Das Jüdische Museum Wien hat ein Vermittlungsprogramm für Flüchtlinge initiiert: Zwei Stunden lang können die Besucher viel Überraschendes über Österreichs jüdische Traditionen erfahren – und nebenbei lernen, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen.
VON PETRA STUIBER (TEXT)
UND SEBASTIAN GANSRIGLER (FOTO)
Hannah Landsmann (links) redet mit ihren Besuchern über Dinge, die auch sie betreffen
Da ist diese braune Schachtel. Sie ist vollgefüllt mit Mädchensachen: Einer Miniatur-Sitzgruppe für Puppen aus Holz, einem Heft voller Sammelmarken, Büchern, Fotos, Spielsachen und so weiter. Die Eltern der Lilly Bial, Anna und Franz Bial, haben sie im Mai 1942 für ihre Tochter gepackt, nachdem die 13-Jährige 1939 mit dem letzten „Kindertransport“ nach England entkommen war. Sie sollte ihr nachgeschickt werden. Doch dann kam alles anders. Lillys Eltern wurden ermordet, die jüdische Gemeinde zerstört, die Schachtel geriet in Vergessenheit. Doch jetzt steht sie da, wiederentdeckt, im Eingangsbereich des Jüdischen Museums.
Wenn sie eine Gruppe von Besuchern durch das Museum führt, beginnt Hannah Landsmann ihre Tour gern bei dieser Schachtel. Vor allem, wenn es sich bei den Besuchern um eine besondere Gruppe handelt – um Flüchtlinge, die sich für Österreich und seine jüdische Geschichte interessieren. Doch, die gibt es, sagt Hannah Landsmann, „man muss sie nur auch ansprechen“.
Hannah Landsmann, Leiterin der Vermittlungsabteilung im Jüdischen Museum Wien (JMW), nimmt oft auch eine eigene Schachtel mit und bittet ihre Besucher, selbst persönliche Kleinigkeiten hineinzulegen. Schlüssel, Ringe, kleine Anhänger landen in der Schachtel – keine Handys, die sind der kostbare Nabel zur Welt daheim, die sie verlassen haben. Dann stellen sich alle vor und erzählen, ob und was der gegebene Gegenstand für sie bedeutet. „Das dauert mitunter lange“, sagt Hannah, denn „man müsste Arabisch oder Farsi sprechen können.“ Dass diese erste Phase des Gesprächs so langsam vor sich geht, da ein Dolmetscher unbedingt gebraucht wird, hat aber auch sein Gutes: „Am Ende der ‚Vorstellungsrunde‘ sind alle halbwegs aufgetaut.“
Angst vor arabisch geprägtem Antisemitismus
„Vermittlungsprogramme für Flüchtlinge im Jüdischen Museum“: Das ist eine sperrige Bezeichnung, die auf den ersten Blick gar nichts besagt, auf den zweiten Blick an den erhobenen Zeigefinger gemahnt und auf den dritten vielleicht Ängste auslöst, die im Verborgenen schon immer da waren. Viele österreichische Juden sahen die Willkommenskultur im Sommer und Herbst vorigen Jahres mit gemischten Gefühlen, viele fühlten sich unwohl bei dem Gedanken, dass Österreich für 90.000 Flüchtlinge mit großteils muslimischem Glauben eine neue Heimat werden soll. Ganz konkret fürchten viele den Import eines arabisch geprägten Antisemitismus, der sich hierzulande entladen könnte.
Hannah Landsmann weiß um diese Ängste. Sie teilt sie nicht, aber sie nimmt sie ernst: „Wir können nicht ausschließen, dass auch solche Leute nach Österreich gekommen sind. Aber wir sollten nicht grundsätzlich bei jedem davon ausgehen.“ Im Mission Statement des Jüdischen Museums heißt es, hier werde man mit „neuen Sichtweisen auf das Judentum“ überrascht. Und weiter: „Das Jüdische Museum Wien lädt Menschen aller Kulturen und Generationen zum Dialog ein, ermutigt Fragen zu stellen und am kreativen Prozess teilzunehmen.“ Für Hannah Landsmann ist das eine Aussage, die sie sich, gemeinsam mit Direktorin Danielle Spera, zur Aufgabe gemacht hat: „Wir wollen ein Haus der Begegnung sein, das müssen wir immer und jedem gegenüber ernst nehmen.“
Ende Februar hat das JMW mit den Führungen für Flüchtlingsgruppen begonnen, gemeinsam mit der Erzdiözese Wien hat Danielle Spera die Vermittlung initiiert. Flüchtlingshelfer sprachen Interessierte an, und siehe da – es fanden sich gar nicht so wenige. Mittlerweile waren sieben Gruppen von jeweils etwa 15 Personen zu Besuch, darunter auch Schüler einer Berufsschule mit Asyl-Hintergrund. Für die Vermittlung hat sich Hannah Landsmann zwei Grundfragen überlegt: „Was kann das für Flüchtlinge bringen?“ Und: „Was können wir geben?“ Ersteres sei schwieriger zu beantworten und hänge letztlich auch davon ab, wie es den Leuten im JMW gefallen habe. Zweiteres sei klarer darzustellen: „Empathie, Zeit, Dialog – das können wir alles einbringen.“ Und dafür seien die Menschen sehr dankbar.
Zwei Stunden lang miteinander
Bei der Tour durch das Jüdische Museum wird nicht belehrt, nicht doziert, nicht versucht, Einstellungen zu ändern. Allerdings, sagt Hannah Landsmann, „kann man davon ausgehen, dass ohnehin niemand kommt, der sich nicht zumindest ein bisschen für uns interessiert.“ Die grundsätzliche Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, sei also da – und es gehe nun darum, zwei Stunden lang miteinander eine gute, interessante Zeit zu verbringen. Ein wichtiger genereller Grundsatz in der Vermittlungsarbeit von Hannah Landsmann im Jüdischen Museum ist, sich bewusst zu machen, wer mit welchen Gefühlen, Absichten, Interessen und Meinungen ins Museum kommt, eine anthropologische Frage, der zeitgemäße Museumsarbeit unbedingt verpflichtet sein muss.
Sie redet mit ihren Besuchern vor allem über Dinge, die auch sie betreffen, wo sie mitreden können, eine Meinung und persönliche Erfahrungen dazu haben. Dazu eignet sich das Jüdische Museum Wien ausgezeichnet: Die Geschichten von Flucht und Vertreibung, die so allgegenwärtig sind im Haus in der Dorotheergasse, ein solcher Anknüpfungspunkt. Das Thema „persönliche Gegenstände“, die jemand überall hin mitnimmt, ebenfalls – womit wir wieder bei Lillys brauner Schachtel angelangt sind.
Die Besucher bekommen etwa die Aufgabe, selbst in ihren Gedanken eine Schachtel zu packen mit Dingen, die man jetzt gerne hier hätte: Etwa das Haus in der Heimat, den Garten, die Familie, die man zurücklassen musste, Lieblingslieder, aber auch Vögel – etwa in Afghanistan beliebte Haustiere. Die „gedachte“ Schachtel wird auf ein Blatt Papier gezeichnet und fast immer dem Museum als Geschenk überlassen.
Aber es geht nicht nur um Flucht und Vertreibung – auch das Positive, Lebensbejahende darf nicht fehlen: jüdische Alltagskultur beispielsweise, mit koscherem Essen und entsprechendem Geschirr. Landsmann lässt ihre Besucher dann gerne im Museum Gegenstände finden, die ihnen auch selbst bekannt vorkommen. Wer genau hinsieht, entdeckt etwa, zur großen Überraschung der Muslime, einen Chanukka-Leuchter auf einer Sichel: Er stammt aus Bosnien und zeigt deutlicher als tausend Worte, dass dort Juden und Muslime über Jahrhunderte ein harmonisches Neben- und Miteinander pflegten und ihre Kulturen einander beeinflussten. Landsmann: „Wenn wir dann weiter über Essen reden, dann kommen wir schon bald zu dem Punkt, dass koscher und halal nicht so weit auseinander liegen.“ Besonders mit den Koch-Kellner-Lehrlingen der Berufsschule komme sie hier sehr bald auf einen guten Punkt.
Besonders gut kommen die Namenskärtchen auf Hebräisch an, die Landsmann für ihre Besucher malt: „Die Gäste lachen viel, weil ich oft nicht in der Lage bin, Namen, die ihnen als ganz gewöhnlich erscheinen, korrekt wiederzugeben.“ Auf diese Weise sehen sie, dass nicht nur für sie Sprache oft ein unüberwindliches Hindernis zu sein scheint. Sie lachen, verbessern, helfen – und erkennen nebenbei eine weitere Gemeinsamkeit mit ihren Muttersprachen: Auch im Hebräischen schreibt man, wie im Arabischen, von rechts nach links. Wenn sie wieder gehen, nehmen alle ihre Namensschilder mit, erzählt Landsmann. Und sie seien lokkerer, fröhlicher als bei ihrer Ankunft – kein geringer Erfolg für zwei Stunden Museum.
Wenn sie sich etwas wünschen dürfte, sagt Hannah Landsmann, dann wäre das, „dass möglichst viele wiederkommen“. Pläne hätte sie genügend: etwa hinauszugehen, Orte und Adressen vergangenen jüdischen Lebens zu suchen – auf diese Weise könnten die Neulinge sich auch die neue, ihnen unbekannte Stadt erobern.
Das ist Zukunftsmusik, zugegeben. Aber eine hoffnungsfrohe. Der Alltag der Flüchtlinge ist trist genug. Viele von ihnen wissen nicht, ob sie bleiben dürfen. Und was dann aus ihnen wird. Ihr Leben ist eingegrenzt und gedekkelt. Wie in einer braunen Schachtel, die man öffnen kann.