Lenka Reinerová (1916–2008) wuchs im Prag der 30er-Jahre auf. Sie war befreundet mit Max Brod, Franz Werfel und ihrem Mentor Egon Erwin Kisch. Von den Nazis und Kommunisten verfolgt, reiste sie durch die Welt. Eine Hommage an die letzte Vertreterin der deutschsprachigen Literatur in Prag.
Von Peter Weinberger
Eine kleine alte Frau schlendert durch Prag, durch ihr Prag, durch das Prag, das ihr einst – vor der deutschen Okkupation – so vertraut war. Sie – Lenka Reinerová – ist nicht allein, ein imaginärer Begleiter, Egonek (Egon Erwin Kisch), der im Café Slavia gleichzeitig an drei Tischen zu sitzen scheint, folgt ihr gelegentlich bei der Suche nach der kleinen Konditorei und den anderen Geschäften in der Nähe ihres ehemaligen Redaktionsbüros, beim Bemühen, das kleine Dachzimmer, in dem sie seinerzeit wohnte, wiederzusehen, oder beim ziellosen Herumwandern durch alte Gassen. Amüsiert stellt sie fest, dass überall, selbst in der Fleischhauerei, in der der Besitzer am ersten Tag der Besetzung Prags durch die sowjetischen Truppen (1968) seine Waren verschenkte, damit sie den Russen nicht in die Hände fallen, nunmehr böhmisches Glas und Porzellan verkauft wird. Doch wo immer ihre Spaziergänge sie auch führen, das eben Gesehene verbindet sich mit Erinnerungen an ihre eigene Geschichte, denn „Was einst gewesen ist, bleibt in uns“.
Lenka Reinerová, der allerletzten im (klassischen) Prager Deutsch schreibenden Schriftstellerin, blieb keine einzige Station beim Durchqueren der Hölle des 20. Jahrhunderts erspart. Ihre Erinnerungen an diese Stationen dringen während ihrer Spaziergänge durch Prag teils als Assoziationen an die Oberfläche, teils geben sie, literarisch verpackt, Befragungen durch internationale Kamerateams wieder, als sie schon längst Berühmtheit erlangt hatte.
Just in dem Augenblick, als sie beim Herumschweifen eine Reklametafel für den bevorstehenden Marathonlauf in Prag sieht, aus der ihr zur Erregung der öffentlichen Aufmerksamkeit die „großen dunklen Augen Kafkas“ entgegenblicken, wird ihr klar, wie sehr Prag in ihrem Inneren verankert ist, und, wo immer sie gewesen ist, sie stets gewillt war, das intensiv erlebte Neuartige nach Prag, nach Hause, mitzunehmen.
Zeitzeugin des 20. Jahrhunderts
„Am Anfang der Vierzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, als der Zweite Weltkrieg erst im vollem Anlauf war …, gab es an der Mittelmeerküste im Süden Frankreichs noch ein kleines Stück unbesetzten Territoriums, einen Notausgang aus dem geplagten, in Todesgefahr schwebenden und Todesgefahr verbreitenden Europa: den Hafen von Marseille …“. Und weil sie viele Jahre später als Zeitzeugin Teil eines Dokumentarfilms war und in Marseille unbedingt sofort den Bahnhof sehen wollte, erzählt sie den Filmleuten: „Nach einem halben Jahr in einem Paris Gefängnis [Frauengefängnis La Petite Roquette] und schon über einem Jahr in Rieucros [Camp de Rieucros], einem Internierungslager für Ausländerinnen in Zentralfrankreich, erhielt ich am Anfang des Jahres 1941 ganz überraschend … einen Urlaubsschein [nach Marseille], um meine Ausreise aus dem Land betreiben zu können“. Sie erzählt, wie sie sich vorbei an den Polizeisperren rund um den Bahnhof schwindeln konnte und dann plötzlich das „uferlose Meer im strahlendem Sonnenlicht funkeln“ sah. „In diesem Augenblick fühlte ich mich nach beinahe zwei Jahren zum ersten Mal wieder frei. Die offene Weite vor meinen Augen rief ein bislang unbekanntes Glücksgefühl in mir hervor“.
Die weitere Flucht führte sie allerdings zunächst nur nach Nordafrika, nach Casablanca, „wo ich während meiner Exilzeit ein halbes Jahr einen zwar unfreiwilligen, aber dennoch unvergesslichen Aufenthalt verlebte … “, zum Teil wieder in ein Anhaltelager für gestrandete Ausländerinnen. Die immer wieder eingestreuten Erinnerungen, wie etwa an das endgültige Emigrationsland Mexico, wo sie – wie in Prag und Paris – in der unmittelbaren Nachbarschaft von ihrem Mentor Egon Erwin Kisch wohnte, weisen meist keinerlei Verbitterung auf – im Gegenteil. Mit kahlen Wartesälen zum Beispiel verbindet sie eigentlich nur angenehme Erinnerungen: in Casablanca, tagelang im Hauptpostamt sitzend und den Schalter ‚Post lagernd‘ fixierend; in Mexico, gemeinsam mit den beiden Zeugen (einer davon war Egon Erwin Kisch) und vielen anderen Paaren auf die standesamtliche Trauung wartend. Die ihr zu diesem Anlass geschenkten weißen Rosen verteilt sie nach der Amtshandlung unter der Schar der unehelichen Kinder der Mitwartenden, mit der Bitte, sie an ihre Mamitas weiterzugeben, für welche die Hochzeitsblumen eine viel zu teure Ausgabe gewesen wären. Und plötzlich beherrscht Lachen und Fröhlichkeit das Wartezimmer.
Oder viele Jahre später, als sie sich erneut einer Krebsbehandlung unterziehen musste: „Mein erster Besuch in diesem Wartezimmer fand an einem ungewöhnlich warmen, beinahe heißen Herbstmorgen statt … ‚Mein Kopf verlangt Lüftung‘, verkündete plötzlich eine der Patientinnen, hob die Hand und schon wirbelte ihre Perücke durch die Luft. … ‚Richtig‘, ließen sich aus der Runde in der Ecke nahezu fröhliche Stimmen vernehmen, und zwei weitere Perücke landeten gleichfalls vom Kopf im Schoß ihrer Besitzerinnen. Alle lachten. Ich hatte das Gefühl, in gute Gesellschaft geraten zu sein“.
Bitterkeit verbindet sie bloß mit dem Prager Polizeigefängnis, in dem sie in Folge der Slánský-Prozesse (1952) eineinhalb Jahre als Untersuchungshäftling verbrachte und – ohne je vor Gericht gestellt zu werden – anschließend aus Prag verbannt wurde. „Als ich in diesem Gefängnis als Untersuchungshäftling Tage und Nächte, Wochen und Monate gedemütigt und schikaniert, ohne jeglichen Beistand und mit nur mühselig entfachten Fünkchen Hoffnung verlebte und überlebte, mussten viele Menschen, die in demselben Korridor atmeten oder mit mir zusammen im Aufzug, gleichfalls mit verbundenen Augen, irgendwohin transportiert wurden, gewaltsam umgebracht, unschuldig sterben.“
Das ganz Besondere an Lenka Reinerovás Erzählungen sind nicht die beschriebenen Irrwege einer Flucht aus Europa, die Begegnungen mit Trotzki oder die Freundschaft mit Fri(e)da Kahlo und Diego Rivera in Mexico, es ist die Sprache, die sie verwendet. Der Verleger Klaus Wagenbach meinte einmal, „wenn Sie wissen wollen, wie Kafka gesprochen hat, dann hören Sie der Reinerová zu“. Es sind kurze Sätze, in denen sie eine unvermutete, mitunter ungewöhnliche Kombination von Worten verpackt. Fast fröhlich, wie etwa in: ‚Mein Haus [in der Melantrichgasse, in der sich ihr geliebtes Dachzimmerchen befand] hat eine gründliche Metamorphose über sich ergehen lassen, ist anders geworden wie alles ringsum auch. Aber es steht und lebt. Und es ist abermals eine kulturelle Einrichtung und keine obszöne Touristenattraktion. Schämst du dich nicht ein bisschen, Melantrichgasse?“
Oder nachdenklich bei einem sich zufällig ergebenden Besuch in dem Viertel rund um den alten jüdischen Friedhof: „Wen suchte ich hier? Wem hoffte ich insgeheim zu begegnen? Warum wird es immer so still in mir, wenn ich durch diese Gassen gehe?“
Manche betrachten Reinerovás Bücher als eine Art literarisches Testament, als eine größtenteils freundliche Abrechnung mit einem unmenschlichen Jahrhundert. Mit Sicherheit stellen sie das allerletzte Lebenszeichen einer literarischen Sprache dar, die die Literatur eben dieses Jahrhunderts größtenteils dominierte, der Sprache Kafkas.