David Rubinger gilt als einer der berühmtesten Fotojournalisten weltweit. Er wurde in Wien geboren, wo er bis zu seinem 15. Lebensjahr aufwuchs. Kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges gelang es ihm, nach Palästina auszuwandern. Seine Bilder dokumentieren die israelische Zeitgeschichte seit der Staatsgründung, im Krieg und im Frieden. Ein Porträt.
Von Johannes Gerloff, Jerusalem (Text und Foto)
Neunzig Jahre alt wurde in diesem Frühjahr das einflussreichste Wochenmagazin aller Zeiten: TIME Magazine. Einer der Gründer und TIMEs erster Nachrichtenchef, Briton Hadden, war schon Anfang der 1920er-Jahre überzeugt, es gebe zu viele Medienangebote in den USA. Landesweit waren das damals etwa 2000 Tageszeitungen, 160 Zeitschriften und 500 Radiostationen. TIME trat an, um Orientierung zu bieten im Informationschaos – und tat das mit so großem Erfolg, dass die Zeitschrift bis heute Maßstäbe setzt und Themen bestimmt, auch für die Medien in Europa.
Als David Rubinger sich 2009 im Alter von 85 Jahren offiziell in den Ruhestand verabschiedete, war er der dienstälteste Mitarbeiter des Magazins. Israels Staatspräsident Schimon Peres hat Rubinger einmal als „den Fotografen einer werdenden Nation“ bezeichnet. Die englischsprachige Tageszeitung Jerusalem Post beschreibt ihn als „größten Porträtisten der israelischen Seele“. Und Jim Kelly, von 2001 bis 2006 Managing Editor von TIME Magazine, fasst zusammen: „David Rubinger hat einige der beeindruckendsten Bilder seiner Zeit eingefangen. Niemand hat besser die Geschichte Israels mit all ihrem Ruhm und Schmerz gezeigt.“
Geschenk seines Lebens
David wurde am 29. Juni 1924 als einziges Kind des Schrotthändlers Kalman Rubinger und seiner Frau Anna in Wien geboren. Ende der 1930er-Jahre entkam er mit Hilfe der Jugend-Aliyah auf dem Umweg über Italien nach Palästina und ließ sich im Kibbuz Tel Amal im Jordantal nieder. Während des Zweiten Weltkriegs diente Rubinger in der Jüdischen Brigade der Britischen Armee in Ägypten, Libyen, Malta, Italien, Österreich, Deutschland und schließlich Belgien.
In Deutschland lernte er seine Cousine Anni kennen, die mehrere Konzentrationslager überlebt hatte. Um ihr die Einwanderung nach Palästina zu ermöglichen, ging er im September 1946 in Herford eine fiktive Ehe mit ihr ein, die – so Rubinger schmunzelnd – ganze drei Tage dauerte. Danach waren Anni und David mehr als fünfzig Jahre, bis zu Annis Tod, verheiratet. Die Rubingers bekamen zwei Kinder, fünf Enkel und zwei Urenkel.
Im September 1945 hatte David in Paris als Abschiedsgeschenk von seiner französischen Freundin Claudette Vadrot eine amerikanische Argus 35-Millimeter-Kamera geschenkt bekommen, „das vielleicht wichtigste Geschenk meines Lebens“, erkennt Rubinger im Rückblick, und der Beginn einer Liebesaffäre mit dem Fotoapparat, die bis heute andauert. In Gelsenkirchen kaufte er sich dann seine erste Leica – „für 200 Zigaretten und ein Kilo Kaffee“.
Sein erstes offizielles Foto machte David Rubinger im November 1947 in Jerusalem während der Jubelfeiern über die Entscheidung der UNGeneralversammlung, das britische Mandatsgebiet Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Nachdem er ein Fotogeschäft in Jerusalem eröffnet hatte, wurde die Zeitung HaOlam HaZeh des Journalisten und heutigen Friedensaktivisten Uri Avnery 1951 zu seinem Sprungbrett in eine journalistische Laufbahn. Nach kurzen Engagements bei Yediot Achronot und der Jerusalem Post erhielt David Rubinger 1954 seinen ersten Auftrag von TIME-LIFE.
Das war der Beginn einer Zusammenarbeit, die über ein halbes Jahrhundert währen sollte. Das scheinbar unbegrenzte Budget von TIME-Life eröffnete dem Fotografen Möglichkeiten, von denen andere nur träumen konnten. So reiste er mehrfach mit dem israelischen Premierminister Menachem Begin zu den Friedensgesprächen mit Ägypten in die USA. TIME bezahlte immer den Sitz neben Begin in der ersten Klasse. Auch ein Hubschrauber scheint nie ein Problem gewesen zu sein. Und als er einmal Phantom-Flugzeuge über dem Tempelberg fotografieren sollte, schickte die israelische Luftwaffe eine ganze Staffel für den Starfotografen in die Luft. Der schnappt in der Erinnerung vom wienerischen Deutsch ins Englische hinüber: „LIFE Magazine asked for it. LIFE Magazine got it.“ Guter Journalismus ist eben nicht selten eine Frage des Geldes.
Eine gute Geschichte braucht Zeit
Rubingers erste Geschichte, die international veröffentlicht wurde, begann damit, dass eine Nonne im sogenannten „French Hospital“ das Gebiss eines Patienten aus dem Fenster fallen ließ. Das Notre-Dame-Krankenhaus lag damals direkt an der Befestigungslinie, die das jordanisch besetzte Ostjerusalem vom israelischen Westjerusalem trennte. Nach langen Verhandlungen durften die Ordensschwestern ins Niemandsland steigen und den Zahnersatz bergen – unter den kritischen Augen eines israelischen und eines französischen Offiziers.
Ein Luxus hinter Rubingers Bildern ist die Zeit, die ihm zur Verfügung stand. „Eine gute Story braucht Zeit, viel Zeit“, erzählt der Fotograf und stellt Stimmungsstadien bei den Politikern fest, die er nicht selten tagelang auch im Privatleben begleiten durfte: „Nach zwei, drei Tagen fängst du an, ihr auf die Nerven zu gehen… schließlich ignoriert sie dich einfach… und so kam ich dann zu dem Bild, wie Golda Meir ihr Enkelkind wie eine jiddische Mamme mit dem Löffel füttert. So ein Bild bekommst du nicht, wenn du an die Tür klopfst und sagst: ‚Frau Außenminister, ich möchte gerne fotografieren, wie Sie Ihre Enkel füttern!‘ – Aber wer hat heute noch vierzehn Tage Zeit für eine Story? Dafür fehlt einfach das Geld.“
Als Fotograf von TIME-Life hatte er einzigartigen Zugang zu führenden Politikern. In seinem Archiv finden sich Bilder des verletzten David Ben- Gurion nach einem Handgranatenanschlag auf die Knesset im Oktober 1957 ebenso wie die eines schlafenden Tourismusministers namens Teddy Kollek oder ein Bild von Menachem Begin, der seiner Frau Aliza gegen Ende eines Langstreckenflugs in die USA hilft, die Schuhe anzuziehen. Seit der Ausstellung seiner Bilder im israelischen Parlament, der Knesset, im Januar 1995 darf er als einziger Fotograf überhaupt in der Cafeteria der Knesset fotografieren. Parlamentsabgeordnete haben ihn scherzhaft das „121. Knessetmitglied“ genannt.
Rubingers Markenzeichen ist ein Foto, das er im Juni 1967 von drei Soldaten machte, unmittelbar nach der Eroberung der Klagemauer in der Altstadt von Jerusalem. Die Soldaten weinten, der Fotograf weinte – während der auf dem Boden lag, um die Eroberer und einen möglichst großen Teil der alten Westmauer des herodianischen Tempelbergs auf einem Bild festzuhalten. Der Raum zwischen den Häusern und der Mauer war damals gerade einmal drei Meter weit. Kurz zuvor war David noch in El- Arisch an der Sinaifront gewesen. Er hatte Gerüchte gehört, in Jerusalem tue sich etwas, und ohne zu wissen, wohin er flog, einen Hubschrauber mit verletzten Soldaten bestiegen; in Beer Schewa eher zufällig sein Auto wiedergefunden; auf der Fahrt nach Jerusalem einen Soldaten mitgenommen und hinters Steuer gesetzt, weil er selbst zu müde zum Fahren war; in Jerusalem kurz seine Familie besucht, um dieser zu versichern, dass er noch lebe; und war dann zur Front in der Altstadt geeilt.
Anni Rubinger erkannte den Charme des Bildes sofort. David hält bis heute ein zehn Minuten später entstandenes Bild für viel wichtiger. Darauf ist Rabbi Schlomo Goren zu sehen, der mit Tora-Rolle und Schofar-Horn die zweitausend Jahre lang ersehnte Rückkehr des jüdischen Volkes an seine heiligste Stätte feiert. Deshalb schenkte er damals das Bild mit den drei Soldaten als Dank für gute Kooperation dem Sprecher der Armee, der es ans israelische Government Press Office (GPO) weiterreichte. Das GPO verschleuderte die Aufnahme für zwei israelische Pfund – „heute sind das vielleicht 10 Cent“.
In der Folgezeit wurde das Bild zu einem der meistgeraubten, d.h. illegal abgedruckten Bilder aller Zeiten. So veröffentlichte die Jerusalem Post das Bild schon drei Tage nach dem Sechstagekrieg als Werbung für Dubek- Zigaretten mit der Aufschrift: „Real Men Smoke Dubek“ – obwohl, so unterstreicht Rubinger, auf dem Bild überhaupt niemand raucht. In den 1990er-Jahren montierte Ha- Aretz den Kopf Jasser Arafats zwischen die israelischen Fallschirmspringer. Als Rubinger daraufhin vor Gericht zog, wurden ihm 35.000 Schekel Schadensersatz zugesprochen. Doch die meisten Verfahren um die Rechte für dieses Bild verlor er. „Manche Fotografen haben einfach ihren Stempel hinten auf das Bild gedrückt“, erzählt er mit einer Mischung aus Belustigung und Bitterkeit in der Stimme: „Einer davon lebt noch – und nennt sich mein bester Freund… Er weiß nicht, dass ich weiß – aber ich weiß!“ 2001 versuchte der Richter am Obersten Gerichtshof Israels, Mischael Cheschin, alle Streitigkeiten zu schlichten, indem er Rubingers Bild zum „Eigentum der ganzen Nation“ erklärte. Der israelische Schriftsteller Jossi Klein Halevi nannte das Bild mit den drei Soldaten vor der Westmauer später einmal „das beliebteste jüdische Foto unserer Zeit“.
Im Mittelpunkt
Mit seiner Kamera begleitete Rubinger alle Kriege, aber auch alle Einwanderungswellen seines Landes. Er dokumentierte den Schrecken der Terroranschläge genauso wie das Leid der arabischen Flüchtlinge oder die Freude über einen ersten Ölfund in Israel. Palästinenseraufstände und die Gründung von jüdischen Siedlungen gehören ebenso zum Repertoire seiner Bilder wie die Dreharbeiten zu Filmen wie Ben-Hur.
Seit den frühen 1980er-Jahren schleppte der eher kleine David Rubinger eine kurze Leiter mit sich herum, um aus höherer Perspektive fotografieren zu können. Dieser Gegenstand seiner Ausrüstung wurde so typisch für ihn, dass ihn in Alexandrien beim Aussteigen aus dem Flugzeug ein ägyptischer Grenzpolizist mit der Bemerkung begrüßte: „Ooooh, Abu Sulam (der Vater der Leiter) has come!“
Einige Jahre nach Annis Tod im November 2000 ließ sich David mit 78 Jahren auf eine neue Beziehung ein, mit Ziona Spivak, einer jemenitischen Einwanderin. Diese Beziehung endete auf tragische Weise, als David seine Ziona am 26. Dezember 2004 mit durchschnittener Kehle in ihrer Wohnung fand. „Plötzlich sah ich mich, der so viel Furchtbares fotografiert hatte, im Mittelpunkt des Interesses der Objektive“, erinnert sich David Rubinger an diese schreckliche Zeit. Muhammad, der palästinensische Gärtner aus Beit Omar bei Hebron, hatte 25.000 Schekel von Ziona Spivak verlangt und sich schrecklich gerächt, als seine ehemalige Arbeitgeberin dieser unverschämten Forderung nicht nachkommen wollte.
WORD-RAP
Johannes Gerloff hat beim Gespräch mit David Rubinger in dessen Stammlokal, dem Café Caffit in Jerusalem, einen „Word-Rap“ zu aktuellen Fragen versucht. Hier ein paar der prägnantesten Antworten:
Arabischer Frühling?
„Das hat der Amos Oz so schön gesagt: ein islamischer Winter! Die westliche Welt hat den Arabischen Frühling mit den Augen des Westens gesehen, nicht mit den Augen des Islam. Das ist das Problem.“
„Demokratie muss wachsen, lässt sich nicht auf Befehl verordnen. Das dauert. Der Arabische Frühling hat nur den Anschein von Demokratie. Echte Demokratie würde Meinungsfreiheit, Respekt vor der Meinung des anderen, beinhalten.“
Palästinenser…?
„… sind das Opfer der Geschichte. Wir sind auch Opfer der Geschichte. Alle waren Opfer der Geschichte. Die Serben und die Kroaten, alle sind Opfer. Die Deutschen sind die eigentlichen Opfer von Hitler. Sieh dir an, wie Deutschland ausgesehen hat! Dresden…“
Du hast selbst zehn Kriege hautnah miterlebt…?
„Jede Generation, die einen Krieg gemacht hat, sagt sich: nie wieder! Aber es ist ihr nie gelungen, dieses Gefühl der nächsten oder übernächsten Generation weiterzugeben.“
Gilt das auch für Deutschland?
„Ich denke doch, sie haben aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt und ein neues Deutschland aufgebaut!“ „Noch zwei Generationen, und das ist alles vergessen.“
Antisemitismus…?
„…ist nicht mehr mein Problem. Meinen Kindern kann nicht mehr passieren, was meinen Eltern passiert ist. Ob ich das Land nun liebe oder nicht liebe, mit all meiner Kritik an Israel – und die ist himmelhoch! –, es ist noch immer das Land, wo ich hingehen kann, wenn ihr mich nicht mehr wollt.“
Zweistaatenlösung?
„Die Palästinenser brauchen keinen Staat. Ich brauche einen palästinensischen Staat, um überleben zu können. Ich brauche einen Palästinenserstaat nicht, weil ich die Palästinenser liebe, sondern weil ich einen jüdischen Staat brauche.“
„Die Leute sagen mir: Du bist ein linksradikaler Judenfeind und denkst nur an die Menschlichkeit von den Arabern. – Sage ich: Nee, im Gegenteil: Ich bin Kahanist. Was ich mir eigentlich wünsche, ist das, was Rabbi Meir Kahane propagiert hat, nämlich, dass ich morgen aufwache und alle Araber sind aus Eretz Israel herausgeschmissen.“
„Weil das aber nicht möglich ist, bin ich linksradikal. Dass unmöglich ist, wovon ich träume, ist der einzige Grund dafür, dass ich einen Palästinenserstaat will – nicht Menschlichkeit. Es gibt keine Menschlichkeit in der Geschichte. Deshalb bin ich ein linksradikaler Kahanist.“
Was spricht eigentlich gegen einen binationalen Staat?
„Das haben wir in Jugoslawien versucht, das geht in Irland nicht, die Holländer haben Probleme damit, das geht kaum noch in Kanada. Das geht einfach nicht! Das ist Blödsinn! Bi- oder mehrnationale Staaten sind nur möglich… sieh dir Jugoslawien an: Solange ein Diktator namens Tito da war, hat’s gehalten. Sobald die Demokratie kam: Serben morden Kroaten, Kroaten morden Mohammedaner, Mohammedaner morden Serben – jeder ist gegen jeden.“ „Ich brauche einen jüdischen Staat wegen der Welt. Wenn in Amerika morgen die Wirtschaft zusammenbricht, glaube mir, werden genug Amerikaner sagen: Das sind die Juden! Was in Deutschland passiert ist, kann in Amerika noch viel leichter passieren. Wenn morgen in Amerika die Juden verfolgt werden, brauchen wir einen Staat als Zufluchtsort. “