Was dachten Wehrmachtssoldaten über den Holocaust? Die Protokolle abgehörter deutscher Kriegsgefangener legen es offen und liefern Erkenntnisse, die auch heute gültig sind.
Von Cornelia Mayrbäurl
Um mit der großen Ausnahme zu beginnen: „Grundsätzlich, diese ganze Rassengeschichte bei uns halte ich für verfehlt. Dass der Jude der Träger von grundsätzlich nur schlechten Eigenschaften ist, ist doch Wahnsinn“, sagt Infanterieoberleutnant Bentz am 16. April 1943. Er befindet sich in britischer Kriegsgefangenschaft und unterhält sich mit einem Luftwaffenoberleutnant namens Fried. Dass sie abgehört werden, wissen die beiden nicht. Fried erzählt von der Erschießung von 1500 Juden während des Polenfeldzugs und fügt hinzu: „Habe ich darüber nachgedacht, war doch unschön.“ Erst danach erfasst Bentz, was sein Gesprächspartner schon zuvor nüchtern festgestellt hat und fragt nach: „Was, Sie schossen mit?“
„Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ ist ein Buch, das auch jene berühren wird, die – weil ja schon so viel dazu gesagt worden ist – der Beschäftigung mit dem Holocaust müde sind. Der Historiker Sönke Neitzel und der Sozialpsychologe Harald Welzer werten darin Abhörprotokolle aus, die Neitzel in Londoner und Washingtoner Archiven aufstöberte. Diese sind, eben weil sich die gefangenen Wehrmachtssoldaten und SSMänner unter sich glaubten, eine Quelle von – im wahrsten Sinne des Wortes – unheimlicher Authentizität. Zweitens wählen die Autoren einen unüblichen Ansatz.
Sie bezeichnen es als verständlich, dass die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des „Dritten Reichs“ gewöhnlich durch das Prisma des Holocausts betrachtet werde. Methodisch sei dies aber komplett unsinnig. „Niemand würde auf die Idee kommen, die Biographie einer Person vom Ende her zu entwickeln … – einfach deshalb, weil Entwicklungen nach vorn, nicht aber nach hinten offen sind. Nur in der Rückschau scheinen sie alternativlos und zwangsläufig.“
Neitzel und Welzer analysieren die Protokolle daher in Bezug auf den sogenannten Referenzrahmen: die historischen, kulturellen und situativen Bedingungen, unter denen der Massenmord an den Juden stattfand, „also die Melange aus dem, was nach der ‚Machtergreifung‘ neu in die gesellschaftliche Praxis Deutschlands eingeführt wurde, und aus dem, was auch nach dem 30. Januar 1933 so blieb wie zuvor“. Alt war der Antisemitismus, neu war, dass Juden systematisch und quer durch alle Lebensbereiche als eine minderwertige Sorte Mensch gebrandmarkt oder ihnen die Menschlichkeit überhaupt abgesprochen wurde. Im Alltag unbemerkt, weil der Prozess in kleinen Schritten vor sich geht, im Ergebnis eine radikale Verschiebung normativer Standards.
Der Referenzrahmen entfaltet eine mächtige Wirkung. So begriffen die Soldaten der Wehrmacht am 22. Juni 1941, obwohl die Weichen für den Vernichtungskrieg längst gestellt waren, nicht, welcher Krieg ihnen bevorstand: Der Referenzrahmen „Krieg“ sah systematischen Massenmord zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht vor. Aber dieser Wirkung unterliegen auch die Opfer: „Viele der jüdischen Deutschen“, so die Autoren, „haben nicht die Dimension des Ausgrenzungsprozesses erkannt“, die Hitler schleichend, aber wirksam etablierte. Der zu Beginn zitierte Infanterieoberleutnant Bentz ist mit seiner Ablehnung der „Rassengeschichte“ unter allen abgehörten Soldaten der einzige, der sich diesem normativen Standard entzog. Das war auch deswegen so, weil für die Soldaten Verhalten und Standards ihrer Gruppe extrem wichtig waren, was Sebastian Haffner erkannt hatte: „Die Kameradschaft … beseitigt völlig das Gefühl der Selbstverantwortung.“ Zugespitzt: Das Kollektiv ist alles, das Individuum nichts.
Neitzel und Welzer nennen den Holocaust „ein gigantisches Realexperiment, wozu psychisch normale und ihrem Selbstbild nach gute Menschen fähig sind, wenn sie etwas innerhalb ihres Referenzrahmens für geboten… halten“. Denn psychologisch gesehen seien die Bewohner des nationalsozialistischen Deutschland so normal wie die jeder anderen Gesellschaft jener Zeit auch gewesen. Massenmorde gehen demnach nicht auf einen moralischen Verfall zurück, sie sind das Ergebnis der erstaunlich schnellen und tiefgreifenden Etablierung einer „nationalsozialistischen Moral“, die Volk und Volksgemeinschaft als Bezugsgrößen moralischen Handelns definiert. Wer einen Beweis dafür sucht, wie dünn der Firnis der Zivilisation ist, hat ihn hier.
Das ist noch nicht das Ende der unangenehmen Wahrheiten. Man müsse sich „von der Vorstellung freimachen, dass es bei Gesellschaftsverbrechen auf der einen Seite Täter gibt, die Verbrechen planen … und auf der anderen Seite Unbeteiligte oder Zuschauer, die in mehr oder weniger großem Umfang von diesen Taten ‚wissen‘. Mit solchen Personenkategorien kann der Handlungszusammenhang, der schließlich … in die Vernichtung führte, nicht angemessen beschrieben werden … Es gibt nur Menschen, die gemeinsam, jeder auf seine Weise … eine gemeinsame soziale Wirklichkeit herstellen. Die bildet zugleich den Referenzrahmen des ‚Dritten Reiches‘, also jenes mentale Orientierungssystem, mit dem die nichtjüdischen Deutschen jener Zeit deuten, was geschieht.“
In den abgehörten Gesprächen wird deutlich, dass praktisch alle wussten oder zumindest ahnten, dass die Juden umgebracht wurden. Aber meistens schildern die Soldaten die Gräueltaten aus der Beobachterperspektive, fast nie geht es um eine aktive Betätigung am Geschehen. Bestürzend ist, dass die Männer bei diesen Gewaltgeschichten nichts aus der Fassung brachte, so sehr hatten sie sich an die Gewalt in ihrem Alltag schon gewöhnt. Und bestürzend ist auch, dass die Soldaten das Thema Judenvernichtung schlicht und einfach nicht besonders interessierte – über Waffenund Bombentechnik führten sie viel öfter Diskussionen.
Die relativ wenigen Berichte sind aber sehr detailliert. Sie sind viel offener und noch nicht durch die Filter der Nachkriegslesarten gegangen – das Material spreche daher eine viel deutlichere Sprache als die „von Abwehr imprägnierten“ späteren Ermittlungsakten, merken die Autoren an. Das gilt auch für die Tatsache, dass die Abgehörten nach den Schilderungen von Massenerschießungen oft anmerken, diese würden sich rächen. Diese verkörperten also immerhin ein solches Maß an Grenzüberschreitung vom selbst im Krieg Erwartbaren, dass die Soldaten sich nicht vorstellen konnten, dass das Morden im Fall eines verlorenen Krieges folgenlos bleiben könne.
Trotzdem werden die Morde gleichzeitig in die Kategorie Schicksal eingereiht, so, als walte hier ein höheres Gesetz. Der Grundtenor lautet: Die Judenvernichtung ist sinnvoll, aber ihre Umsetzung ist schlecht. Die Beteiligten setzen sich mit den Modi des Tötens, nicht aber mit den Begründungen seiner Notwendigkeit auseinander. Zusammengefasst: Es muss ja wohl sein, aber doch nicht so! Hier sei, unterstreichen die Autoren, das völlige Unverständnis darüber schon angelegt, dass das, was man getan oder toleriert habe, falsch gewesen sei. Und das habe die deutsche Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre hinein geprägt.
Man könnte meinen, dass die Erklärung mittels Referenzrahmen verharmlost oder entschuldigt. Das wäre ganz gewiss ein falscher Schluss. Es geht darum, die Erkenntnisse des Buches aufzugreifen und im Kopf zu behalten. Alle Kriege, so stellen die Autoren fest, hätten gezeigt, „dass es unangebracht ist, sich darüber zu empören und zu wundern, dass Menschen sterben, getötet und verkrüppelt werden. Wenn Krieg ist, ist das so.“ Die Gewalt der Wehrmacht sei nicht „nationalsozialistischer“ als die britischer oder amerikanischer Soldaten. Trotzdem gibt es auch da eine Ausnahme: jene der Vernichtung von Menschen, „die selbst beim bösesten Willen nicht als militärische Bedrohung zu definieren sind“.
Sönke Neitzel und Harald Welzer
Soldaten
Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2011.
528 Seiten, 23,60 €