Schenya schüttelt den Kopf. „Ich darf nicht mit Juden spielen“, sagt er. (…) „Wer sind Juden eigentlich?“, frage ich und streiche lustvoll über die nach Farben geordneten Buntstifte. „Ich glaube, ich hab sie mal im Fernsehen gesehen. Die singen und tanzen sehr lustig und haben so geschlitzte Augen, oder?“ Meine Mutter legt den Pinsel weg und setzt sich sehr gerade auf. „Nein, mein Schatz“, sagt sie bestimmt. „Juden, das sind wir.“
Von Ruth Eisenreich
Nicht dass diese Entdeckung Mischka, die Protagonistin von Julya Rabinowichs autobiografisch gefärbten Debütroman Spaltkopf, besonders beeindrucken würde. Viel wichtiger für sie sind: ihre Familie und deren alte Geheimnisse, ihr Gefühl der Entwurzelung nach der überraschenden Flucht aus Russland, ihre Suche nach der eigenen Identität. In achronologisch angeordneten, oft beinahe filmisch wirkenden Momentaufnahmen und einem lapidaren Tonfall schildert Rabinowich das Leben Mischkas von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter. Die erwachsene Erzählerin verschmilzt mit dem erlebenden Kind und sieht selbstironisch auf eine Zeit zurück, in der ihr vieles rätselhaft erschien. Weitere Stimmen schalten sich ein und erzählen von Mischkas Familiengeschichte und dem titelgebenden Spaltkopf, einer Gestalt aus dem russischen Mythos, die die Gedanken ungehorsamer Kinder fressen und deren Seelen aussaugen kann – und die Julya Rabinowich selbst erfunden hat.
Mit der Herznovelle wollte sich Julya Rabinowich aus den beiden „Schutzhüllen der Migrationsliteratur und der jüdischen autobiografischen Geschichte“ befreien, sagt sie im Interview mit NU: „Für mich war ganz wichtig, ein Thema anzupacken, das mich komplett ausliefert. Die Vergötterung eines Arztes ist ein sehr gehasstes und verachtetes Thema in der Literatur.“
Die Herznovelle erzählt die Geschichte einer namenlosen Frau mittleren Alters, die sich nach einer Herzoperation in den Arzt verliebt, der im wahrsten Sinne des Wortes ihr Herz berührt hat. Sie beginnt, ihn zu stalken und bringt sich sogar in Lebensgefahr, um ihn wiedersehen zu können – ein verzweifelter Versuch, aus ihrem biederen Hausfrauenleben auszubrechen. „Ich denke, dass sehr viele Frauen nach wie vor in einer solchen Situation leben“, sagt Rabinowich im NU-Interview über ihre Protagonistin. „Das kriegt man nach außen hin nicht so mit. Diese Frauen haben gelernt, dieses äußerst veraltete und verstaubte System so zu präsentieren, dass es moderner wirkt, als es ist. Wenn man Desperate Housewives cool findet, dann ist auf eine erschreckende Art und Weise das Verstaubte im Coolen angekommen.“ In knapper Sprache, die immer wieder von lyrischen Passagen durchbrochen wird, schildert Rabinowich in der Herznovelle den Liebeswahn ihrer Protagonistin, in dem sich schließlich Traum und Realität nicht mehr unterscheiden lassen. Die Ironie, die den Spaltkopf auszeichnet, schimmert auch hier selbst in den hysterischsten Phasen der Protagonistin durch: „Ich übe mich im Herzjagen. Er ist leider schneller.“
Rabinowichs nächster Roman Erdfresserin soll 2012 erscheinen. Die Themen sind laut der Autorin „Illegalität, Reisen, eine moderne Odyssee“. Danach ist ein Theaterstück mit Aussagen von Politikern zum Thema Integration geplant. Im Juli 2011 wird Julya Rabinowich beim Bachmannpreis lesen.
Julya Rabinowich
Spaltkopf
Neuauflage im Deuticke Verlag
erscheint im Juli 2011
208 Seiten
17,90 Euro
Julya Rabinowich
Herznovelle
Deuticke, Wien 2011
157 Seiten
15,90 Euro