Marko Feingold, Überlebender mehrerer Konzentrationslager, unermüdlicher Zeitzeuge und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, ist noch immer täglich unterwegs, um sein Leben zu erzählen. Feingold setzt auf Verständigung und berichtet über sein Leben ohne Hass und trotz allem Schrecken mit viel Humor.
Von Danielle Spera (Interview) und Gabriele Seethaler (Fotos)
NU: Herr Feingold, Sie hatten vorgestern ihren 98. Geburtstag, ein herzliches Mazal Tov.
Feingold: Wir sagen „bis 120“, das haben die Salzburger schon von mir gelernt, aber da gibt es noch einen Zusatz: ja keinen Tag länger …
Sie sind gerade beim „March of the living“ die drei Kilometer von Auschwitz nach Birkenau mitmarschiert.
Es hat geregnet, es war kalt, aber es war wunderbar zu erleben, dass so viele junge Menschen so engagiert mitgemacht haben, dass sie so interessiert sind.
Was wird sein, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? Wie kann man die Shoah Ihrer Meinung nach vermitteln?
Es wird schwierig, aber viele dieser Zeitzeugenaussagen sind aufgenommen worden und daher für die Nachwelt erhalten geblieben.
Sie wurden 1913 geboren und haben als Kind sogar den Ersten Weltkrieg miterlebt.
Ich habe glücklicherweise ein sehr gutes Gedächtnis. Ich kann mich zwar nicht an meine Kinderjahre erinnern, aber doch an die Zeit unmittelbar danach. Als ich etwa zehn Jahre alt war, habe ich auf der Reichsbrücke einen Polizisten, der vorbeiging, unabsichtlich mit meiner Schultasche gestoßen. Er hat ein unglaubliches Theater gemacht und mich bis nach Kagran geschleppt auf die Wachstube. Ich wurde verurteilt und bekam eine Vorstrafe.
Das hatte aber nichts damit zu tun, dass Sie Jude sind?
Doch, er hat in mir einen Juden gesehen.
Haben die Eltern traditionell gelebt?
Wir haben koscher gelebt. Bis zu meinem 18. Lebensjahr haben wir alles sehr streng gehalten. Wir sind mit meinem Vater in das Bethaus in der Augartenstraße gegangen. Wir waren vier Geschwister – drei Buben und ein Mädchen. Nach der Grundschule habe ich meine Lehre gemacht. Bei der Pelzfirma M. Behrmann & Co. Ecke Taborstraße/ Kai. Der Chef ist bald nach Amerika emigriert.1932 unter Dollfuß ist der Export zum Stillstand gekommen und ich wurde entlassen. Ich fand in Österreich auch keine neue Arbeit mehr. Daher habe ich versucht, mit meinem Bruder als Vertreter etwas zu verdienen, wir verkauften hauptsächlich Bohnerwachs. Als ich einmal in ein Geschäft gehen wollte, um etwas zu verkaufen, wurde ich schon an der Türe angebrüllt „Bei Juden kaufen wir nichts!“ Wir haben daher unser Glück in Italien versucht.
Haben Sie Italienisch gesprochen?
Wir haben Italienisch auf der Straße gelernt und das in den verschiedensten Gegenden. Da die Familie in Wien war, sind wir immer wieder nach Wien gekommen. 1936 kam ein Telegramm meiner Schwester, dass unsere Mutter im Spital liegt. Ich habe meinen Bruder abgeholt und wir sind so schnell wie möglich nach Wien gefahren. Leider kamen wir zu spät, meine Mutter war schon tot und auch schon beerdigt. Ich habe in meinem Leben meine fünf engsten Verwandten verloren, konnte aber keinen davon beerdigen.
Wie ist es Ihnen in Italien als Jude ergangen?
In Italien war es kein Problem, Jude zu sein. Nur nach dem Tod meiner Mutter war es schwierig, einen Tempel zu finden, um Kaddisch zu sagen. Ich habe einem Polizisten gesagt ich suche eine „Chiesa per le ebrei“. Da hat der Polizist gesagt, ja gibt es denn so etwas überhaupt …
Das heißt, Sie lebten in einer gewissen Sicherheit …
Im Februar 1938 mussten mein Bruder und ich nach Wien, um unsere Pässe zu verlängern. Währenddessen hat Mussolini aber die Grenzen gesperrt, wir konnten also nicht mehr zurück. Wir wurden in der Wiener Wohnung unseres Vaters verhaftet, offenbar hat man nach ihm gesucht. Sie haben uns so behandelt, dass ich meine ersten beiden Zähne verloren habe. Nach einigen Wochen hat man uns entlassen, unter der Bedingung, Österreich sofort zu verlassen. Statt nach Italien sind wir in die Tschechoslowakei gefahren. Wenige Tage später wurden wir bei einer Kontrolle von der tschechischen Polizei verhaftet, weil die Pässe abgelaufen waren. Wir bekamen drei Wochen Polizeistrafe und die Option, nach Wien zu gehen oder nach Polen. Nun hatte ich gehört, dass es in Warschau Fälscher gab, die uns sofort neue Papiere machen würden.
Sie hatten also dann polnische Papiere?
Die Papiere haben dazu geführt, dass wir zum polnischen Militär hätten gehen sollen, dem sind wir ausgewichen, in die Tschechoslowakei. Mit der Besetzung durch Nazi-Deutschland waren wir dann eingekreist. Mein Glück war, dass ich durch Zufall auf dem Wenzelsplatz einen Bekannten aus Wien getroffen habe, der mittlerweile aber NS-Offizier war. Er hat mich nicht verhaftet, sondern mir Arbeit gegeben. Ich musste mit einem tschechischen Polizisten in die Wohnung von Menschen gehen, die geflüchtet waren und alles aufschreiben, was sich in den Wohnungen befindet. Für die Möbel haben wir Phantasiepreise eingesetzt. Als die SS-Leute draufgekommen sind, haben sie das als Sabotage eingestuft. Letztendlich sind wir nach Krakau verschickt worden und von dort nach Auschwitz.
Sie waren da immer mit Ihrem Bruder zusammen.
Ja. Zu Beginn. Wir mussten alles aus den Taschen ausräumen – das Geld hat der Kapo gleich weggenommen und erklärt, dass wir das nicht mehr brauchen, wir hätten ohnedies maximal drei Monate zu leben. Unsere Kleider kamen in einen Sack. Mein Gewand ging in den nächsten sechs Jahren von Auschwitz nach Neuengamme, nach Dachau, nach Buchwald, auch da waren die Deutschen gründlich! Nach dem 11. April 1945 habe ich den Sack mit meiner Kleidung wieder bekommen. Dann wurden uns die Haare geschoren. Danach kamen wir in Strafkompanie. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein Gas, die Häftlinge wurden erschlagen. Ich hatte die Nummer 11.966, im Lager waren aber höchstens 3.000 Häftlinge, das heißt, alle anderen sind bereits umgebracht worden.
Ihr Bruder ist aber aus Auschwitz weggebracht worden.
Für einen Transport nach Neuengamme sind noch halbwegs kräftige Häftlinge gesucht worden. Mein Bruder war besser beisammen als ich. Ich bin von einem Kapo zum anderen gelaufen und habe gebettelt, bis man mich mitverschickte. Es hat damals geheißen, es gibt schlechtes Klima: weil wir Häftlinge kein Fett hatten. Sobald ein Tropfen Regen fiel, fingen wir schon an zu zittern. Die Isolierschicht zwischen Haut und Knochen fehlte, dadurch spürte man die Kälte und Feuchtigkeit sehr stark. Der kalte Wind an der Nordsee in Neuengamme war furchtbar schmerzhaft. Man kommt ins Schwitzen und trotzdem fröstelt’s einen. Wir sollten den Seitenarm der Elbe regulieren – dort sollte eine Ziegelei gebaut werden. In Neuengamme war das Krematorium noch nicht fertig, man hat die Leichen jeden Tag nach Hamburg geschickt. Am Abend am Appellplatz wurde aussortiert. Da ich so abgemagert war, habe ich mich die ersten Tage versteckt. Das hat mir aber wenig genützt – ich bin nach Dachau gekommen.
Sie haben also mehrfache Transporte überlebt.
Auch so ein Wunder – mir sind schon buchstäblich die Gedärme aus meiner Körperöffnung gefallen. Ich musste sie ständig zurückdrücken. Trotz Hunger und Durst waren die zwei Tage Fahrt von Neuengamme nach Dachau – ohne Arbeit wie eine Erholung. Ich hatte wieder Glück, man hat mich durch meine Sprachkenntnisse zum Dolmetscher gemacht. Als man draufgekommen ist, dass ich Jude bin, wurde mir der Posten gestrichen. Dennoch ist wieder ein Wunder passiert: Ich bin in der Gärtnerei eingesetzt worden. Durch den Vitaminmangel habe ich aber Phlegmone bekommen, Wunden, die durch Vitaminmangel entstehen. Meine Wunden wurden immer schlimmer und ich kam zu den gehbehinderten Häftlingen.
Hatte das nicht schlimme Folgen?
Gehbehinderte Häftlinge wurden 1941 nach Buchenwald transportiert und sollten dann acht Kilometer bergauf ins Lager gehen. Ich weiß nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Ich war 14 Tage im Krankenrevier, dann wollte ein junger Arzt an mir eine Hautübertragung durchführen. Er suchte sich zwölf Häftlinge aus – einer davon war ich. Wieder ein Wunder: Als er uns in der Früh begutachtet hat, war meine Wunde plötzlich klein geworden, so hat er bei mir keine Operation durchgeführt. Alle anderen elf Häftlinge, bei denen Haut übertragen wurde, sind an Blutvergiftung gestorben. Ich musste mich wieder arbeitsfähig melden.
Waren Sie überhaupt dazu in der Lage?
Ich bin im Steinbruch eingesetzt worden und musste Steine schleppen. Durch viel Glück bin ich zur Fuhrkolonne gekommen. Wir sind „die singenden Pferde“ genannt worden. Denn wir mussten singen, während wir den Wagen gezogen haben. Ich habe mich auch gut durchgeschlagen, weil ich Häftlinge kennengelernt habe, die am Bahnhof von Weimar arbeiten mussten. Sie haben mir Zigarettenstummel mitgebracht, die habe ich umgefüllt in neues Papier und die Zigaretten gegen Brot getauscht.
Was ist mit ihrem Bruder, ihren anderen Familienangehörigen geschehen?
Mein Bruder ist am 15. Jänner 1942 gestorben. Mein Vater ist 1939 bei der Bombardierung von Warschau verletzt worden und im November 1939 gestorben. Ein Bruder ist als Flüchtling in Lemberg gelandet, ich weiß nur, dass er geheiratet hat, sein weiteres Schicksal ist uns unbekannt.
Sie haben dann die Befreiung von Buchenwald erlebt.
Kurz vor der Befreiung hat die SS noch versucht, das Lager zu räumen. Ich habe mich versteckt. Heute wird gesagt, dass die Häftlinge aus Buchenwald sich selbst befreit haben. Das ist stimmt einfach nicht. Die SS ist abgezogen und es war niemand da. Dann sind die Amerikaner gekommen. Bis heute ist mir unerklärlich, wie diszipliniert wir Häftlinge waren.
Wie sind Ihre Erinnerungen an die folgenden Tage?
Von den 28 Nationen, die in Buchenwald waren, sind 27 von ihren Heimatländern geholt worden. Viele sind alleine zu Fuß weggegangen. Die Österreicher wurden nicht geholt. Ich wollte nach Wien um möglicherweise Überlebende zu finden. Daher sind wir bei den Amerikanern vorstellig geworden. Drei Busse wurden konfisziert, mit denen sind 124 Österreicher unterwegs gewesen. Darunter auch die 30 Juden aus Wien. Wir sind über Salzburg, Linz gefahren und kamen an die Enns- Grenzzone. Dort hat man uns zurückgehalten, weil wir als Juden in Wien nicht erwünscht waren. Die Amerikaner bekamen den Befehl, uns nach Buchenwald zurückzubringen. Da sind dann einige Juden nicht mehr in den Bus eingestiegen …
Sie schon?
Ich bin gemeinsam mit fünf anderen Juden in Salzburg ausgestiegen. Wir quartierten und in der ehemaligen NS-Frauenschaft ein, ein Büro mit ein paar Zimmern. Von dem Fenster aus sah ich in die Franz- Josef-Kaserne, wo hunderte jüdische Flüchtlinge warteten, die noch viel schlimmer ausgeschaut haben als wir. Ich habe sofort versucht, bei der Organisation von Verpflegung mitzuhelfen. Wenige Tage später hat der Verwalter beschlossen, dass ich die Küche führen soll. Eines Tages kamen die Amerikaner und sagten, dass die Lager voll seien und wir die DPs (displaced persons) nach Italien bringen müssen. Ich bin zur Landesregierung gegangen und habe die notwendigen Fahrzeuge verlangt. „Entweder ich bekommen die Autos oder die Juden bleiben da.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen: „Wie viele brauchen Sie?“ Ich habe sechs Autos bekommen. So konnten 300 jüdische Flüchtlinge über den Brenner nach Italien gebracht werden.
Das heißt, die Stimmung gegenüber Juden in Salzburg war nicht gerade rosig.
Salzburg war die Hochburg des Antisemitismus. Ich war hier aber so eingesetzt, daher bin ich trotzdem geblieben. Israel war für mich kein Thema – dort waren zu viele Juden. Spaß beiseite: Ich war bis zum heutigen Tage immer mit Juden beschäftigt.
Dass Sie selbst mitgehen, war für Sie kein Thema, haben Sie sich in Salzburg so wohl, so willkommen gefühlt?
Ich habe mich nur als Helfer gesehen, nicht als Pionier. Da ich Österreicher bin, wusste ich, wie mit ihnen umzugehen ist. In der Zeit, wo ich diese Transporte durchführte, bin ich als Menschenschmuggler verachtet worden.
Nach Salzburg ist kaum jemand zurückgekehrt, Sie waren also Präsident einer Kultusgemeinde ohne Juden …
Von den ehemaligen Salzburger Juden sind nur drei Familien zurückgekommen. Wir sind seit 50 Jahren nicht in der Lage, für Juden eine Aufenthaltsgenehmigung zu besorgen. Momentan haben wir einen Juden, der seit mehr als sechs Jahren hier ist. Er kam zu uns mit einem Besuchervisum. Im ersten Jahr konnten wir ihm einen Aufenthalt besorgen. Am Magistrat hat man gesagt, wir sollen ihn als Seelsorger aufnehmen – aber das gibt’s bei Juden nicht.
Wie haben Sie die Politik der Nachkriegszeit in Österreich erlebt? Und später die Kreisky-Jahre, die Wiesenthal- Affäre?
Ich habe 1948 unter sehr großen Schwierigkeiten mit einem KZ-Kollegen die „Wiener Mode“ in Salzburg gegründet. Die Wirtschaftskammer legte mir auf, in der Umgebung meines künftigen Geschäfts die anderen Geschäftsleute zu befragen, welche Artikel ich führen darf. Ich hätte eigentlich nur Artikel verkaufen dürfen, die es nicht gab, sechseckige Eier zum Beispiel. Kreisky war den Österreichern sehr recht, mir als Jude nicht. Für Wiedergutmachungen hatte er kein Ohr und sein Verhältnis mit seinen Ministern gegenüber Wiesenthal war erbärmlich.
Die Phänomene Haider/Strache und Ihr Erfolg, macht Ihnen das Angst?
Mit Jörg Haider hatte ich eine gute Gesprächsbasis und bei der Gründung eines Jüdischen Kulturzentrums in Salzburg versprach er 800.000 Schilling. Ich bekam jedoch nur 400.000 Schilling. Von jüdischer Seite wurde dieses Verhältnis verachtet. Ich aber dachte mir, ich nehme ihm lieber das Geld für eine jüdische Einrichtung ab, damit ihm weniger für seine Propaganda bleibt. Mit diesem Geld haben wir die Ausstellung „Sag beim Abschied …“ in Salzburg finanziert und jüdische Studenten unterstützt, die während der Sommerzeit hier waren. Die Erfolge von Herrn Strache sehe ich als vorübergehend, weil er keine Taten vorweisen kann.
Wie beurteilen Sie die Situation in Salzburg heute, gibt es weniger Antisemitismus?
Der Antisemitismus in Salzburg hat sich seit 1945 nicht verändert, nur die Bevölkerungszahl ist auf das dreifache gestiegen. Eine Ansiedlung von Juden scheint mir persönlich auch von höchster politischer Stelle unerwünscht zu sein. Gleichzeitig erlebe ich die jungen Menschen, die zu meinen Zeitzeugen-Gesprächen kommen, in der jungen Generation ist ein ganz anderes Bewusstsein da. Altlandeshauptmann Katschthaler hat einmal gesagt, Herr Feingold, es ist sehr gut, dass sie immer anwesend sind, dadurch weiß die Politik, dass es sie gibt …
Was ist ihr Resümee, an Ihrem 98. Geburtstag?
Ich sehe mein Leben als Wunder, auch wenn andere meinen, dass es Zufälle waren.
MAX (MARKO) FEINGOLD
wurde am 28. Mai 1913 in Banská Bystrica in der heutigen Slowakei geboren und wuchs in Wien auf. Mit 14 begann er eine Lehre zum kaufmännischen Angestellten. Gemeinsam mit seinem Bruder Ernst war er in den 1930er-Jahren als Reisender unterwegs. Nach dem „Anschluss“ 1938 wurden die beiden verhaftet und es begann eine Odyssee: Sie flohen nach Prag, wurden nach Polen ausgewiesen, kamen mit falschen Papieren zurück. 1939 wurden sie ins KZ Auschwitz deportiert. Feingold überlebte sechs Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Seit 1945 lebt er in Salzburg. Zwischen 1945 und 1948 half er jüdischen Flüchtlingen bei der Flucht über die Alpen nach Palästina. 1948 wurde er Inhaber eines Modegeschäftes und Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg.