André Heller kennenzulernen, ist leicht und schwer zugleich. Seine 448 Seiten umfassende Biografie zu lesen ist eine gute Annäherung. Eines der zahlreichen Interviews, die er rund um die Präsentation der Biografie „Feuerkopf“ in Zeitungen, Funk und Fernsehen gab, zu lesen oder zu verfolgen, wäre ein andere Möglichkeit. Mit ihm spazierenzugehen ist eine etwas ungewöhnliche Methode, aber Heller nahm sich für NU an einem grauen Sonntagabend zwei Stunden Zeit.
Von Rainer Nowak (Text) und Verena Melgarejo (Fotos)
Was für jede Begegnung gilt, ist für die mit Heller die Grundvoraussetzung: alles vergessen, was man gelesen, gehört oder sich an (Vor-) Urteilen zurechtgelegt hat. Und suchen. Denn in Heller ist alles gut versteckt: Die Eitelkeit findet man in seiner Selbstkritik, den Charme in seinem Humor, seine Lebenserfahrung in leisen Ratschlägen, seine umfassende Bildung in kleinen Anekdoten und seine Treue zu Freunden und Überzeugungen in kontroversiellen Gesprächen.
Dieser Tage ist er emotional erschöpft, nicht so ausgelaugt oder niedergeschlagen, wie er das früher lange Jahre war, bevor er sich in einem quälenden Prozess der Eigen- Therapie mit sich ausgesöhnt hat, wie er sagt. Sondern in einer seltsam abgeklärten Art und Weise wirkt er geschafft. Endlich wurden fast alle seine Erfahrungen, seine Erfolge, Rückschläge, seine aktiven und passiven Verletzungen öffentlich gemacht. Was sich aufwühlend, mitunter noch immer missverstanden und in übertragenem Sinn nackt anfühlen muss. Das sagt Heller aber nicht so.
Heller macht mit NU das, was er schon immer gerne tat: Durch Wien spazieren, auf einer historischen Tour, die beginnt, wie viele Trips, durch die Stadt anfangen: subjektiv und persönlich, vom eigenen Palais in der Renngasse aus, in der einst die Pferde rennen mussten, um potenzielle Käufer zu überzeugen. Oder dann, wie es Heller formuliert, mit „einem Stück Vorstadt“ mitten in der Stadt, also der Wipplingerstraße, die trotz hoher Immobilienpreise und russischer Neo-Mieter mehr oder weniger so aussieht, als würden nur noch die Solarien und Wettbüros fehlen. Er spaziert zum versteckt liegenden Passauer Platz, wo in einem klaren 50er-Bau vor Jahren seine Lebensgefährtin Andrea Eckert wohnte, die sich auf einer großteils einsichtigen Terrasse manchmal wenig bekleidet sonnte, was er, Heller, nicht uneingeschränkt gut fand. In diesem Gebäude gegenüber der Kirche Maria am Gestade zogen einst einige heimkehrende jüdische Holocaust-Überlebende ein, wie Recherchen ergaben. Jahre später war das Haus Schauplatz eines Kalter-Krieg-Thrillers mit Lino Ventura und anderen Stars.
Heller nimmt bei dieser Geschichte schon die steile Stiege vom Passauer Platz zum Tiefen Graben und erzählt, dass die Stufen in seinen wilden alkoholischen Zeiten quasi die Prüfung für ihn und Helmut Qualtinger gewesen seien – wer noch sicheren Schritts sei. Es geht am Hotel Orient vorbei, dem längst kreuzbraven Stundenhotel, das einst für Heller und Freunde Austragungsort vieler Happenings und anderer sinnstiftender Aktionen war. Dass Hellers frühe Jahre immer gerne auf seine Café-Hawelka-Ära reduziert werden, in der die gesamte Denkerund Künstlerschaft des Landes vorkam, scheint Heller zu stören. Laut sagen würde er das freilich nicht, er steht selbstverständlich zu diesen Jahren und diesen Zeitgenossen. Zumal ihm eine Attitüde, die viele Intellektuelle Österreichs pflegen, fremd ist: Die Betonung auf die geistige Distanz zum „provinziellen Österreich“ hört man nie von ihm. Vermutlich weil bei ihm die geografische Distanz während seiner Monate langen Aufenthalte am italienischen Gardasee oder – schon bald – in den Bergen bei Marrakesch ohnehin häufig groß ist. Daher freut sich Heller auch höflich, an dem Sonntagabend unverhofft auf Dagmar Koller zu treffen, die „den Franzi“ freudig begrüßt, den Schreiber dieser Zeilen wegen einer längst vergangenen Unververfrorenheit der „Presse“ tadelt. Man plaudert, führt Schmäh und erzählt einander von den neuesten Auktionen in Wien, Koller sagt dann noch, dass sie sich ein bisschen rar mache, nicht mehr so viel in die Öffentlichkeit gehen will. Heller lächelt verständnisvoll. Auch er tritt de facto nicht auf, geht prinzipiell nie auf Veranstaltungen und sogenannte Events. Einzige Ausnahme: Wenn einer seiner engen Freunde und Mitstreiter ihn ruft. So wie nun Christian Seiler, der die autorisierte Biografie schreiben durfte und selbstverständlich auch die Einnahmen daran verdient.
Die beiden Punkte, die ihm in dem Buch persönlich wichtig sind: seine schwere seelische Verzweiflung, fast Erkrankung, seine schwierige Heilung und seine Wandlung zu einem Menschen, der weiß, dass er ständig an sich arbeiten muss, aber eben auch dabei scheitern darf, solange er es wieder versucht. Und: Die Mär vom Millionen-Erben des Zuckerl- Imperiums wird klar demontiert. Ja, Heller erbte – wesentlich weniger als oft angenommen – von seinem Vater. Nein, das ist nicht das Vermögen, das Heller heute seinen Lebensstandard erlaubt, sondern das er mit eigener Kraft erarbeitete. Das Erbe war dank eines nicht gerade erfolgreichen Filmprojekts bald aufgebraucht. Ob die Legende vom reichen jüdischen Erbe nicht auch ein antisemitisches Stereotyp sei? Heller: „Vielleicht auch ein wenig, aber es ist vermutlich vor allem der ganz normale Neid.“
Es geht weiter durch die Ferstel- Passage – „wenn ich so tun will, als sei ich in Mailand“ – und zu einem absurd-wienerischen Ort: Im Palais Harrach gibt es im hintersten Hof eine Grabstelle, nicht ein Habsburger oder alter Vindobona-Römer, sondern die Frau von Hauseigentümer Karl Wlaschek fand hier ihre letzte pompöse Ruhestätte. Apropos Tod: Beim Burgtheater angekommen erinnert sich Heller an mehrere Begräbnisse von Schauspielern des Hauses, die ein letztes Mal im Sarg um die vermutlich wichtigste kulturelle Institution der Stadt getragen wurden.
Nur ein paar Schritte weiter und wir stehen vor der politischen Zentrale des Landes. Nicht etwa der SPÖ- Parteizentrale, der Heller unter Laura Rudas schlicht gar keine Bedeutung mehr zumisst, sondern dem Kanzleramt. Zwar konstatiert er auch dort einen herben Verlust an politischer Bedeutung, Geisteskraft und Gestaltungswillen, aber zumindest hat er gute Erinnerungen. Als Alfred Gusenbauer Kanzler wurde, stand Heller oft unter dem Balkon des Kanzlerbüros und führte mit dem oben stehenden Freund laute Gespräche unter Einschluss der üblichen kleinen Gemeinheiten. Dass sein alter Freund wenig erfolgreich war, hatte Heller weder erwartet noch richtig verstanden. „Die Zeit war zu kurz“, lautet ein fast schon berühmtes Zitat Hellers. Zu kurz, um echte Reformen anzugehen, zu kurz, um die Partei von sich zu überzeugen, zu kurz, um eine echte Aufbruchsstimmung im Land zu erzeugen, mittels der auch unpopuläre, aber notwendige Maßnahmen möglich gewesen wären. Heller fühlte sich immer der SPÖ verbunden, aktuell ist die Liebe erkaltet. Mit Bruno Kreisky hatte der junge Heller zwar ein enges Verhältnis, wurde immer wieder zu Vier- Augen-Gesprächen gebeten und geladen, an der Haltung des „Alten“ gegenüber Israel, vor allem aber auch gegenüber Simon Wiesenthal übte Heller aber scharfe Kritik. Zurück zu Gusenbauer: „Er hat zum Amtsantritt das ganze Kanzleramt Raum für Raum besichtigt, dabei fand er auch das Zimmer, in dem das Attentat auf Engelbert Dollfuß stattgefunden hatte und in dem Gusenbauers Vorgänger Wolfgang Schüssel eine Kerze aufstellen hatte lassen, die täglich ausgewechselt wurde und dauernd brannte.“ Gusenbauer fand das unangemessen und ließ sie entfernen.
Eine Gasse weiter und wir stehen vor der faschistischen Vergangenheit der Familie Heller: In Räumlichkeiten im Gebäude der Minoritenkirche versammelten sich bis zum Einmarsch Adolf Hitlers die Mitglieder des Clubs der italienischen Faschisten Wien. Prominentes Mitglied: Der Jude Stephan Heller, Chef der gleichnamigen Zuckerlfabrik, persönlich bekannt mit Benito Mussolini und Gabriele d’Annunzio. Man versteht sich als deutlich avantgardistischer als die katholisch-verzopften Austrofaschisten. Heller senior verachtet das braune Nazi-Proletariat, das dann die Macht ergreift. Er wird verhaftet, entgeht Lager und vermutlich dem Tod nur durch eine persönliche Intervention Mussolinis. Er darf ausreisen, lässt seine nichtjüdische Frau Elisabeth und den erstgeborenen Sohn Fritz zurück. Er geht nach Frankreich, dort schließt er sich Charles de Gaulle und seinem Widerstand an, wird später indessen Londoner Exilregierung Verbindungsmann zum Weißen Haus. Nach 1945 kehrt er als dekorierter Sieger zurück. Jahrzehnte später findet Heller den Brief des Fliegers und abstrusen Kurzzeit-Mini- Staats-Gründer d‘Annunzio. Dass Heller heute seinen Paradies-Garten in Gardone hat, wo auch das Mausoleum und die Gärten des Faschisten- Helden stehen, ist eine schöne Ironie der Geschichte und der Beweis, dass Zufälle die besten Erzählungen liefern.
Dass Heller erst sehr spät erfuhr, dass er Jude ist, war wohl typisch für das Nachkriegsösterreich und prägte Heller. Der notorische Schulversager musste in eine teure, aber einfache Privatschule nach Bad Ausee, der Direktor war Obersturmbannführer der SS und rechte Hand des Massenmörders Ernst Kaltenbrunner gewesen. Doch Willhelm Höttl blieb – man kann fast schon schreiben: natürlich – unbehelligt und stellte den neuen Schüler wie folgt vor: „Das ist unser neuer Schüler. Er heißt Heller. Ihr setzt Euch besser nicht neben ihn, in seinen Adern fließt böses Blut.“ Heller spürte den Kampfgeist in sich wachsen, der ihn politisch bis heute antreibt und viel später zu einem der Initiatoren des Lichtermeers gegen das FPÖ-Ausländervolksbegehren machen sollte. Als in Bad Aussee auch noch ein Nazi-Treffen versammelter Burschenschafter ausgetragen wurde und Heller Gesänge hörte, dass die Gaskammern zu klein gewesen seien, fuhr Heller nach Graz. Dort marschierte er ins Büro des Landeshauptmanns und erklärte der Sekretärin, was in Bad Ausee vor sich geht und dass sie das dem Landeshauptmann sagen sollte. Der erfuhr es und informierte gleich den Direktor, der Heller bei dessen Rückkehr mit einem freundlichen „Trottel“ begrüßte. Doch der Trottel war dann Höttl, dem es nur um das Schulgeld ging. Er verlangte das deutsche Ehrenwort von Heller, dass dieser ein weiteres Jahr in die Schule komme, dann würde er auch ein positives Zeugnis bekommen: Heller gab es ihm und kehrte nicht mehr wieder.
Am Schluss landet die Spaziergangsrunde im Café Demel, das Heller gerne gekauft hätte. „Ich wollte immer eine Wiener Institution wie das Riesenrad oder den Demel besitzen.“ Und an dieser Stelle würde ich es nie wagen, Heller als eine solche zu bezeichnen.
NU startet eine neue Serie:
Unsere Autoren verbringen ein paar Stunden mit jüdischen Künstlern, Schriftstellern und Denkern unserer Zeit. Sie besuchen gemeinsam überraschende Orte und unternehmen unerwartete Ausflüge. Sie gehen Skifahren in den Salzburger Pongau, gehen in ein Konzert oder besuchen vielleicht ein Asylheim. Mit André Heller spazierte Rainer Nowak durch die Wiener Innenstadt zur Minoritenkirche, in dem einst der Club der italienischen Faschisten Wien untergebracht war. Prominentes Mitglied: Stephan Heller, Zuckerl-Fabrikant, glühender Anti-Nationalsozialist und kein einfacher Mann. Und der Vater von André Heller. Dieser feierte gerade 65. Geburtstag und eine umfassende Biografie, die der Journalist Christian Seiler verfasst hat.