Israels neue Regierung will auch Talmudschüler in die Armee schicken. Ein Anliegen, das die ohnehin geschwächte Solidarität zwischen säkularen und religiösen Israeli weiter auf die Probe stellt.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem
Jeder Staatsbürger und Dauereinwohner des Staates Israel wird im Alter von 18 Jahren zum Militärdienst eingezogen, junge Männer für drei Jahre, Mädchen für zwei Jahre. Bis zum 45. Lebensjahr sollten Männer darüber hinaus noch jedes Jahr einen Monat lang zum Reservedienst zur Verfügung stehen, „entsprechend den Bedürfnissen der Armee“. So sieht es das Gesetz des jüdischen Staates vor. Tatsache ist jedoch, dass heute kaum fünfzig Prozent der eigentlich Wehrpflichtigen ihren Armeedienst leisten.
Arabische Staatsbürger – zwanzig Prozent der Bevölkerung – sind grundsätzlich von der Wehrpflicht befreit. Weitere Ausnahmen werden aufgrund religiöser, physischer oder psychologischer Gegebenheiten gemacht. So stellt die Armee Wehrpflichtige frei, die durch eine „niedrige Motivation“, „kriminelle Vergangenheit“ oder Drogenmissbrauch aufgefallen sind. In letzter Zeit konnte sich eine zunehmende Zahl von Israelis aufgrund von Gewissens- oder politischen Gründen dem Anspruch ihrer Armee entziehen.
Schon 1948 hatte Israels erster Premier David Ben Gurion ultraorthodoxe Talmudschüler von der Wehrpflicht befreit. Das waren damals 400 Personen, 0,07% der Bevölkerung. Die „Charedim“ (Gottesfürchtigen), wie sie sich selbst nennen, betrachten den jüdischen Staat als „Menschenwerk“ und „Gotteslästerung“, die die Königsherrschaft des Messias vorwegnimmt. Ben Gurion achtete die Charedim trotzdem als geistige Elite, die maßgeblich zur Erhaltung der jüdischen Identität in der Diaspora beigetragen und während der Schoah überdurchschnittlich hohe Verluste erlitten hatte.
Im Dezember 1998 verpflichtete der Oberste Gerichtshof die Knesset zu einer gesetzlichen Regelung der Militärpflicht für Talmudschüler. Acht Monate danach beauftragte Ehud Barak als Regierungschef ein Komitee unter Vorsitz des Richters Zvi Tal mit der Ausarbeitung einer rechtlichen Lösung. Im April 2000 stellte das „Tal-Komitee“ das sogenannte „Tal-Gesetz“ vor, das bis Juli 2002 alle parlamentarischen Hürden nahm und in Kraft trat. Dieses Gesetz ermöglichte es Studenten, die „die Thora zu ihrer Kunst“ erklärt haben, die Einberufung zur Armee für die Zeit ihres Studiums aufzuschieben – was de facto zur Folge hatte, dass die überwiegende Mehrzahl der Charedim weder Wehrnoch Zivildienst leistet.
In den vergangenen Jahren entwickelte sich so eine ursprünglich als Ausnahme gedachte Regelung zu einer der größten Kontroversen innerhalb der israelischen Gesellschaft. Der Graben zwischen Säkularen und Religiösen ist dabei nicht der einzige Diskussionsgrund für Israelis, der Wehrdienst nicht das alleinige Konfliktpotenzial. Es gibt brennende soziale und wirtschaftliche Probleme, innen- und außenpolitische Spannungen. In diesem Umfeld entwickelten sich die ultraorthodoxen Parteien in ganz unterschiedlichen Fragestellungen politisch zum Zünglein an der Waage und erwiesen sich als äußerst erfolgreich bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Talmudschulen werden heute mit umgerechnet fast 20 Millionen Euro jährlich vom Staat gefördert, ihre Studenten leben – zugegebenermaßen äußerst bescheiden, aber immerhin – von etwa 500 Euro Sozialhilfe im Monat und Spenden.
Dabei ist die Freistellung von mittlerweile – je nach Schätzung – 54.000 bis 70.000 jungen jüdischen Männern vom Armeedienst, die letztendlich nie in der steuerzahlenden Arbeitswelt auftauchen, nur ein Teil der Auseinandersetzung, bei der sich eine säkulare Mittelschicht dagegen wehrt, die Hauptlast der Existenzsicherung des Staates tragen zu müssen. Die Demonstrationen im Sommer 2011 haben das Anliegen dieser Israelis, die sich ausgenützt fühlen, in die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit katapultiert.
Anfang 2012 erklärte die scheidende Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Israels, Dorit Beinisch, das „Tal- Gesetz“ für verfassungswidrig und forderte bis Juli des Jahres eine Lösung, welche die verfassungsmäßig garantierte Gleichheit aller Bürger widerspiegelt.
Verteidigungsminister Ehud Barak ordnete die Armee an, das alte Wehrpflichtgesetz von 1986 umzusetzen und praktische Vorschläge vorzulegen, wie Ultraorthodoxe zum Wehrdienst einberufen werden können. Die Knesset wird sich nach ihrer Sommerpause im Oktober mit einer neuen Gesetzgebung für die Charedim und Araber beschäftigen. Der ehemalige Generalstabschef und stellvertretende Premier Mosche Jaalon arbeitet bereits im Auftrag der regierenden Likud-Partei an einem Gesetzentwurf. Nach seinen Vorstellungen sollte die Armee neue Einheiten und Dienstlaufbahnen speziell für ultraorthodoxe Soldaten anbieten. Jaalon fordert die Einrichtung eines Zivildienstsystems für Ultraorthodoxe im Rahmen von Polizei, Feuerwehr, Rettungsdiensten, im Gefängniswesen oder in der Altenpflege.
Doch die Fronten verlaufen nicht nur zwischen Säkular und Religiös. Auch innerhalb der ultraorthodoxen Gesellschaft gibt es weitreichende Diskussionen. Im August forderte der „Rat der Thora-Weisen“ der ultraorthodoxen Degel HaThora- Bewegung zwar ein Ende „der Welle der Hetze gegen die Charedim“ von der Regierung – „besonders gegen die heiligen Thora-Schüler, deren Verdienst es ist, dass die Welt noch weiter existiert“. Doch Nachfolgestreitigkeiten um das geistliche Oberhaupt der litauischen Charedim, Rabbi Josef Schalom Eljaschiv, der im Juli im Alter von 102 Jahren verstorben war, warfen ihre Schatten selbst auf den Entschluss dieses hochwürdigen Gremiums. Neben Konservativen, die am liebsten alles beim Alten belassen würden, befürwortet eine wachsende Gruppe von Charedim eine aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben des Staates Israel. So befürwortet die „Charedi Tov“-Bewegung, die Bewegung „des guten Gottesfürchtigen“, eine Integration des Thorastudiums in die Schulbildung, den Militärdienst und die Arbeitswelt – und gewinnt zunehmend an politischem Einfluss.
Heute dienen bereits rund 2200 Charedim in Armeeeinheiten, die so illustre Namen wie „Netzach Yehuda“ (Ewigkeit Judas) tragen. Zu diesen ultraorthodoxen Einheiten haben Frauen grundsätzlich keinen Zutritt und die Soldaten verrichten alle ihre religiösen Pflichten. Nur in den ersten zwei Jahren konzentrieren sie sich auf militärische Aufgaben. Danach dürfen sie mit Unterstützung und auf Kosten der Armee ihr Abitur nachholen oder technische Fähigkeiten erwerben. Mehr als 90 Prozent der Ultraorthodoxen, die in der israelischen Armee gedient haben, finden danach eine Anstellung auf dem Arbeitsmarkt. Nationalreligiösen Juden steht seit Jahren die Option offen, im Rahmen des sogenannten „Hesder“- Systems Talmudstudien mit einem verlängerten Militärdienst zu kombinieren. Im August 2012 meldeten sich 450 Rekruten für den Hesder- Dienst. 85 Prozent dieser Soldaten dienen in Kampf- und Eliteeinheiten, was weit über dem landesüblichen Durchschnitt liegt. Auch in Befehlspositionen und bei der Offiziersausbildung sind die Nationalreligiösen überdurchschnittlich gut vertreten.
Junge Frauen können angeben, einen religiösen Lebensstil zu verfolgen und werden vom Wehrdienst freigestellt. Viele von ihnen leisten Zivildienst – eine Möglichkeit, die übrigens auch arabischen Israelis offensteht. Araber können ihren Zivildienst auf Wunsch auch im arabischen Sektor der israelischen Gesellschaft leisten.
Mitglieder der Regierung streben einen Pflichtzivildienst für israelische Araber an. Deren politische Sprecher sehen dadurch allerdings ihre Identität gefährdet. Vor allem israelische Araber, die sich selbst als „Palästinenser mit aufgezwungener israelischer Staatsbürgerschaft“ bezeichnen, wettern gegen Gleichstellungsbemühungen ihrer säkularen Mitbürger. 85 Prozent der Araber, die Zivildienst geleistet haben, sollen danach kein Problem mehr mit einem Israel haben, das sich als „jüdischer und demokratischer Staat“ definiert. Arabische Zivildienstleistende beteuern, dass es in der israelischen Gesellschaft wenig Diskriminierung und keinen Rassismus gebe. „Wenn sich ein Araber über Diskriminierung beschwert“, meint eine nichtjüdische Zivildienstleistende in Jerusalem, „frag ihn einfach, ob er Wehr- oder Zivildienst geleistet hat. Bei Erfüllung gleicher Pflichten hat hier jeder die gleichen Rechte und Privilegien.“ Für junge arabische Frauen, die sich auch in „der einzigen Demokratie des Nahen Ostens“ nicht selten von ihren Familien auf das eigene Haus beschränkt sehen, ist Zivildienst eine Chance auf sozialen Aus- und Aufstieg.
Gegen eine Einberufung der Araber zum Militärdienst ziehen auch zionistische Israelis zu Felde. „Lass die Araber Zuhause!“ schreibt ein Leser der Jerusalem Post, „Glaubt irgendjemand, dass sie in der Armee weniger verräterisch sein werden als in der Knesset?“ Tatsächlich treten vor allem erklärte Gegner eines jüdischen Staates als „Araber“ oder „Palästinenser“ in der Öffentlichkeit wahrnehmbar in Erscheinung. Viele arabisch-stämmige Israelis, die zionistische Parteien wählen, sich in zionistischen Parteien bis in höchste Positionen wählen lassen, loyal ihren Wehr- oder Zivildienst leisten, bezeichnen sich selbst auf Nachfrage schlicht als „Israelis“ und sind für Außenstehende von ihren jüdischen Mitbürgern nur schwer zu unterscheiden.
Eine nicht unerhebliche Anzahl arabischer Staatsbürger Israels meldet sich zum Wehrdienst – darunter viele Beduinen – obwohl sie per Gesetz keiner Wehrpflicht unterliegen. Die drusischen und tscherkessischen Minderheiten Israels haben sich schon vor Jahrzehnten kollektiv für einen Pflichtdienst ihrer jungen Männer in der israelischen Armee verpflichtet.
So ringt die israelische Gesellschaft im Bereich der allgemeinen Wehrpflicht – wie in vielen anderen Bereichen – darum, traditionelle, religiöse und kulturelle Gegebenheiten mit den Notwendigkeiten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu vereinbaren.