Die Generalsekretärin des Nationalfonds liebt ausgefallene Schuhe, weiß, wie man die Wüste urbar macht und redet am liebsten über ihre Arbeit. Das hat sie eislaufend mit Peter Menasse unter Beweis gestellt.
Von Peter Menasse (Text) und Jacqueline Godany (Fotos)
Hannah Lessing ist eine öffentliche Person. In den Medien sieht man die Generalsekretärin des „Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus“ meist staatstragend bei Gedenkveranstaltungen, bei Podiumsgesprächen oder ähnlichen offiziellen Gelegenheiten. Die zweite Lessing ist die warmherzige Person, die Schoah-Opfern der ersten oder zweiten Generation hilft und zuhört.
Aber wer ist diese Frau außerhalb der offiziellen Aufgaben? Das wollte ich wissen und habe die Generalsekretärin aufs Eis geführt. Es beginnt mit einer unfairen Streberei. Während ich noch überlege, ob ich mich wirklich auf die glatte Fläche wagen soll, ist sie schon eine Dreiviertelstunde Probe gefahren. Seit zehn Jahren sei sie nicht mehr eisgelaufen, behauptet sie. Dabei schleift sie dahin, als ob sie Mitglied von „Holiday on Ice“ wäre. Bald ist klar, dass unser Gespräch nur nahe der Bande und nicht ständig beim Herumfahren stattfinden kann. Zu groß ist der Unterschied im Eislaufkönnen. Lessing zeigt mir stolz ihre Eislaufschuhe. „Die hat mein Freund Thomas seiner Mutter vor 30 Jahren gekauft und sie hat sie nie aus der Schachtel genommen“, sagt sie, „das ist ein Kultschuh, Adidas Cindy“. Sogar der Schuhverkäufer am Platz des Wiener Eislaufvereins hätte voll Bewunderung auf diese Prunkstücke geschaut. Im Laufe der nächsten Stunde beginnt der Schuh dann allerdings arge Falten zu bekommen. Klar auch, Mumien darf man nicht einfach aus ihrem Behältnis nehmen und dem Sauerstoff aussetzen. Die Cindys werden wohl nur einmal in ihrem Eislaufschuh-Leben gefahren worden sein.
Ob sie sich beruflich auch auf glattem Eis bewege, frage ich sie zu Anfang. „Allerdings“, meint sie, „das ist oft sehr dünnes und äußerst rutschiges Eis.“ Konkret ginge es ihr darum, kritisch zu bleiben, aber doch auf alle Interessen jener zu achten, die sie für die gute Sache braucht. Denn noch lange sei die große Aufgabe nicht beendet. Je mehr sie sich in Schwung redet, desto schwingender werden auch ihre Eislaufbewegungen. Ich kämpfe, keuche und höre zu.
Was eine total engagierte Generalsekretärin ist, bleibt auch auf dem Eis eine Generalsekretärin: „So lange es auch nur einen Überlebenden gibt, geht unsere Arbeit weiter. Die Menschen brauchen eine Stelle, wo sie anrufen, wo sie Hilfe holen können und Fragen wie solche nach Therapie oder Pflegegeld beantwortet bekommen“.
Zuletzt hat der Fonds neue Aufgaben innerhalb der Kunstrestitution für jene Gegenstände übernommen, wo es keine Erben gibt. Dann ist man dabei, den Österreich-Pavillon in Auschwitz-Birkenau neuzugestalten, nachdem die bisherige, irreführende und veraltete Einrichtung bereits im Oktober abgebaut worden ist. Schließlich ist der Nationalfonds auch noch bei den jüdischen Friedhöfen aktiv, eine Aufgabe, die auf 20 Jahre angelegt ist. Lessing und ihr Team werden also weiter gebraucht, auch wenn derzeit weniger über die Aktivitäten berichtet wird. „Die Themen“, so Lessing, „sind nicht ‚juicy‘ genug, aber dennoch echt wichtig“.
Ich komme zu Atem und kann das Gespräch auf das Thema Eislaufen zurückführen. Nahezu alle gebürtigen Wiener sind als Jugendliche zum Eislaufen in die Lothringerstraße gegangen, um hübsche Mädchen zu treffen. Das war früher so etwas wie eine Disco heute. Bei Lessing und ihren Mitschülerinnen sei es anders gewesen, sagt sie, sie hätten sich die feschen jungen Männer schon selbst mitgebracht. Aber eine ihrer Kolleginnen aus dem Nationalfonds hat tatsächlich am Wiener Eislaufverein im zarten Alter von dreizehn Jahren ihren späteren Mann kennengelernt.
Das Kind Hannah war eine ehrgeizige Geräteturnerin. Begonnen hat sie mit sechs Jahren bei Union Wien 9. Am Anmeldeformular stand „Wir turnen im christlichen Sinn.“ Aber immerhin gab es eine Zeile, wo man die Religionszugehörigkeit ausfüllen konnte, und da war dann „mosaisch“ auch kein Problem. Einmal im Jahr turnte sie beim „Turnvater Jahn- Gedächtnisturnen“ und kümmerte sich ansonsten wenig um Ideologie, sondern mehr um ihr Lieblingsgerät, den Stufenbarren. Sie sei immer eher kräftig gewesen, nicht der elegante Typ für den Balken. „Kräftig“, sagt sie, fährt vor mir her und ich denke, kaum das Tempo halten könnend, „wem sagt sie das?“
Heute spielt Lessing lieber Golf, erzählt von Handicap 14.7, von dem ich annehme, dass es toll ist, weil sie einen gewissen Stolz nicht verbergen kann. Vor zwei Jahren hat sie bei den Maccabi-Spielen in der allgemeinen Klasse die Bronzemedaille gewonnen. Viele junge Spielerinnen hatten zwar ein deutlich besseres Handicap, aber nicht die durch harte Verhandlungen erworbene innere Ruhe der Kämpferin.
Ich kämpfe auch weiter und versuche das Thema von der Arbeit (lädt sie mit zu viel Energie auf) und dem Sport (lässt sie zu eisläuferischer Hochform auflaufen) auf andere Bereiche ihres Lebens zu bringen. Endlich an der Bande stehend, reden wir von Hollywood.
Lessing sang als Schulkind im Chor und spielte Theater. Was hat diese Frau eigentlich ausgelassen? Sie habe wie jedes Mädchen von der großen Schauspielerei geträumt, erzählt sie. 1978 bewarb sie sich um eine Rolle beim Vierteiler Holocaust und wurde gecastet. Sie spielte die Sofia Alatri, ein italienisches Kind, das von seinen Eltern getrennt wurde. Es war ein schockierendes Erlebnis, das ihr diese Rolle bescherte. Sie kam an einem grauen Novembertag zum Drehort in Mauthausen, begegnete dort als Erstes den kahlgeschorenen Frauen der Mühl-Kommune und Schauspielern in SS-Uniformen mit Schäferhunden.
Die beiden berühmten Schauspielerinnen Rosemary Harris und Käte Jaenicke merkten ihre Beklommenheit und kümmerten sich um das Mädchen. „Ich brauchte nicht wirklich spielen, ich war so fertig. Wir mussten in die Gaskammern hineingehen und dann wurden hinter uns die Türen zugemacht. Ich habe für einen kurzen Moment das durcherlebt, was meine Großmutter nicht überlebte“. Schlüsselerlebnis nennt man das wohl, samt vorgezeichneter, beruflichen Werdegang.
Am Ende unseres Gesprächs geht es dann wieder um Schuhe. Mit sechzehn war Hannah Sängerin in einer kleinen Band. Man spielte beim jüdischen Ball Paré oder auch in einem Jazzkeller am Gürtel. „Ich glaube, wir machten fürchterlich schlechte Musik“. Aber dass sie hellblaue Seidenschuhe getragen hat, daran scheint sie sich schon noch gerne zu erinnern.
Wir sind endlich wirklich weg von der Arbeit und auch von der Eisfläche. Im Büro des Wiener Eislaufvereins ist es angenehm warm. Das bringt uns auf Israel. Zwei- bis dreimal im Jahr ist sie dort und sie spricht auch Hebräisch. Ihre Diplomarbeit im Rahmen des Wirtschaftsstudiums hat sie 1986 in einem Kibbuz recherchiert. „Bodenurbarmachung und Landgewinnung in Israel und deren Auswirkung auf die Volkswirtschaft“ hieß der wenig Hollywood-like Titel.
Hannah Lessing weiß also, wie man die Wüste urbar macht und welche Pflanzen die Erosion des Bodens einschränken. Ob es in Israel einen Eislaufplatz gibt, weiß sie allerdings nicht. Aber ehrlich gesagt, würde ich dort ohnehin nicht eislaufen gehen. Schon gar nicht mit der rasanten Hannah.