Juden in Serbien. Ein Lokalaugenschein und ein Rückblick in die Geschichte der 3000 serbischen Juden und ihrer drei größten Gemeinden: Belgrad, Novi Sad und Subotica.
Von Ida Labudovic
Der Sommer hat gerade in Belgrad begonnen und die Altstadt riecht nach Lindenblüten. Wie üblich legt der orthodoxe Oberrabbiner Serbiens Isak Asiel seinen täglichen Weg von der Synagoge ins Gemeindezentrum zu Fuß zurück. Er ist Ende vierzig, hat den Charme eines typischen Belgrader Intellektuellen und ist immer bereit, sich auf ein Gespräch einzulassen. Man erkennt ihn auf der Straße an seiner Kippa, eine Seltenheit in der Hauptstadt Serbiens, wo er geboren wurde. Sein Weg ist jener Weg in der Stadt, der sich im letzten Jahrhundert nicht verändert hat. Und einer, dessen Gassen, Gebäude und Denkmäler die Geschichte der Belgrader Juden tragen.
Von den Treppen, die aus der Fußgängerzone zur Synagoge „Sukat Šalom“ führen, bekommt man einen ersten Einblick in die Synagoge: Ein schlichter und eleganter Bau, vorne der Hof mit Bäumen. Durch die moderne Beleuchtung bekommt die Synagoge ein mystisches Flair. In der Umgebung ist es laut und voll mit Menschen, denn am Balkan spielt sich das Leben auf der Straße ab. Der Eingangsbereich in den Hof der Synagoge beginnt, sich mit jungen Leuten zu füllen.
Das Ethno-Fusion-Festival beginnt zum zweiten Mal. Die dort versammelten Gäste kennen einander: Die Albaharis, Demajos, Almulis – alle sind enge oder zumindest entfernte Verwandte. So ist auch die Atmosphäre familiär und warm, alle bilden mit ihren gemeinsamen Wurzeln und ihrer Vergangenheit eine harmonische Einheit. Der Organisator dieses Festivals ist Stefan Sablic. Der angesehene Regisseur und Kantor der Belgrader Synagoge ist jung und leger. In seinem Blut fließen die Rhythmen der sephardischen Lieder aus dem Balkan, der Mittelmeerländer und Nordafrikas: „Mein Motiv war es, so viele Leute wie möglich kennenzulernen, zusammenzubringen und eine Veranstaltung zu schaffen, die den Reichtum verschiedener Kulturen zeigt.“ Gerade das konnte man vor dem Zweiten Weltkrieg in Belgrad spüren, die Vielfalt der Kulturen. Viel mehr als heute.
Die Jüdische Gemeinde Belgrad, mit 1800 Mitgliedern die größte in Serbien, pflegt ihre größtenteils sephardische Tradition und Kultur. Schon im 17. Jahrhundert war die Belgrader Gemeinde berühmt für ihre Jeschiwa. Rabbiner Juda Lerma, der im Jahr 1617 aus Saloniki eingewandert war, hat Belgrad zum Zentrum des Wissens gemacht. Als bedeutendstes politisches Ereignis für die serbischen Juden gilt der Berliner Kongress im Jahr 1878: Serbien ist ein souveräner Staat geworden und die Juden haben ihre bürgerliche und politische Gleichberechtigung bekommen. Seither entwickelte sich die Gemeinde, die Zahl der Juden wurde immer größer. Im Jahr 1931 gab es etwa 8000 Juden in Belgrad. Der neue sephardische Kal – wie die Sepharden die Synagoge nennen – Bet Israel wurde im Jahr 1908 eingeweiht. Ein weiterer Bau wurde von Oneg Šabat und Gemilut Hasadim, Gesellschaften mit religiösen und humanitären Zielen, im Jahr 1923 errichtet. Dieses Gebäude ist noch immer in der jüdischen Straße zu sehen und enthält Elemente, die den Einfluss der maurischen Architektur zeigen.
Geht man zurück in der Geschichte, stößt man auf einen Familiennamen, der ein Unikat darstellt – Davico. „Es existiert nur eine Familie auf der ganzen Welt, die so heißt und wir wissen genau, wie viele es von uns gibt“, sagt Svetlana Davico. Lana, so ist ihr Kosename, ist eine gepflegte Dame mit bürgerlichen Manieren. Ihre Stimme und ihr Gesicht sind den Bürgern von Belgrad bekannt. Immerhin hat sie Jahre lang eine TV-Sendung über die spanische Sprache und Kultur moderiert. Sie ist oft in Wien, hier wohnt ihre Familie, deren Stammbaum man bis zum Jahr 1750 zurückverfolgen kann. In Wien hat auch ihr Urahn gelebt – und zwar in Exil. Es war vor fast 200 Jahren, als der serbische Fürst Miloš Haim behor David den Sohn des Präsidenten der jüdischen Gemeinde zu seinem Hoflieferanten bestellt hatte.
Seit der Antike leben Juden auf dem Territorium des heutigen Serbiens. Allerdings kann man eine größere Anwesenheit von Juden erst ab dem 16. Jahrhundert feststellen, besonders nach der Vertreibung aus Spanien. Heuer sind es genau 520 Jahre, dass die Juden ihre Häuser nach dem Alhambra-Edikt von Königin Isabella I von Kastilien und ihrem Mann Ferdinand verlassen mussten. Die sephardischen Juden, die danach auf den Balkan gekommen sind, hat der Nobelpreisträger Ivo Andri in seinem Roman „Wesire und Konsule“ mit einem beeindruckenden Satz dargestellt: „In uns wird der Wunsch nach einer besseren Welt, eine Welt der Ordnung und Menschlichkeit – in welcher man aufrecht gehen, ruhig schauen und offen sprechen kann – ewig bleiben.“ Die Sepharden haben das, was sie mit Spanien verbindet, mitgebracht: Ihre Lebendigkeit und die melodische Sprache Judeospanol, auch als Ladino bekannt, nostalgische Lieder – und den Schlüssel ihrer Häuser, worüber eine Romanze erzählt:
Onde stan la yaves ke
stavan al kashon?
Wo sind die Schlüssel,
die in der Lade waren?
Mis nonos las trusheron
kon grandi dolor
Meine Vorväter brachten
sie mit großem Schmerz
de sus kazas d´España.
aus ihren Heimen in Spanien.
Der sephardische Friedhof in Belgrad wurde im Jahr 1888 errichtet und wird bis heute genutzt. Dort befindet sich das Denkmal, das von der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde für die im Jahr 1941 im Dorf Zasavica ermordeten österreichischen Juden errichtet wurde. Noch ein monumentales Denkmal wurde für die jüdischen Opfer des Faschismus vom surrealistischen Architekten Bogdan Bogdanovic gebaut, der seit 1993 im Wiener Exil lebte. Dieses Denkmal integriert Fragmente und sogar ganze Gräber mit hebräischen Schriften aus dem alten jüdischen Friedhof. Am Ende der Hauptallee bildet es mit der Natur eine architektonische Einheit.
Der Gemeinschaftsraum war auch während des letztjährigen Besuchs von Yona Metzger überfüllt, dem aschkenasischen Oberrabbiner Israels. Üblicherweise, sitzen in der Belgrader Synagoge die Frauen und Männer auf demselben Niveau: Männer in der Mitte, Frauen links und rechts. Diesmal mussten die Frauen auf der Galerie Platz nehmen. Das war aber nicht die einzige Ungewöhnlichkeit am zweiten Hannukah-Abend, der von der jüdischen Gemeinde Belgrad und der B´nai B´rith Loge Serbien 676 organisiert wurde. Oberrabbiner Metzger hat gemeinsam mit dem serbischen Präsidenten Boris Tadic die Kerzen angezündet. Die höchsten Repräsentanten von anderen Religionen, mit welchen Oberrabbiner Asiel gute Kontakte pflegt, waren auch heuer anwesend.
Der Präsident der B´nai B´rith Loge Serbien 676, Branko Šnap, repräsentiert die jüdische Gemeinde regelmäßig in der Öffentlichkeit mit verschiedenen Veranstaltungen. Der 63-jährige, immer in Bewegung befindliche Ingenieur mit aschkenasischen Wurzeln, versteht sich als Brückenbauer zwischen Juden und Serben „um zu zeigen, wie das gemeinsame Leben notwendig und fruchtbar ist“. Die B´nai B´rith Loge Serbien wurde im Jahr 1911 gegründet, als Institution der sephardischen und aschkenasischen Juden. Eine ihrer Initiativen war auch, das jüdische Museum zu gründen, das heute eine wesentliche Rolle im Bewahren der Geschichte der Juden Serbiens hat. In diesen Monaten wurde aus dem Museum ein Drehort für einen Film: „Kada svane dan“ (Wenn der Tag anbricht), erzählt auch über die grausame Geschichte des deutschen Lagers Sajmište (Judenlager Semlin). Dort wurden die letzten Juden Belgrads umgebracht und sie wurde damit als eine der ersten judenfreien Städte, ohne jüdische Bewohner, offiziell deklariert. Im Dezember vorigen Jahres jährte sich zum 70. Mal die Deportation der Juden in das Lager Sajmište. Es war im Dezember 1941, als alle in Belgrad verbliebenen jüdischen Frauen und Kinder sich bei der damaligen Sonderpolizei melden mussten. Zur selben Zeit wurde ein Gas-Lastwagen aus Deutschland nach Belgrad geschickt. Götz und Meyer hießen die Fahrer, die den Lastwagen vor dem Lager geparkt hatten. Voller Enthusiasmus ist einer von beiden durch das Lager spazieren gegangen, hat um sich Kinder versammelt, um ihnen Bonbons zu verteilen. Gleich danach hat er die Kinder mit ihren Müttern in den Wagen gesperrt und in den Tod geschickt. Mit dieser Aktion wurde im Mai 1942 Serbien als judenfrei deklariert. Alle jüdischen Männer wurden schon im Herbst 1941 in das Lager Topovske šupe gebracht und dort ermordet. Polizeiunterlagen aus dem Jahr 1941 berichten, dass sich etwa 9500 Juden in Belgrad befanden. In Serbien etwa 15.000. Alleine im Lager Sajmište wurden 7500 umgebracht. Bis heute steht dort aber kein Denkmal über die Ereignisse dieser Zeit.
Jedes Jahr im Jänner versammeln sich die Leute am Strand von Novi Sad, heuer zum 70. Mal. Mit Blick auf die Donau und die Petrovaradin- Festung steht ein Denkmal, das eine Familie symbolisiert und damit jene Juden, Serben, und Roma, die sich im Jahr 1942 bei minus dreißig Grad nackt ausziehen mussten, umgebracht und in die eisbedeckte Donau geworfen wurden. Heute leben in Novi Sad etwa 600 Juden, vor dem Krieg betrug die Zahl 4500. Die erste Synagoge in Novi Sad wurde im 18. Jahrhundert gebaut. Wegen ihrer Akustik wurde die heute einzig existierende Synagoge in Novi Sad oft für Konzerte genutzt. Traditionell organisiert die jüdische Gemeinde Novi Sad zusammen mit der serbisch-orthodoxen Kirche ein Konzert, wobei alle andere Religionen auch präsent sind.
Wenn man durch die Vojvodina, eine Provinz in Serbien fährt, sieht und spürt man die Pannonische Tiefebene: unendliche Sonnenblumen und goldene Getreidefelder. So kommt man auch an die Grenze zu Ungarn, wo sich noch eine aschkenasische Gemeinde befindet: Subotica mit etwa 220 jüdischen Bewohnern. Es ist eine Stadt der Sezession, die mit ihrer Synagoge berühmt wurde. Dort leben die Juden seit dem Jahr 1775, erst am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden das Gemeindezentrum und die Synagoge gebaut. Während der jüdischen Feiertage kommen die Mitglieder anderer, noch kleinerer Gemeinden nach Subotica: aus Sombor, Zrenjanin, Kikinda, Pan evo und Zemun.
Eine der kleinsten jüdischen Gemeinden Serbiens, gleichzeitig ihre südlichste, befindet sich in der Stadt Niš, mit ihren 40 Mitgliedern, die um den Erhalt zwei ihrer einzig verbliebenen Denkmale kämpfen: Die Synagoge und der Friedhof.
Oberrabbiner Asiel hat aus einer säkularen, eine Gemeinde mit traditionellen Mitgliedern geschaffen, wo es auch eine koschere Küche gibt. Sabbat und Gottesdienste für jüdische Feiertage finden regelmäßig statt. „Es gibt die Fälle, wenn ein Rabbiner nicht nur mit seiner Frau, sondern auch mit seiner Gemeinde verheiratet ist“, sagt er über seine Gefühle und seinem Engagement. Bei vielen jungen Menschen hat er mit interessanten Vorträgen, Spontanität und Humor, eine jüdische Identität entwickelt. Mit seinem scharfen Verstand und Wissen repräsentiert er die jüdische Gemeinde nach außen und kämpft auch gegen den Antisemitismus, der sich meistens in antisemitischer Literatur äußert. Und er geht täglich seinen Weg vom Gemeinde Zentrum zur Synagoge hin und zurück, wo sich das jüdische Leben auch noch heute abspielt.