Seit 1989 lädt der Jewish Welcome Service vertriebene österreichische Jüdinnen und Juden nach Wien ein. Zuletzt besuchten Anfang Oktober etwa 80 Personen, unter anderem aus Israel, Argentinien, Peru, Australien, Großbritannien und den USA, ihre ehemalige Heimatstadt.
Von David Rennert (Text und Foto)
„Nehmen Sie doch auch ein Stück Sachertorte! Oder vielleicht lieber Gugelhupf?“, fragt Hedi Argent. Die 84-Jährige sitzt mit rund 80 jüdischen Wienerinnen und Wienern, die aus ihrer Heimatstadt vertrieben worden waren, im Stadtsenatssitzungssaal des Wiener Rathauses. Sie sind auf Einladung des Jewish Welcome Service (JWS) aus aller Welt angereist. Die meisten von ihnen waren noch Kinder, als sie vor den Nationalsozialisten fliehen mussten. Die wenigsten kehrten jemals nach Wien zurück.
Gerade hat Stadtrat Christian Oxonitsch (SPÖ) die Gäste zu einer „Wiener Jause“ im Rathaus empfangen und in seiner Ansprache erzählt, wie sehr sich die Stadt seit 1938 verändert habe. Dass heute wieder jüdisches Leben in Österreich existiere und man stolz darauf sei. Der Applaus ist verhalten.
„Es ist schwer, hier zu sein“, sagt Hedi Argent in akzentfreiem Deutsch. „Aber es ist eine andere Generation, man kann nicht immer nur herumsitzen, man muss weitergehen. Ich hoffe, wir können alle weitergehen.“ Seit 74 Jahren lebt sie in England. Dass sie einmal im Wiener Rathaus Kaffeetrinken würde hätte sie nicht gedacht.
Schulbesuch verboten
1929 als Hedi Schnabl in Schwechat geboren, erinnert sich Argent noch genau an die Ereignisse im März 1938: Als eines von drei jüdischen Schulkindern der Schwechater Volksschule wurde ihr bereits am Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs an NSDeutschland der weitere Schulbesuch verboten. Es sei kein Platz für Juden, hieß es vom Direktor lapidar. Dem Vater wurde seine Anwaltskanzlei weggenommen, er musste unterschreiben, dass er sie freiwillig der „arischen“ Konkurrenz überlasse. Auch die Schwechater Wohnung der Eltern wurde „arisiert“, ein Parteimitglied der NSDAP zog ein.
Die Familie übersiedelte nach Wien, lebte in der leerstehenden Wohnung einer Bekannten, die Österreich bereits verlassen hatte. Der Vater, ein bekannter Strafverteidiger, erhielt eine Arbeitsgenehmigung als „juristischer Assistent“ eines „arischen“ Anwalts. Als er sich vor Gericht für einen Juden einsetzte, der einen Pass gefälscht hatte, um ausreisen zu können, wurde er auf der Stelle verhaftet.
Rettung vor Pogromnacht
„Sechs Wochen lang haben sie ihn in die Roßauer Kaserne gesperrt“, erzählt Argent. „Wir hatten große Angst um ihn, aber letztlich hatte er Glück im Unglück.“ Denn er hätte am Abend jenes 10. Novembers freikommen sollen, an dem die Novemberpogrome in Wien ihren Höhepunkt erreichten. Ein Wachebeamter, den er noch von seiner Arbeit als Anwalt kannte, warnte ihn davor, die Zelle zu verlassen. So blieb er freiwillig in der Kaserne, während draußen die Wiener Synagogen brannten, dutzende Jüdinnen und Juden ermordet und tausende verhaftet wurden.
Nach seiner Entlassung übersiedelte die Familie ein letztes Mal innerhalb Österreichs, nach Dornbach im 17. Wiener Gemeindebezirk, wo eine Cousine der Mutter gelebt hatte. In der Innenstadt war es zu gefährlich, ständig kam es zu Übergriffen auf die jüdische Bevölkerung, erinnert sich Argent. Im Juli 1939 gelang es schließlich, eine Ausreisegenehmigung nach England zu erhalten und Österreich zu verlassen. Bis heute lebt Argent in London, wo sie studierte und eine Familie gründete.
1968 kam sie einmal nach Wien, reiste aber umgehend wieder ab. „Als ich das erste Mal auf der Straße Wienerisch gehört hab, bin ich weggerannt“, erzählt sie. „Ich habe es nicht ausgehalten“. Der Jewish Welcome Service habe sie schon öfter eingeladen, nie wollte sie kommen. Diesmal sei es anders gewesen, erzählt sie. Der Wunsch, Wien noch einmal zu sehen, sei stärker geworden. Auch, um österreichischen Schulkindern ihre Lebensgeschichte erzählen zu können.
Nach dem Krieg wieder in Wien zu leben war für Hedi Argents Familie keine Option. „Der Vater wäre vielleicht zurückgegangen, aber für meine Mutter war es unmöglich“, erzählt die 84-Jährige. „Sie wollte von Österreich nichts wissen, nicht darüber sprechen – sie hätte nicht einmal erlaubt, auf einer Reise in Österreich umzusteigen. Und ich? Ich bin Londonerin“, lacht Hedi Argent.
Alles vergessen
Lilly Drukker nickt verständnisvoll. Sie sitzt mit ihrem Mann am Nebentisch und hat unserem Gespräch zugehört. „Ich fühle mich auch nicht als Wienerin, aber die Stadt ist ein Teil meines Lebens. Auch wenn ich das lange verdrängen wollte.“ Als Zwölfjährige kam Drukker mit einem Kindertransport nach England, später ging sie mit ihrer Familie in die USA. „Als ich jung war, wollte ich einfach Amerikanerin sein, alles vergessen, was davor passiert ist“, sagt sie. Jahrzehntelang sprach die heute 86-Jährige mit niemandem über ihre Kindheit, heute ist ihr das Erzählen aber ein Bedürfnis geworden.
Lilly Drukker wuchs im 20. Wiener Gemeindebezirk auf, die Familie wohnte in der Klosterneuburgerstraße. Sie besuchte eine öffentliche Volksschule und anschließend – bis zum „Anschluss“ – das Brigittenauer Gymnasium am Augarten. Am Morgen des 11. Novembers 1938, als Hedi Argents Vater noch in einer Zelle der Roßauer Kaserne saß, beobachtete Lilly vom Wohnzimmerfenster aus, wie ein Lastwagen vor dem Haus hielt. Bewaffnete SS-Männer stiegen aus und klingelten beim Hausmeister. Sie fragten, ob Juden im Haus wohnten, erfuhr sie später.
„Wir konnten hören, wie sie in ihren schweren Stiefeln die Treppe hochkamen, im nächsten Moment schon hämmerten sie an unsere Tür und brüllten irgendetwas“, erinnert sich Drukker. Die SS-Männer durchsuchten die Wohnung und verhafteten den Vater, ein Mitglied der Wiener Philharmoniker. Niemand wusste, wohin sie ihn brachten.
Post aus Dachau
„Meine Mutter hat mich geschnappt und wir sind zum Büro der Philharmoniker gefahren. Sie erzählte jemandem aus dem Vorstand, was passiert war, ich weiß nicht mehr, wie er hieß.“ Er könne in der Sache derzeit nichts tun, aber man solle ihm mitteilen, wenn man etwas vom Vater höre, sagte er. Dass der Mann selbst NSDAP-Mitglied war und sich schon vor dem „Anschluss“ als „Illegaler“ betätigt hatte, wusste die Mutter.
Zwei Wochen später kam eine Postkarte aus Dachau. „Es geht mir gut“, schrieb der Vater, sonst nichts. Immerhin kannte man nun seinen Aufenthaltsort. Die Mutter wandte sich erneut an den Vorstand der Philharmoniker, einige quälende Wochen später kam der Vater frei. „Offenbar hat der Nazi seinem jüdischen Kollegen geholfen – eine seltsame Geschichte“, sagt Drukker.
An ihrem zwölften Geburtstag, im Jänner 1939, kam Lilly Drukker mit einem Kindertransport zu einer jüdischen Familie nach England. Später gelang auch den Eltern und den beiden älteren Brüdern die Ausreise, die Familie emigrierte nach New York. Dort lernte sie auch ihren Ehemann kennen, mit dem sie mittlerweile in Philadelphia lebt. „Ohne ihn wäre ich heute sicher nicht hier, er unterstützt mich sehr“, sagt sie und lächelt ihn liebevoll an.
„Ich habe erst spät realisiert, wie sehr mich die Erlebnisse in meiner Kindheit mitgenommen haben“, erzählt Lilly Drukker. Seit sie sich nach langem Zögern im März zu der Reise nach Wien entschloss, sind die Erinnerungen an damals wieder präsenter geworden, gute wie schlechte. „Und jetzt sitze ich im Wiener Rathaus. Ich kann es eigentlich gar nicht glauben.“