Der jüdische Musiker und Autor Gilad Atzmon lässt keine Gelegenheit aus, sich durch kontroversielle Aussagen großflächig Feinde zu schaffen oder – noch schlimmer – die Zustimmung falscher Freunde einzuholen. NU traf den umstrittenen Israel-Kritiker.
Von Axel Reiserer
Was ist aus Israel geworden? In Nummer 10/2012 der „New York Review of Books“ bespricht David Shulman, Professor an der Universität Jerusalem, das Buch „The Crisis of Zionism“ des US-Politologen Peter Beinart und schildert in bedrückender Weise brutale Übergriffe gegen Palästinenser und Friedensaktivisten, die zumindest geduldet werden. „Vielleicht war es ein professioneller Fehler von mir, das Gewehr zu verwenden, als eine Kamera dabei war“, wird ein Armeekommandant zitiert, nachdem er einem dänischen Friedensaktivisten mit dem Gewehrkolben das Gesicht zertrümmert hatte. Er beschreibt die systematische Unterhöhlung demokratischer und ethischer Werte seit der Besetzung der Westbank 1967 und eine politische Führung, die sich durch das Schüren von Vernichtungsängsten jeglicher Verantwortung für ihr Tun entschlägt.
Das findet starke Resonanz, schreibt Shulman: „Die Logik eines unendlichen Kriegs zwischen den Söhnen des Lichts und den Söhnen der Finsternis liegt (Premierminister Benjamin) Netanjahus ständiger Berufung auf den Holocaust in den Beziehungen mit Iran zugrunde. So wie viele Israelis bewohnt er eine Welt, in der die Kräfte des Bösen ständig kurz vor der Vernichtung der Juden stehen, die ständig in halsbrecherischer und heroischer Weise kämpfen müssen, um den Klauen des Todes zu entspringen. Ich glaube, dass er – so wie viele Israelis – eine derartige Welt liebt und sie wiedererfinden würde, gäbe es keine ernsthafte Bedrohung von außen.“
Beinart teilt diese Analyse und sieht Israel geprägt durch einen Konflikt zwischen „liberalen, demokratischen Werten und einem proto-rassistischen, atavistischen Nationalismus“: „Im Westen (der Grenze vor 1967) ist Israel eine mangelhafte, aber echte Demokratie. Östlich davon ist es eine Ethnokratie.“ Hier ist der Punkt, wo der israelische Autor und Musiker Gilad Atzmon noch einen (umstrittenen) Schritt weiter geht. Während Beinart auf eine Korrektur der gegenwärtigen Fehlentwicklungen bei einem Erfolg der liberalen gegen die nationalistischen Kräfte zumindest hofft (Shulman beurteilt das in seiner ansonsten äußerst wohlwollenden Rezension skeptisch), ist für Atzmon die Tragödie Israels bereits in den Ursprüngen angelegt.
Dabei geht er noch weiter als „New Historians“ wie Benny Morris oder Ilan Pappé, indem er die Kernproblematik nicht bei der Vertreibung der Palästinenser 1948 („Nakba“) ansetzt, sondern im Wesen des Zionismus selbst. In seinem neuen Buch „The Wondering Who?“, das dieser Tage auch auf Deutsch erscheint, unterzieht Atzmon den Zionismus, Israel und dem „Judesein als Ideologie“ einer schonungslosen Abrechnung.
Das Initialereignis dafür war für ihn die Zeit als junger Soldat in der israelischen Armee: „Im Sommer 1984 (zwei Jahre nach dem ersten Libanon- Krieg, Anm.) wurden wir auf eine Mission in den Südlibanon geschickt. Am zweiten Tag fuhren wir nach Ansar, ein berüchtigtes Internierungslager. Diese Erfahrung veränderte mein Leben vollkommen. (…) Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und wir sahen tausende Gefangene, wie sie unter offenem Himmel von der Sonne verbrannt wurden. Während wir entlanggeführt wurden und ich die Inhaftierten anstarrte, dämmerte mir eine unerträgliche Wahrheit: Das war ein Konzentrationslager. Die Inhaftierten waren die ‚Juden‘, und ich war nichts anderes als ein ‚Nazi‘.“
Von hier begann eine weite geistige und geografische Reise. Atzmon, dessen für ihn einflussreicher Großvater ein Verehrer des Irgun-Kommandanten Zeev Jabotinsky war, konnte es nun nicht mehr ertragen, „dass ich auf Land lebte, das in Wahrheit jemandem anderen gehört“. Nachdem er mit 17 Jahren zufällig eine Aufnahme von Charlie Parker gehört hatte, verfiel er dem Jazz. In völliger Hingabe brachte er sich selbst das Saxofonspielen bei. 1993 verließ er im Alter von dreißig Jahren Israel und lebt seither mit seiner Familie in Nordlondon. Heute ist Gilad Atzmon einer der angesehensten und (nach Meinung von Fachleuten) besten lebenden Jazzmusiker der Welt. Für Robbie Williams und Paul McCartney (u. v. a. m.) hat er gespielt, mit Robert Wyatt („Gilad is a genius“) hat er eines seiner schönsten Alben aufgenommen (kann sogar der Nicht-Fachmann erkennen). Mit seiner Band „The Orient House Ensemble“ ist er fast das ganze Jahr weltweit auf Tour, die Bühnenshow ist bemerkenswert. Nur ein Land meidet er: „Ich werde meine Heimat erst wieder betreten, wenn es einen gemeinsamen Staat Palästina gibt, in dem Juden und Palästinenser gleichberechtigt zusammenleben.“
Sich selbst bezeichnet Atzmon wechselweise als „stolzen selbsthassenden Juden“ oder als „hebräisch sprechenden Palästinenser“. Er ist ungemein charismatisch, unterhaltsam und ein einnehmender Gesprächspartner. Neben seiner Musik, die auch noch ganz andere Seiten von ihm zeigen kann, veröffentlicht er unermüdlich Texte im Internet (www.gilad.co.uk), hat zwei (sehr empfehlenswerte und vielfach übersetzte) Romane publiziert und lässt keine Gelegenheit aus, sich durch kontroversielle Aussagen großflächig Feinde zu schaffen oder – noch schlimmer – die Zustimmung falscher Freunde einzuholen. Er ist beständig irgendwo für irgendeine pro-palästinensische Sache im Einsatz, und seine Israel-Kritik findet nur allzu oft gerne Gehör auf anti-israelischer Seite. Er setzt sich auch mit Holocaust- Leugnern aufs Podium. Dafür wird er massiv kritisiert, gelegentlich tätlich angegriffen und regelmäßig ernsthaft bedroht (nach eigenen Angaben hat er bereits mehr als 40 Todesdrohungen bekommen).
Doch macht es sich zu einfach, wer Atzmon als Holocaust-Lügner oder Antisemit abtut oder ihm unterstellt, das Existenzrecht Israels zu leugnen. Den Holocaust bezeichnet er im Gespräch als „größte Katastrophe der Geschichte“. Massiv wendet er sich aber gegen die Instrumentalisierung des Holocaust als Rechtfertigung für die Politik des heutigen Israels. „Ich wurde ausgebildet, Araber zu ermorden im Namen des Leids, das Juden im Holocaust zugefügt wurde“, sagt er. Atzmon bestreitet nicht das Recht der Juden, im Nahen Osten zu leben. Aber er bestreitet vehement das Recht, dies auf Kosten anderer zu tun. „Wir leben unsere Symptome auf Kosten anderer aus“, meint er.
Für Atzmon stammt dieses Verhalten aus einer Haltung, die Jüdischsein zu einer Primärqualität erhebt und daraus Auserwähltheit, Einzigartigkeit und Besonderheit ableitet. „Es besteht kein Problem mit der jüdischen Religion oder mit Menschen, die als Juden geboren wurden“, sagt Atzmon. Aber er wendet sich gegen ein Jüdischsein, das sich so definiert, wie es Chaim Weizmann, der erste Präsident Israels, einmal formuliert hat: „Es gibt keine englischen, französischen, deutschen oder amerikanischen Juden, sondern nur Juden, die in England, Frankreich, Deutschland und Amerika leben.“
Dieses Denken reflektiert für Atzmon ein Stammesdenken, das universellen Werten wie etwa der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Menschen grundsätzlich entgegensteht. Stammesdenken ist nicht per se verwerflich, problematisch wird es, wenn eine Ideologie, die der Verteidigung und dem Erhalt einer Minderheitsidentität in einem oft feindlichen Umfeld dient, zur Mehrheitsideologie gegenüber anderen wird – und so sieht Atzmon das Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern. Seinem Buch stellt er das Wort des Holocaust-Überlebenden und Zionismus-Kritikers Israel Shahak voran: „Die Nazis haben mir Angst gemacht, Jude zu sein, und die Israelis machen mich beschämt, Jude zu sein.“
Der Zionismus führt das zur Bewahrung der Identität gepflegte Stammesdenken mit dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts in Europa zusammen und wurde dadurch zu einer mächtigen Kraft aus dem Wunsch, „gleich und zugleich auch anders zu sein“. Den Einwand, dass die Juden durch jahrhundertelange Verfolgung und Unterdrückung an den gesellschaftlichen Rand gedrängt wurden und daher einen eigenen Staat in Palästina als Lösung zu suchen begannen, wischt Atzmon geradezu unwillig vom Tisch: „Das ist eine banale, nahezu peinlich primitive Erklärung. In Wahrheit hatten die Juden 200 Jahre Assimilation hinter sich, und großteils höchst erfolgreich, als der Zionismus Fuß fasste.“
Diesem Verschwinden durch Aufgehen entzog man sich durch die Erhebung seiner Selbst zu etwas Höherem, Auserwählten: „Der Zionismus erhebt die Selbstliebe zur Religion. Während für den gläubigen Juden der Gedanke der Auserwähltheit immer bedeutete, besondere Prüfungen von seinem grausamen Gott aufgebürdet zu bekommen (wie etwa Hiob), versteht heute der jüdische Siedler in der Westbank darin das Recht, bis an die Zähne bewaffnet den Palästinensern ihr Land zu rauben.“ Da Letzteres lediglich eine extreme Zuspitzung der allgemeinen Grundideologie Israels sei, erklärt dies nach Ansicht Atzmons auch die extreme Beweglichkeit der israelischen Parteien zwischen links und rechts (wie erst kürzlich mit der neuen Koalitionsvereinbarung zwischen Likud und Kadima bewiesen) und die bestimmende Macht der Siedler über das politische Geschehen (wie die Nicht-Friedensverhandlungen zeigen).
Das Buch Atzmons hat seit seinem Erscheinen in Großbritannien im Vorjahr heftige Debatten ausgelöst. In Internet-Foren wird Atzmon ebenso als „letzter jüdischer Prophet“ gepriesen wie als „rabiater Antisemit“ beschimpft. Es fand die Unterstützung angesehener Leser wie etwa von Richard Ford, dem UNO-Beobachter für die besetzen Gebiete, stieß aber auch auf heftige Ablehnung. Manche Abschnitte sind nicht wirklich überzeugend, manche rufen Kritik hervor, manche erscheinen durchaus zweifelhaft.
In jedem Fall aber hätte sich sein Buch eine ernsthafte, vorurteilsfreie Debatte verdient – auch und gerade im deutschsprachigen Raum (für österreichische Ohren gibt es bisweilen auch ein Erinnern an Bruno Kreisky). So unterscheidet sich Atzmons Ein- Staaten-Lösung im Grund nicht von der 2003 formulierten (und heftig kritisierten) Position des mittlerweile verstorbenen weltweit angesehenen Historikers Tony Judt. Allein aus demografischen Gründen könnte dies, wie es der pragmatische britische „Economist“ kürzlich formulierte, aller Politik Israels zum Trotz eher früher als später die Zukunft des Landes sein. Um sie zu zu gestalten, sollte Israel auch auf schwierige Söhne wie Atzmon nicht verzichten. Oder wie es die israelische Zeitung „Haaretz“ im Oktober 2010 in einem einfühlsamen Porträt so schön ausdrückte: „Ich denke an Gilad Atzmon so wie Arik Einstein in seinem berühmten Lied über das Mädchen, das er am Schulweg sah, dachte: Für uns ist er verloren. Israels öffentliche Diplomatie hat jemanden verloren, der eine unserer feinsten Stimmen hätte sein können: wortgewandt, charismatisch, charmant. Der Spielstand, derzeit: 1:0 für Palästina.“
Gilad Atzmons neues Buch „The Wandering Who?“ erscheint dieser Tage auf Deutsch im Zambon-Verlag, Frankfurt. Atzmon liest, diskutiert und musiziert am 2. Juli 2012 abends im Griechischen Kulturzentrum in Innsbruck, mehr unter www.gilad.co.uk