Das von Viktor Orbán ausgerufene Holocaust-Gedenkjahr 2014 ist nichts anderes als die Fortsetzung eines umfassenden nationalistischen Revisionismusprojekts. Der Boykott durch die ungarischen jüdischen Gemeinden und internationale Proteste lassen die Regierung kalt.
VON DAVID RENNERT
Es war kein Zufall, dass die Vollversammlung des Jüdischen Weltkongresses (WJC) im Mai des vergangenen Jahres nicht wie üblich in Jerusalem tagte. Um ein Zeichen gegen den wachsenden Antisemitismus in Ungarn zu setzen, fiel die Wahl des Tagungsorts auf Budapest. WJC-Präsident Ronald Lauder begründete damals die Entscheidung damit, dass sich das Land mit der drittgrößten jüdischen Gemeinde der Europäischen Union unter Premierminister Viktor Orbán auf einem gefährlichen Kurs befinde: Der einst pragmatische Konservative Orbán habe seinen politischen Kompass verloren, Ungarn sei unter seiner Führung romafeindlicher und antisemitischer geworden.
Tatsächlich sind Antisemitismus und Antiziganismus in Ungarn weit verbreitet: Das Land belegt bei vergleichenden Länderstudien regelmäßig Spitzenplätze. Laut einer vom Verband Jüdischer Glaubensgemeinden in Ungarn (Mazsihisz) beauftragten repräsentativen Studie von Anfang 2014 sind antisemitische Einstellungen unter rund 40 Prozent der Bevölkerung verbreitet, sieben Prozent unterstützen demnach sogar extreme antisemitische Stereotype. Beinahe zwei Drittel würden wiederum nicht akzeptieren, dass sich im Freundeskreis ihrer Kinder Roma befänden. Die Autoren sprechen mit Blick auf frühere Studien von einem signifikanten Anstieg – und einem klaren Zusammenhang mit dem Einzug der rechtsextremen, rassistischen und offen antisemitischen Partei Jobbik ins ungarische Parlament im Jahr 2010.
Jobbik auf dem Vormarsch
Seither legten die extremen Rechten, die in der Tradition der faschistischen ungarischen Pfeilkreuzler stehen, weiter zu. Bei den Parlamentswahlen Anfang April 2014 kam Jobbik auf 20,22 Prozent der Stimmen und konnte ihre Position als drittstärkste Partei weiter ausbauen. Der Weg dorthin wurde durch die gesellschaftliche Tendenz zu Nationalismus, völkischem und autoritärem Denken seit den 1990er- Jahren aufbereitet – mit tatkräftiger Unterstützung der Regierungspartei Fidesz unter Orbán. Denn sie war es, die in den vergangen Jahren mit außenpolitischem Revanchismus, innenpolitischem Demokratieabbau und Maßnahmen zur Geschichtsfälschung verstärkt auf eine ungarische „Volksgemeinschaft“ setzte. Immer wieder fielen Fidesz-Vertreter mit unverhohlen antisemitischen Tönen auf, vor allem aber mit der Verklärung des protofaschistischen, autoritären Regierungssystems unter Miklós Horthy (1920 bis 1944) und einer historischen Täter-Opfer-Umkehr.
Horthy erließ bereits 1920 die ersten antisemitischen Gesetze, als Verbündeter Hitlerdeutschlands beteiligte sich Ungarn unter seiner Herrschaft 1941 am Überfall auf Jugoslawien und die Sowjetunion. Im selben Jahr deportierten die ungarischen Behörden mindestens 18.000 als „ausländisch“ definierte Juden in das von NS-Deutschland besetzte ukrainische Kamenez-Podolsk, wo die Nationalsozialisten das bis dahin größte Massaker des Holocaust anrichteten. Die Deportation von 437.000 ungarischen Juden unter der Aufsicht Adolf Eichmanns zwischen Mai und Juni 1944 wäre ohne die volle Kollaboration der ungarischen Behörden nicht möglich gewesen. Auf internationalen Druck ließ Horthy die Deportationen dann stoppen, was zweifelsfrei seinen Handlungsspielraum und damit seine Mitverantwortung auch nach der deutschen Besetzung im März 1944 aufzeigt. Seit Jahren arbeitet die Regierung Orbán nun schon aktiv an der Revision dieses unrühmlichen Kapitels der ungarischen Geschichte – etwa durch die Einweihung zahlreicher Horthy-Denkmäler und Finanzierung revisionistischer Forschungsprojekte. Die Überschneidungspunkte mit der rechtsextremen Jobbik sind dabei zahlreich – nicht zuletzt, um das radikale Wählerpotenzial nicht kampflos aufzugeben.
PR-Maßnahmen
„Wir haben eine moralische Pflicht zur Nulltoleranz gegen Antisemitismus“, beteuerte Orbán in seiner mit Spannung erwarteten Rede vor dem WJC in Budapest. Ansonsten bemühte er sich, zu beschwichtigen und die Situation in seinem Land kleinzureden: Im Unterschied zu anderen Ländern gebe es in Ungarn schließlich keine Anschläge auf Synagogen, außerdem sorge man dafür, dass der Holocaust nicht in Vergessenheit gerate. Mit keinem Wort erwähnte er die rechtsextreme Jobbik, die noch am Vortag lautstark antisemitische Proteste gegen die Abhaltung der WJCTagung in Ungarn abgehalten hatte. „Wir Ungarn sind keine Antisemiten, wir sind nur etwas Besonderes, weil wir die einzigen in Europa sind, die Israel nicht die Füße lecken“, ließ deren Parteichef Gábor Vona wissen. Und er forderte die ungarischen Juden auf, „sich für die Morde an Ungarn zu entschuldigen“, die angeblich jüdische Kommunisten begangen hätten.
Die internationale Presse war denkbar schlecht, die ungarische Regierung steuerte dagegen – und überraschte ihre Kritiker: Sie erklärte das Jahr 2014 zum Holocaust-Gedenkjahr. Angesichts des 70. Jahrestags der Deportation der ungarischen Juden wurden zahlreiche Initiativen gestartet: Unter anderem sollten landesweite Gedenkfeiern stattfinden, Synagogen renoviert und ein neues Holocaust- Gedenkzentrum im Bahnhofsgebäude der Budapester Josefstadt eingerichtet werden. Doch die positive PR war nicht von langer Dauer, das staatliche Gedenkjahr wurde binnen kürzester Zeit von historischen Provokationen und skandalösen Aussagen überschattet und entpuppte sich als Farce. Begonnen hat das Gedenkjahr zwar tatsächlich mit flächendeckenden Gedenkveranstaltungen. Allerdings nicht für die Opfer des Holocaust, sondern für die 1942/43 in der Sowjetunion gefallenen ungarischen Soldaten. Den Überfall auf die Sowjetunion interpretierte der Verteidigungsstaatssekretär Tamás Vargha dabei wie folgt: „Auf fernen russischen Schlachtfeldern haben ungarische Soldaten ihre Heimat verteidigt.“
Fremdenpolizeiliche Maßnahme
Ebenfalls im Jänner kündigte die Regierung die Schaffung eines staatlichen Geschichtsforschungsinstituts mit dem bezeichnenden Namen Veritas an. Dessen erklärte Zielsetzung: „Das nationale Selbstwertgefühl wiederherzustellen, den Zeitraum zwischen den zwei Weltkriegen neu zu erforschen und die Ereignisse der ungarischen Geschichte in einem etwas anderen Geiste darzustellen.“ Offenkundig geht es also um eine Neuschreibung der Horthy-Ära und der ungarischen Beteiligung am Holocaust – im Sinne des „nationalen Selbstwertgefühls“. Der Leiter des neuen Instituts, Sándor Szakály, beseitigte gleich selbst alle Zweifel daran, als er Horthy von der Verantwortung für den Massenmord in Kamenez-Podolsk freisprach: Die „Abschiebung“ der Juden aus Ungarn sei lediglich eine „fremdenpolizeiliche Maßnahme“ gewesen. Der Militärhistoriker, der bereits mehrmals als historischer Sachverständiger zur Entlastung von NS-Kriegsverbrechern in Erscheinung getreten ist, wurde von der Regierung auch in Veranstaltungen des „Gedenkjahres 2014“ eingebunden.
Auch der nächste Skandal ließ nicht lange auf sich warten: Die Regierung kündigte die Errichtung eines Mahnmals zum Gedenken an die deutsche Besetzung Ungarns am 19. März 1944 auf dem Budapester Freiheitsplatz an. Wie die Pläne des nicht öffentlich ausgeschriebenen Denkmals zeigen, wird Ungarn dabei vom Erzengel Gabriel (in heller Bronze) mit gebrochenem Flügel in ikonenhafter Opferpose verkörpert. Aggressiv stößt der deutsche Reichsadler (in schwarzer Bronze) auf ihn herab, daneben prangt die Aufschrift: „Deutsche Besatzung Ungarns, 19. März 1944“. Dahinter stehen 13 Säulen, eine davon ist – im Hintergrund – der „Erinnerung an alle Opfer“ gewidmet. Ganze Arbeit also – im Sinne der revisionistischen Einzementierung des ungarischen Opfermythos.
Holocaust als „Schicksal“
Zahlreiche Intellektuelle, Wissenschafter und Vertreter jüdischer und zivilgesellschaftlicher Organisationen – innerhalb wie außerhalb Ungarns – verurteilten die Initiative scharf. In die Kritik gerieten auch die Pläne für das größte Vorhaben der Regierung: das unter dem Namen „Haus der Schicksale“ geplante staatliche Holocaust-Gedenkzentrum in der Budapester Josefstadt. „Dass hier der Holocaust als ‚Schicksal‘ aufgefasst wird, ist wohl ein bewusster Gegenentwurf zu Imre Kertész“, sagt Éva Kovács, Leiterin des Lehrstuhls für Forschungsgeschichte am Institut für Soziologie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften und Forschungsleiterin des Wiener Wiesenthal Instituts (VWI). Der ungarische Literaturnobelpreisträger Kertész verarbeitete in seinem weltbekannten Roman eines Schicksallosen unter anderem seine Erfahrungen in Auschwitz und Buchenwald. „Man kommuniziert damit, dass die Shoa das unvermeidbare Schicksal der Juden war“, so Kovács im Gespräch mit NU. In die inhaltliche Planung des Projektes seien weder jüdische Gemeinden noch die Öffentlichkeit eingebunden worden. Bisher war nur zu vernehmen, dass ein besonderer Fokus auf Rettern liegen soll, also auf mutigen Ungarn, die Juden versteckten und so vor der Deportation bewahrten. Die Befürchtung einer verzerrten Darstellung der Geschehnisse ist bei diesem Schwerpunkt naheliegend.
Auch die als mögliche Leiterin des Zentrums gehandelte Mária Schmitt erweckt Misstrauen. Sie verantwortet bereits das im Jahr 2002 ebenfalls von Orbán initiierte „Haus des Terrors“. Das Museum auf der berühmten Budapester Boulevardstraße Andrássy út entspricht nämlich ganz dem Geschichtsbild der Regierung: Der ungarische Nationalsozialismus erfährt eine starke symbolische Gleichsetzung mit dem Kommunismus, die Verbrechen der kommunistischen Ära sind in der Ausstellung jedoch massiv überrepräsentiert. Die Mitverantwortung des Horthy-Regimes an der Ermordung der ungarischen Juden kommt schlicht überhaupt nicht vor. „Es hat immer mehr den Anschein, als hätten wir es nicht mit einem, sondern mit zwei Gedenkjahren zu tun“, schreibt die Historikerin und Nationalismus- Expertin Mária M. Kovács in der Europäischen Rundschau. „Parallel zum Holocaust-Gedenkjahr ist nämlich eine zweite – inoffizielle – erinnerungspolitische Offensive zu beobachten, in deren Zentrum die Rehabilitierung von Miklós Horthy steht.“
„Ungartum“ und „Judentum“
Angesichts dieser Entwicklungen kündigte die wichtigste jüdische Organisation des Landes, der Verband Jüdischer Glaubensgemeinden in Ungarn (Mazsihisz) an, das staatliche Gedenkjahr bis auf weiteres zu boykottieren. Mazsihisz zeigte sich aber verhandlungsbereit: In einem Brief an die Regierung forderte der Verband, vom Bau des Besatzungsdenkmals und dem Projekt „Haus der Schicksale“ abzusehen und den Leiter des Instituts Veritas, Sándor Szakály, abzusetzen. Dann könne man wieder über eine Teilnahme der jüdischen Gemeinden sprechen. In seinem Antwortschreiben ging Orbán auf keine der Forderungen ein. Stattdessen ist dort von einem Dialog zwischen dem „Ungartum“ und dem „Judentum“ die Rede.
Die Regierung will der Kritik zum Trotz an allen Plänen für das Gedenkjahr festhalten. Einzig die Umsetzung des – unveränderten – Besatzungsdenkmals wurde auf nach der Parlamentswahl im April verschoben. Seit dem Baubeginn am Freiheitsplatz formieren sich dort regelmäßig Demonstrationen dagegen, die bereits mehrmals von der Polizei aufgelöst wurden. Zum Redaktionsschluss Anfang Juni stand der Eröffnungstermin noch nicht fest, er dürfte aber unmittelbar bevorstehen. Daran wird wohl auch der offene Brief von 30 jüdischen US-Senatoren und Kongressabgeordneten an die ungarische Regierung von Ende Mai nichts ändern. Sie appellierten, den Bau des Denkmals in der geplanten Form zu überdenken. Ein Denkmal, das an die Tragödie der Nazi-Besetzung Ungarns erinnere, dürfe nicht jegliche Mitverantwortung an der Deportation der ungarischen Juden negieren. Die Wahlergebnisse aber zeigen: In Orbáns Ungarn darf es das schon.