbiner sein und auch amtieren. Nur selten kam es zu Diskriminierung und Ablehnung; ich habe eher das Gefühl, dass viele Menschen es schätzen und gerade aufgrund des offenen und modernen Verständnisses des Judentums und unserer Tradition Gemeindeglieder bei uns sind, da sie hier sein können, wie sie sind.