Michail Tal war einst jüngster Weltmeister der Schachgeschichte. Sein Schachstil war spektakulär und mutig und er galt als hervorragender Schachkommentator.
Von Anatol Vitouch
Michail Tal war kein „Sowjetmensch“. Diese Feststellung ist insofern von Relevanz, als sich die Sowjetunion nach 1945 intensiv bemühte, das Weltschach für Jahrzehnte zu dominieren – und zwar mit Erfolg: Zwischen 1948 (dem Jahr der ersten Nachkriegs-WM) und 2007 (sic!) war der Weltmeistertitel fast durchgehend in russischer Hand; unterbrochen nur von einem dreijährigen Intermezzo 1972–75, für das ein gewisser Mr. Bobby Fischer verantwortlich zeichnete.
Allerdings konnte sich die politische Führung, die ihre Geistesheroen als leuchtende Vorbilder präsentieren wollte, nicht immer aussuchen, wer das Zepter für Mütterchen Russland gerade in Händen hielt. Hätte sie es gekonnt, dann wäre Michail Nechemjewitsch Tal kaum in die engere Auswahl gekommen. Dabei war der 1936 im lettischen Riga in eine jüdische Familie geborene Tal kein politischer Dissident. Er soff nur zeitlebens wie ein Loch, rauchte – auch am Brett – Kette und war lange Jahre morphiumabhängig. Er wurde mit nur drei Fingern an seiner rechten Hand geboren, war schon in seinen frühen Zwanzigern chronisch krank und musste sich mit Anfang Dreißig eine Niere entfernen lassen.
Auch Tals Schachstil war aus Sicht eines totalitären Systems alles andere als vorbildhaft. Gerade hatte der „Patriarch“ der russischen Schachschule, Michail Botwinnik, das Zeitalter des wissenschaftlichen Schachs ausgerufen – und trat dabei nicht zufällig mit ähnlich doktrinärem Anspruch auf wie die Proponenten des „wissenschaftlichen“ Marxismus- Leninismus.
Da erschien plötzlich ein blutjunger Literaturstudent in den Turniersälen Moskaus, der selbst stärkste Gegner reihenweise mit irrationalen Opfern niederstreckte. Wenn Michail Tal am Brett saß, schien die positionelle Schwerkraft des Spiels aufgehoben. Figuren taumelten auf unwahrscheinlichen Routen über das Brett und in jeder noch so harmlos wirkenden Stellung gelang es „Mischa“, eine Bresche zum gegnerischen König zu schlagen.
Ein verspäteter Surrealist des Spiels
Bald nannte man Tal ehrfürchtig den „Hexenmeister“ und verdächtigte ihn hypnotischer Fähigkeiten. Nur so schien manchen erklärbar, dass seine Kombinationen sich in der nachträglichen Analyse oft als fehlerhaft erwiesen, am Brett jedoch fast immer tödliche Wirkung entfalteten. Der US-amerikanische Großmeister Pál Benkő trat gegen Tal einmal ernsthaft mit Spezialbrille an, um sich vor dessen hypnotischem Blick zu schützen – und verlor natürlich trotzdem.
Nein, ein solcher Bohemien, ein verspäteter Surrealist des Spiels, der Schach als Kunst betrachtete und Partien gerne mit Gedichten verglich, taugte absolut nicht als Prototyp des neuen Menschen, wie man ihn sich im Kreml vorstellte.
Schon 1960 aber war es so weit: Der erst 23-jährige Tal besiegte Weltmeister Botwinnik in Moskau mit sechs zu zwei Gewinnpartien bei dreizehn Remisen und krönte sich damit zum damals jüngsten Weltmeister der Schachgeschichte.
Allerdings hatte der Ex-Weltmeister laut Reglement des Weltschachbundes das Recht auf Revanche im Folgejahr. Botwinnik brütete ein Jahr lang über Tals Partien und legte sich eine Matchstrategie für den Rückkampf zurecht.
Und was tat Tal? Er schrieb ein Buch über den vergangenen Wettkampf, in dem er sein Spiel verständlich zu machen versuchte und seinem Gegner damit unbezahlbares Material für dessen Vorbereitung lieferte. Tals Buch gilt vielen bis heute als beste Schachpublikation aller Zeiten. Das WM-Match 1961 allerdings verlor er mit fünf zu zehn Gewinnpartien bei nur sechs Remisen. An seiner Niederlage war neben gesundheitlichen Problemen auch schuld, dass der „Luftmensch“ Tal nach dem Gewinnen des Titels kaum noch zum Trainieren zu bringen war, wie sein Trainer Alexander Koblenz später berichtete.
Botwinnik war also wieder Weltmeister und die Gesetze der Physik schienen auch auf dem Schachbrett wieder intakt. Tal jedoch gab keine Ruhe. Noch drei Mal stieß er bis ins Kandidatenturnier vor, in dem der WM-Herausforderer ermittelt wird, und scheiterte dort jeweils nur knapp. Von Oktober 1973 bis Oktober 1974 blieb er für 95 Turnierpartien in Folge ungeschlagen – bis heute einsamer Rekord auf Weltklasseniveau.
1988 zeigte Tal dann, dass es vielleicht nur eine Sache gab, die er noch besser beherrschte als Schach: Blitzschach. Bei der WM im Spiel mit nur fünf Minuten Bedenkzeit pro Partie deklassierte der 51-jährige, schwerkranke Ex-Weltmeister die gesamte Weltelite.
Neben seinen Erfolgen am Brett pflegte Michail Tal auch weiterhin kontinuierlich seine Fähigkeiten als Schachschriftsteller. In seiner Autobiographie erzählt er eine berühmt gewordene Anekdote: Während einer komplizierten Partie gegen Großmeister Wasjukow bei der UdSSR-Meisterschaft denkt Tal über die Möglichkeit nach, eine Figur zu opfern. Die Varianten, die er zu berechnen sucht, scheinen ihm allzu komplex; er hat das Gefühl, den Überblick zu verlieren. Plötzlich fällt ihm aus dem Nichts ein russischer Kindervers ein: „Oh, wie schwierig es war, das Nilpferd aus dem Sumpf zu ziehen“.
Plötzlich erliegt Tal einer heftigen Zwangsvorstellung. Er kann nicht mehr über die Partie, sondern nur noch darüber nachdenken, mit welchen technischen Mitteln man ein Nilpferd tatsächlich aus einem Sumpf ziehen könnte! Als er sich nach geraumer Zeit wieder fasst, erscheint ihm die Position am Brett plötzlich gar nicht mehr so schwierig. Ohne weitere Berechnung opfert er, seiner Intuition folgend, die Figur – und gewinnt schließlich. Tal: „Am nächsten Tag genoss ich es, in der Zeitung zu lesen, wie Michail Tal nach vierzigminütigem, gründlichem Nachdenken ein akkurat berechnetes Figurenopfer gebracht hatte.“
Gestorben ist Michail Tal 1992. Einen Monat vor seinem Tod verließ er das Spital, um an der Moskauer Blitzmeisterschaft teilzunehmen, bei der er den damals regierenden Weltmeister Gary Kasparow besiegte. Seit 2006 findet in Moskau jährlich das Tal-Memorial, ein Weltklasseturnier im Gedenken an den 8. Weltmeister der Schachgeschichte statt.