Ignaz von Kolisch und die vergessenen Gräber der jüdischen Meister von Wien.
Von Anatol Vitouch
Ich erwarte Michael Ehn an einem Hochsommertag um neun Uhr Vormittag am Wiener Zentralfriedhof. „Treffen wir uns gleich bei Tor 1“, hat er gesagt, als wir uns verabredet haben, „und treffen wir uns früh, sonst wird es zu heiß.“ Ehn ist seines Zeichens Schachhistoriker, Inhaber des Fachgeschäfts „Schach und Spiele“ in der Gumpendorferstraße und nebenbei Co-Autor der renommierten Schachkolumne in der Wochenendausgabe des Standard. In seiner Freizeit begibt er sich regelmäßig zum Zentralfriedhof.
„Manchmal muss ich mich durch meterhohes Gras kämpfen“, erzählt Ehn, nachdem er aus der Straßenbahn gestiegen ist und wir den alten jüdischen Teil des Friedhofs betreten haben. Auch Begegnungen mit Rehen sind hier an der Tagesordnung. Dass große Bereiche des ältesten und größten konfessionellen Teils des Friedhofs 1945 durch fehlgeleitete Fliegerbomben zerstört wurden, ist heute noch zu erkennen. Und auch die Aufzeichnungen darüber, wer hier vor der Nazizeit beigesetzt wurde, sind alles andere als vollständig. Ehn aber arbeitet unermüdlich daran, wenigstens die Liste der hier ruhenden jüdischen Schachmeister zu komplettieren.
„Manche Gräber sind schon so verfallen, das bricht einem das Herz“, schach sagt er. Wir schlendern gerade eine der großen, aufgeräumten Friedhofsalleen entlang, auf denen es schwer vorstellbar ist, dass zwanzig Meter weiter rechts das Dickicht beginnt. „Von einigen Grabsteinen hab ich schnell noch die hebräische Inschrift abnotiert, bevor man sie gar nicht mehr wird lesen können. Aber bei den meisten ist es schon zu spät.“
„Who is Who“ der Schachkunst
Etwa fünfundzwanzig Namen umfasst die Liste der von Michael Ehn aufgespürten jüdischen Schachmeister- Gräber bis jetzt. Und sie liest sich wie ein „Who is Who“ der Schachkunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Einige der Namen hat auch heute noch jeder Schachamateur im Ohr: Zum Beispiel jenen von Richard Réti (1898–1929), Vater der „hypermodernen“ Spielweise und einer der stärksten Spieler seiner Zeit; oder Markus Kann (1820–1886), Mitbegründer der gerade wieder sehr in Mode gekommenen Caro-Kann-Verteidigung (1.e4 c6 2.d4 d5); oder aber den Namen des aus Bukarest stammenden Adolf Albin (1848–1920), Erfinder von Albins Gegengambit (1.d4 d5 2.c4 e5!?), bis heute Schreckgespenst aller nach einem ruhigen Partieverlauf strebenden Weißspieler. Die Namen großer Meister wie Berthold Englisch (1851–1897), für 1881 auf Platz zwei der nachträglich berechneten Weltrangliste geführt, stehen neben denen kleinerer wie Philipp Meitner (1838–1910), Vater von Lise Meitner und Studienkollege des ersten Schachweltmeisters Wilhelm Steinitz.
Beeindruckt frage ich Michael Ehn, wie ihm all diese Funde gelungen sind. Wie man es von einem Historiker erwartet, hat er diverse schwer zugängliche Quellen zu den Biographien derjenigen Meister studiert, von denen er den Verdacht hatte, sie könnten hier zu finden sein. „Aber vieles war auch einfach nur Zufall“, sagt er. „Wenn man hier entlang spaziert und die Augen offen hält, dann stolpert man fast alle paar Meter über einen aus der Schachliteratur bekannten Namen.“
Ignaz von Kolischs Grab
So kam es auch zur Entdeckung jenes Grabes, vor dem wir gerade stehen und an dem mein Begleiter mir als erstes ein ungewöhnliches Wappen präsentiert. „Das Wappen des Schachbarons“, sagt Michael Ehn. Es ist das Grab des aus Pressburg stammenden Barons Ignaz von Kolisch (1837–1889), und tatsächlich zeigt das Wappen ein Schachbrett und zwei Figuren, dazu einen Schlüssel, dessen Bedeutung selbst der studierte Historiker noch nicht herausgefunden hat.
Kolisch war unbestritten einer der allerstärksten Spieler seiner Zeit. 1867 gewann er das internationale Turnier im Rahmen der Weltausstellung in Paris vor Steinitz und Winawer. Der erste Preis bestand aus fünfhundert Francs in bar und einer Sèvres-Vase im Wert von 5.000 Francs, die von Kaiser Napoleon III. gestiftet wurde.
Große internationale Turniere fanden damals allerdings bestenfalls alle paar Jahre statt. Ob Kolisch seine napoleonische Vase versetzte, um sich ein Startkapital zu schaffen, ist nicht überliefert. In jedem Fall nützte er die neben dem Berufsschachspiel frei bleibende Zeit, um an der Pariser Börse ein Vermögen zu machen und freundete sich en passant mit dem späteren französischen Staatspräseident Jules Grévy sowie mit Baron Albert Rothschild an, der von 1872 an Präsident der Wiener Schachgesellschaft war.
Kolisch betätigte sich fortan selbst als Schachmäzen, wurde 1881 vom kulturaffinen Herzog von Sachsen- Meiningen in den Adelsstand erhoben und ließ sich in Wien nieder, wo er die liberale Wiener Allgemeine Zeitung kaufte, für die er selbst Artikel verfasste und für die auch Alfred Polgar schrieb. „Ich habe in sechzig Jahren nur einen Schachspieler gesehen, der aus dem Schachspiel Geld geholt und es auch bewahrt hat“, sagte der ungarische Großmeister Isidor Gunsberg einmal mit Bezug auf Kolisch. Michael Ehns Recherchen aber legen nahe, dass Kolisch sich mit dem Kauf der Zeitung finanziell ruinierte, am Ende also doch ein typisches Schachspielerschicksal erlitt.
„Kolischs Grab ist noch in relativ gutem Zustand, nur diese Säule ist schon einmal hinuntergefallen, dann hab ich sie wieder hinaufgestellt“, sagt Ehn. Er erzählt, dass der Wiener Schachverband möglicherweise für die Instandsetzung von ein paar Gräbern aufkommen werde. „Aber es gibt halt so viele!“, seufzt er. Wir machen uns auf den Weg zurück zum 1. Tor. „Sie schreiben also eine Serie über jüdische Schachmeister“, fragt Ehn zur Verabschiedung und ich bejahe. „Na, bis Sie da mit allen durch wären, gibt’s die Zeitung, für die Sie schreiben, wahrscheinlich schon nicht mehr“, schmunzelt er, bevor er in seine Straßenbahn steigt.