Das laufende Verfahren gegen einen ehemaligen Auschwitz-Wächter zeigt einmal mehr: Die Versäumnisse der österreichischen Justiz im Umgang mit NS-Verbrechen sind ein roter Faden in der Geschichte der Zweiten Republik.
Von David Rennert
Im November 2013 stellten die Grünen eine parlamentarische Anfrage an die damalige Justizministerin Beatrix Karl (ÖVP). Betreff: Die laufenden Ermittlungen gegen den mutmaßlichen KZ-Wächter Johann H. In 24 Punkten verlangten die Abgeordneten Aufklärung. Über den Verlauf und den Stand des bisherigen Ermittlungsverfahrens, über die Erstellung historischer und psychologischer Gutachten, aber auch allgemein über justizielle Maßnahmen zur Strafverfolgung österreichischer NS-Kriegsverbrecher. Tatsächlich mutet das behördliche Vorgehen fragwürdig an.
Die Ermittlungen gegen Johann H. wegen des Verdachts auf Beihilfe zum Mord laufen seit Anfang 2012, ins Rollen gebracht durch Recherchen und eine Anzeige zweier Privatpersonen. Ein Enkel des heute 90-jährigen H. hatte auf einer Feier erwähnt, sein Opa sei Wärter in Auschwitz gewesen. Einer der Anwesenden wurde stutzig – und stellte mit einem Freund Nachforschungen an. Wie sich herausstellte, handelt es sich bei besagtem Großvater um Johann H., einen ehemaligen SS-Mann, der zwischen November 1942 und November 1944 in einer Kompanie des „SS-Totenkopf- Sturmbannes“ im KZ Auschwitz tätig war. Dann war er in einem Nebenlager des KZ-Buchenwald eingesetzt. Sein Name scheint auf Personallisten ebenso wie auf Kriegsverbrecherlisten der Alliierten auf.
Seit 1978 unbehelligt
Den österreichischen Behörden war das längst bekannt – spätestens seit 1978. Denn in diesem Jahr wurde der 1923 im damals kroatischen Ruma geborene Donauschwabe als Zeuge im letzten Frankfurter Auschwitz-Prozess einvernommen. In seiner Aussage gab er zu, im besagten Zeitraum „Dienst beim Lager Birkenau“ versehen zu haben, innerhalb des Vernichtungslagers sei er aber nicht eingesetzt gewesen. Die Einvernahme führten Beamte des österreichischen Innenministeriums durch. Aus ihrer Sicht war die Sache damit offenbar erledigt. Welche konkrete Rolle H. im nationalsozialistischen Vernichtungssystem gespielt hat, interessierte niemanden. Er lebt seit Jahrzehnten unbehelligt bei Eferding in Oberösterreich.
Aufgrund der Anzeige wird nun seit Anfang 2012 doch noch gegen ihn ermittelt. In Anbetracht seines fortschreitenden Alters allerdings mit bemerkenswert geringem Eifer: Nach einem halben Jahr wurde der Beschuldigte erstmals einvernommen, ein weiteres Jahr verging, bis ein Gutachten über seine Verhandlungsfähigkeit in Auftrag gegeben wurde. Verhandlungsunfähig, hieß es dann im Oktober 2013. Der Auschwitz-Einsatz ist den Behörden seit über 35 Jahren bekannt, wieso wurde nicht schon viel früher ermittelt? Und wieso ließ man ab 2012 dermaßen viel Zeit verstreichen, ehe man die Prozesstauglichkeit des alten Mannes prüfte, die mit jedem Tag unwahrscheinlicher wurde? Ein Verdacht drängt sich auf: Möglicherweise wurde auf einen „biologischen Ausgang“ des Verfahrens spekuliert.
Schlussstrich und Reintegration
Es ist bis dato der letzte, aber keineswegs einzige derartige Fall, bei dem sich die österreichischen Behörden vor allem durch eines auszeichneten: Untätigkeit. Tatsächlich offenbart ein Blick auf den justiziellen Umgang der Zweiten Republik mit NS-Tätern eine Vielzahl von skandalösen Freisprüchen, viel zu spät erhobenen Anklagen und versandeten oder überhaupt nie angestrengten Verfahren. Diese Tendenz zeichnete sich schon unmittelbar nach dem Krieg ab: Noch während von 1945 bis 1955 unter Anwesenheit der Alliierten die außerordentlichen Volksgerichte mit der Ahndung spezifischer NS-Verbrechen betraut waren und in dieser Hinsicht Enormes leisteten, wurde ein „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit und damit auch unter die Strafverfolgung der ehemaligen Nationalsozialisten gefordert.
1949 setzte der parteipolitische Wettlauf um deren Wählerstimmen voll ein: Erstmals war knapp eine halbe Million ehemaliger NSDAP-Mitglieder wieder zur Nationalratswahl zugelassen, eine Wählerschaft, die mehrheitsentscheidend sein konnte. Vor diesem Hintergrund setzten sich auch Politiker der großen Parteien SPÖ und ÖVP zunehmend für die Amnestierung verurteilter NS-Täter und den Verzicht auf weitere Verfahren ein. Bis 1955 scheiterte dies noch am Widerstand der Alliierten. Nach deren Abzug ging es jedoch schnell: Die Volksgerichte wurden abgeschafft, ihre gesetzlichen Grundlagen aufgehoben, umfassende Amnestiegesetze beschlossen.
Ahndung durch Geschworenengerichte
Für die Ahndung von NS-Verbrechen waren von nun an Geschworenengerichte zuständig. Doch mit dem Ende der Volksgerichte sank nicht nur die Zahl der verhandelten Fälle dramatisch. Den Staatsanwaltschaften gelang es auch immer seltener, Schuldsprüche zu erreichen – selbst in Fällen, in denen absolut kein Zweifel über die Schuld der Angeklagten bestand. Die Gründe dafür waren vielfältig: Viele typisch nationalsozialistische Verbrechen sind rechtlich schwer fassbar – man denke an die auf unterschiedlichsten Ebenen Beteiligten am umfassenden Deportations- und Vernichtungssystem. Oft zeigte sich auch, dass Geschworene der komplexen juristischen Materie nicht gewachsen waren. Zudem war die personelle Kontinuität zum Nationalsozialismus im Justizbereich besonders hoch.
Mit der Zeit akzeptierten die Geschworenengerichte die Verteidigungsstrategie des Befehlsnotstands immer häufiger als Strafausschließungsgrund. Sogar auf Grundlage des sogenannten Putativnotstands wurden Freisprüche gefällt: Dieser bezeichnet die irrtümliche Annahme, unter Befehlsnotstand gehandelt zu haben. So wurde etwa 1970 der ehemalige Gaswagenfahrer Josef Wendl in Wien von der Anklage des Mordes an etwa 300 Menschen freigesprochen, obwohl er geständig war. Die Geschworenen sahen zwar als erwiesen an, dass er die Taten nicht unter Befehlsnotstand begangen hatte – sie gestanden ihm jedoch zu, dies nicht gewusst zu haben. Es war nur einer von vielen skandalösen Freisprüchen. Um einige bekannte zu nennen: Franz Novak, Franz Murer, Walter Dejaco und Fritz Ertl. In den Prozessen, die häufig international Schlagzeilen machten, ging es meist nicht um die Ermordung der Opfer, sondern fast ausschließlich um die Frage des Befehlsnotstandes.
Letzte Zäsur
Zwischen 1955 und 1975 wurden insgesamt 48 Personen wegen NSTötungsverbrechen angeklagt. 23 wurden freigesprochen, in fünf Fällen wurde das Verfahren ohne Urteil eingestellt, lediglich 20 Personen wurden rechtskräftig verurteilt. Vor diesem Hintergrund vollzog sich das, was Simon Wiesenthal als „kalte NSAmnestie“ bezeichnete: Die informelle Einstellung der Strafverfolgung. Die politische Entscheidung zu diesem endgültigen „Schlussstrich“ fiel in die Verantwortung des langjährigen Justizministers Christian Broda (SPÖ). Alles deutet auf eine Weisung Brodas hin, auf künftige Anklagen zu verzichten. In zahlreichen bereits verhandelten Fällen behinderte das Justizministerium die Staatsanwaltschaften nachweislich, Rechtsmittel gegen Freisprüche einzulegen.
Brodas Linie wurde offenbar äußerst konsequent beibehalten: Seit dem Freispruch des ehemaligen KZ-Aufsehers Johann Vinzenz Gogl im Jahr 1975 erging in Österreich kein einziges rechtskräftiges Urteil wegen NSTötungsverbrechen. Gegen wie viele Personen seither ermittelt wurde, ist unklar. Einmal noch stand ein Beschuldigter vor Gericht: 1999 wurde der Wiener Arzt Heinrich Gross des Mordes an Kindern in der Euthanasieanstalt „Am Spiegelgrund“ angeklagt. Vorwürfe gegen ihn waren seit Ende der 1940er-Jahre bekannt, doch diese waren der Karriere des politisch bestens vernetzten Arztes nicht abträglich. Die Hauptverhandlung gegen Gross wurde noch am ersten Tag wegen Verhandlungsunfähigkeit abgebrochen und nicht wieder aufgenommen.
Wettlauf gegen die Zeit
Ende Jänner 2014 beantwortete nun der Justizminister Wolfgang Brandstetter (parteilos), der inzwischen das Justizressort von Karl übernommen hat, die parlamentarische Anfrage zum Fall Johann H. „Mir ist bewusst, dass sich die Justiz in einem Wettlauf gegen die Zeit befindet und die vor allem für das letzte Quartal des vorigen Jahrhunderts einzugestehenden Versäumnisse vielfach nicht mehr aufgeholt werden können“, heißt es dort. Ein weiteres Gutachten über die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten sei nicht auszuschließen. Zuvor müssten aber die Ergebnisse eines historischen Gutachtens abgewartet und die Rechtslage geklärt werden. Zu rechnen sei damit aber erst in einigen Monaten.