Sie wurden doppelt zu Opfern, weil sie dem Terror der Nazis ausgeliefert waren. Nur wenige schafften die Flucht, denn niemand wollte sie aufnehmen. So blieben sie zurück, allein und ohne Zufluchtsort. Gisela Kaufmann war eine von ihnen.
Von Steffen Arora
Es muss wohl im Juli 1938 gewesen sein, als diese Aufnahme entstanden ist. Eine junge Frau hat erreicht, was zu dieser Zeit nur wenige Frauen schafften. Sie hat am 6. Juli 1938 an der Universität Graz zur Doktorin im Fach Germanistik promoviert. Dennoch wirkt sie auf dem Bild nicht glücklich, nicht stolz ob ihres Sieges über die verhärmten Konventionen einer Gesellschaft, die die ersten Schritte zum völligen Kollaps längst gesetzt hat. Stattdessen scheint sich Gisela Kaufmann an ihrer hart erkämpften Urkunde festzuklammern, sie scheint sich verstecken zu wollen vor dem, was ihr dort draußen droht. Gisela Kaufmann war blind und Jüdin. Und gut drei Jahre nachdem diese Aufnahme entstanden ist, war Gisela Kaufmann tot.
Über das Leben dieser außergewöhnlichen jungen Frau, die 1907 in Graz geboren worden war, ist fast nichts bekannt. Beinahe wäre die Erinnerung an sie völlig verblasst. Hätte nicht die Historikerin Barbara Hoffmann im Zuge der Recherchen für ihre Dissertation zum Thema „Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung: Blinde Menschen in der ‚Ostmark‘“ zufällig Spuren von Kaufmanns Leben entdeckt. Ein paar Zahlen, ein Name, ein Ort: das „Israelitische Blindeninstitut“ auf der Hohen Warte in Wien. Dort, wo heute das Bezirkspolizeikommissariat Döbling logiert, verstarb Gisela Kaufmann am 3. Oktober 1941. Zu diesem Zeitpunkt war aus der einst weltweit renommierten Einrichtung für Blinde und sehbehinderte Menschen ein überfülltes und würdeloses Heim für jene Jüdinnen und Juden geworden, die sich selbst nicht helfen konnten und auch niemanden mehr hatten, der dies tun hätte können. Unter der Leitung von Simon Heller und später Siegfried Altmann erlangte das „Israelitische Blindeninstitut“ Weltruf als fortschrittlichste Einrichtung seiner Art. Hier wurden Begriffe wie Self- Empowerment gelebt, bevor sie als solche erfunden waren. Doch Gisela Kaufmann erlebte eine andere Realität. Die Nazis hatten das Haus 1939 zur schieren Aufbewahrungsstätte für Blinde, Behinderte und Alte umfunktioniert. Ab 1941 begannen sie damit, die Bewohner zu deportieren und zu ermorden.
Die Historikerin Barbara Hoffmann hat das Schicksal Blinder jüdischer Herkunft in ihrer Arbeit behandelt. Denn die alltäglichen Schikanen trafen sie noch härter. Sie wurden ihrer Wohnungen beraubt und verloren damit ihr vertrautes Umfeld, was für Menschen ohne Sehvermögen eine regelrechte Katastrophe ist. Viele waren zudem auf sich allein gestellt. Denn eine Flucht war in der Regel unmöglich. Grund dafür waren die rigorosen Migrationsbestimmungen in den Aufnahmeländern. Blinde galten als nicht erwerbsfähig, daher stellte niemand Visa für sie aus, auch wenn es sich um flüchtende Jüdinnen und Juden handelte. Gisela Kaufmann ereilte genau dieses Schicksal. Ihre Geschwister waren bereits in den 1920er-Jahren nach Kanada ausgewandert. Kaufmann wollte 1938 mit ihrem Vater folgen. Doch während der Vater ein Visum erhielt, wurde es der Tochter verweigert, weil sie blind war. So ließ er sie notgedrungen zurück, auf sich allein gestellt und mit der Verfolgung durch das NS-Regime konfrontiert. Ein ungleicher und aussichtloser Kampf, den sie nur verlieren konnte. Doch sie nahm ihn auf.
Vieles in Kaufmanns Biografie ist bis heute ungeklärt. „Wir wissen nicht, wann sie erblindet ist“, sagt Historikerin Hoffmann. Am wahrscheinlichsten sei die These, dass die junge Frau während ihres Studiums ihr Sehermögen verlor. „Womöglich aufgrund eines Tumors.“ Die Historikerin konnte nur einen einzigen noch lebenden Verwandten Kaufmanns in Kanada aufspüren. Reuben Kaufmann, der Neffe von Gisela. Doch weil seine Eltern Österreich bereits in den 1920er-Jahren verlassen hatten, weiß er nur sehr wenig über seine Tante. Gesichert ist, dass Gisela Kaufmann von Graz nach Wien übersiedelte. Dort kam sie im einstigen Israelitischen Blindeninstitut unter, das die Nazis zu einem Heim umfunktioniert hatten. Die Lebensbedingungen im völlig überfüllten Haus müssen schrecklich gewesen sein. Viele der dort Untergekommenen waren alt, gebrechlich oder anderweitig beeinträchtigt und eigentlich auf Pflege angewiesen. Dazu kamen über 100 Blinde oder hochgradig Sehbehinderte. Dass auch in einer solch verzweifelten Situation der Hunger nach Leben dominiert, zeigt Gisela Kaufmanns Schicksal. Die junge Frau lernte im Haus auf der Hohen Warte einen gewissen Oskar Zeckendorf kennen. Er war 20 Jahre älter als sie und ebenfalls blinder Jude. Am 7. Mai 1941 heirateten die beiden. Woher Zeckendorf stammte, ist ungeklärt. „Ich konnte bislang keine weiteren Details zu seiner Biografie finden“, sagt Historikerin Hoffmann. Sie hofft, dass das Buch zu ihrer Dissertation, das im Dezember 2011 erscheinen wird, Menschen erreicht, die mehr zur Person Oskar Zeckendorfs oder Gisela Kaufmanns wissen. Denn die Opfer der Nazis vor der Vergessenheit zu bewahren, sieht Hoffmann als ein Ziel ihrer Arbeit.
Und die Historikerin hatte während ihrer fünf Jahre dauernden Recherche genau damit zu kämpfen: „Weil die Quellenlage zu diesem Thema sehr schlecht ist. Denn leider haben kaum Blinde jüdischer Herkunft die Naziherrschaft überlebt.“ In ihrer Dissertation, die im Mai dieses Jahres mit dem Emma Rosenberg Förderpreis der Universität Wien ausgezeichnet wurde, hat Hoffmann aber einen wichtigen Teil zum Bewahren und Aufarbeiten dieser Geschichte beigetragen. Wobei sie nicht nur das Schicksal Blinder mit jüdischem Hintergrund, sondern auch das der Kriegsblinden behandelt und auch die Geschichte jener, nicht jüdischer Blinden, die dem Regime mehr oder weniger treu ergeben waren. Hoffmann nennt sie „Akteure“. Die Nazis hätten gegenüber diesen Blinden einen „utilitaristischen Ansatz“ vertreten, sagt Hoffmann. Man wollte sie auf Linie bringen und für das Regime nutzbar machen. Nicht umsonst war Hitlers „Mein Kampf“ das meistgedruckte Buch in Brailleschrift im damaligen „Dritten Reich“.
Gisela Kaufmanns Spur verliert sich am 3. Oktober 1941. Knapp fünf Monate nach ihrer Hochzeit ist sie im Heim auf der Hohen Warte verstorben. Über die Umstände ihres Todes ist nichts bekannt. Ihr Ehemann, Oskar Zeckendorf, wurde am 24. September 1942 nach Theresienstadt deportiert, wo er am 28. April 1943 verstarb. In Wien erinnert heute ein Gedenkstein an 144 blinde Holocaustopfer. Wie man auf diese Zahl kam, weiß niemand. In der damaligen „Ostmark“, so schätzt Hoffmann, haben rund 200 Blinde jüdischer Herkunft gelebt sowie rund 20 „kriegsblinde“ Juden. Davon waren 120 im Jahr 1941 im Haus auf der Hohen Warte untergebracht. Was aus ihnen wurde, ist unklar oder nur in Bruchstücken überliefert. Ein Betroffener schrieb angesichts des Schicksals der blinden Juden unter dem Naziregime von „verlorenen Menschen“. Nun gilt es, sie nicht zu Vergessenen werden zu lassen.
Im Dezember 2011 erscheint im Studienverlag das Buch zur Dissertation von Barbara Hoffmann unter dem Titel:
Zwischen Integration, Kooperation und Vernichtung: Blinde Menschen in der „Ostmark“.
Leserinnen und Leser, die mehr zum Schicksal der hier genannten Personen wissen, können sich über die NU-Redaktion (office@nunu.at) mit ihr in Verbindung setzen.