Von Erwin Javor
Wie jedermann weiß, gehe ich selten ins Theater. Aber neulich war ich dort und habe einen besonderen Abend erlebt. Arik Brauer, der kaum noch auftritt – leider –, hat einen denkwürdigen Abend gegeben. „A Gaudi war’s in Ottakring“. Brauer erzählte in Worten und Liedern, ohne Eitelkeit, ohne Larmoyanz, mit Weisheit und Humor, die gar nicht so lustige Geschichte seiner jungen Jahre. Er beginnt mit seinen ersten Erinnerungen, wie er 1934 als Fünfjähriger die Welt wahrnahm. Er erzählt aus der unbefangenen und unbeschwerten Perspektive des Kindes aus dem Vierer-Haus in Ottakring, das noch heute so wunderbar in ihm steckt. Da ist die Geschichte vom Stiefelwichser, der absolut kein Kinderfreund war und der die tiefste Schande erlebt, als er seinen Deutschen Schäferhund bei der Flucht vor einer Ziege beobachtet. Wir erfahren vom bezirksbekannten Säufer, dem „Spiritus“, Zielscheibe des Spotts aller Kinder, und er erzählt von seinem Vater, dem Schuhmachermeister, dessen Schuhe eine so feine Handwerkskunst waren, dass sie ihn, der im Lager ermordet wurde, noch um viele Jahre überlebten. Einen Moment später singt das einstige Ottakringer Arbeiterkind in perfektem Jiddisch das Lied, das sein Vater bei der Arbeit immer gesungen hatte: „Is gekimmen a najer Chasn davenen ojf Schabbes“ (ein neuer Kantor ist am Schabbat vorsingen gekommen). Das Lied rühmt die Kunst des neuen Kantors durch Vergleiche der Handwerker mit ihrer eigenen Profession. Damit vergaben sie das höchste Kompliment, das sie zu vergeben hatten – und ganz nebenbei beweist das Lied von „ajn Schneider, ajn Kowaltschickl, ajn Ballegule“ (einem Schneider, einem Schmied, einem Kutscher), dass Jiddisch eine eigenständige Sprache mit unvergleichlicher Wortgewalt ist.
Fast übergangslos, sanft, nur durch Beschreibung der Ottakringer, wie sie eben waren in ihrer kleinen Welt im Vierer-Haus, ohne Groll, ohne Bitterkeit, erinnert Brauer das Publikum dann an die Ausprägungen des Antisemitismus dieser Zeit. Allein in der Geschichte der Hausmeisterin, einer überzeugten Antisemitin, die ohne Bedenken bereit war, den „Judenschuster“ ans Messer zu liefern, aber gleichzeitig ihm selbst, dem „Judenbuam“, genauso ohne Umständ’, das Leben vor der SA rettete, werden die Grautöne der Realität plötzlich greifbar und erschüttern viel mehr als Shoah-Berichte, die ausschließlich das unfassbare Leid schildern. Brauer braucht keine historischen Wälzer und keine akademischen Analysen. Er erzählt von Menschen, die er erlebt hat in allen Facetten, differenziert und nuanciert. Auch seine Geschichte vom „Schlurf“ zeigt mit wenigen Worten, schlicht und umso nachdrücklicher zwei Seiten einer Medaille: Damals spielte noch nicht Arik, sondern Erich, der Ottakringer Bua mit dem Judenstern, mit den arischen Halbstarken Fußball. Plötzlich taucht die Hitlerjugend auf und will das Spiel mit Gewalt unterbinden. Daraufhin zieht einer der Fußballer ein Messer, baut sich vor den HJ-lern auf und sagt: „Wenn einer kicken kann, dann spielt er, du Oasch!“ Mindestens ebenso absurd, und darum so real wird es, wenn Brauer erzählt, dass er von dem Moment an, als er den Judenstern trug, nie wieder angegriffen wurde. Er durfte zwar nicht am Gehsteig gehen, aber die Wiener ließen ihn in Ruhe.
Nach dem Krieg hatten die Ottakringer ein neues Problem. Sie mussten die Nazi-Insignien loswerden. Nach einem hinreißenden Lied, „Was mach ma mit dem Hitler- Büd“, kommt Brauer in seiner Erzählung zum heutigen Israel, wo er seit vielen Jahren zum Teil lebt, und stellt fest: „Wir haben jetzt eine Armee wie jedes andere Land. Sie machen uns noch immer Probleme. Wir ihnen auch. Aber Seife werden sie nicht mehr aus uns machen.“
In diesem Moment hält das Publikum den Atem an. Und spätestens, allerspätestens, als er auf die Gegenwart Bezug nimmt und feststellt, „die Antisemiten heute sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren“, ist jedem im Theater klar: Wir haben eine ganz große Sternstunde erlebt.