VON GABRIEL RATH, LONDON
Labour-Parteivorsitzender Jeremy Bernard Corbyn bei der Kampagne „Labour IN for Britain“
Umstrittene Aussagen gehören für den früheren Londoner Bürgermeister Ken Livingstone zum politischen Tageshandwerk. Mit der Behauptung, dass Hitler „ein Anhänger des Zionismus war, bevor er durchdrehte und sechs Millionen Juden ermordete“, stürzte er aber seine Labour Party in eine veritable Krise. Nach Vorwürfen des Antisemitismus hat „Her Majesty’s Official Opposition“ eine interne Untersuchung angeordnet.
Livingstones Äußerung erfolgte, als er in einem Interview die Abgeordnete Naz Shah verteidigte, die in einem Interneteintrag vor zwei Jahren „die Verlegung Israels in die USA“ verlangt hatte. Shah, deren Familie aus Pakistan stammt, vertritt im Parlament den Wahlkreis Bradford West, der die zweithöchste Konzentration moslemischer Wähler im ganzen Land hat. Ihr Vorgänger war der umstrittene George Galloway, der sich als Kämpfer gegen die westliche Politik im Nahen Osten einen Namen gemacht hat.
Während Livingstone an seinen Aussagen festhielt, entschuldigte sich Shah unter Tränen. Selbst Gegner sahen ihre Worte des Bedauerns als ehrlich an. Für die Partei stellt sich aber jenseits umstrittener, unsinniger oder beleidigender Aussagen eine ernste Frage: Es ist seit ihrer Gründung vor 116 Jahren die natürliche Aufgabe der Labour Party, für die Schwachen, Benachteiligten und Außenseiter einzutreten. Das sind in der britischen Gesellschaft von heute oft Moslems. Sie gehören zur loyalsten Wählergruppe der Labour Party. Unter ihnen gibt es Vertreter von antidemokratischen, antifeministischen oder antisemitischen Strömungen, die allem widersprechen, wofür eine weltoffene, tolerante Partei der Solidarität und Gerechtigkeit steht.
Labour ist keine antisemitische Partei
Die Frage, die sich die Partei bisher nicht gestellt hat, ist, wieweit die Sichtweisen dieser Anhängerschaft die Meinung der Partei beeinflussen – oder ein Stillschweigen zu inakzeptablen Äußerungen oder Taten aus wahltaktischen Gründen. Der Kommentator Rod Liddle schrieb: „Viele Moslems sind instinktiv antisemitisch, es ist Teil ihrer unangenehmen Ideologie.“ Weil Liddle wie Livingstone nicht ohne Provokation auskommen kann, fügte er noch hinzu: „Würde man Israel den Palästinensern überlassen, verwandelten sie es schneller in Somalia, als man Jom Kippur sagen kann.“ In der Folge wurde auch seine Parteimitgliedschaft suspendiert.
Liddle sprach aber einen zweiten wichtigen Aspekt an. Für viele Labour- Funktionäre ist der Kampf für die Palästinenser und auch der Boykott Israels und von Produkten aus den besetzen Gebiete ein wichtiges Anliegen, gespeist aus dem traditionellen Engagement der Partei gegen Unterdrükkung und für Gleichberechtigung. Mit Jeremy Corbyn steht heute ein Mann dieser Strömung an der Spitze der Partei – und während ihn das Partei-Establishment weiter ablehnt, hat er überwältigende Zustimmung an der Basis: „Ich habe mein ganzes Leben jede Art von Rassismus bekämpft“, sagte Corbyn in einer Rede zum 1. Mai.
Die Parteimitglieder sind in ihrer Einschätzung gespalten. 49 Prozent sagen, Labour habe kein Antisemitismus- Problem, 45 Prozent glauben hingegen sehr wohl, dass dies der Fall sei. Im Zuge der von Corbyn angeordneten Untersuchung wurden bisher über 50 Funktionäre wegen umstrittener Äußerungen suspendiert. Die Partei hat mehr als 400.000 Mitglieder. Am Ende des Prozesses sollen neue Richtlinien und Sprachregelungen neue Peinlichkeiten vermeiden.
Darum geht es aber nicht. Labour ist keine antisemitische Partei, auch nicht nach oder wegen einer idiotischen Äußerung eines 71-jährigen Polit- Pensionisten. Mit Ed Miliband hatte die Partei bis vor kurzem einen jüdischen Vorsitzenden. Labour muss sich aber fragen, wieweit eine veränderte Anhängerbasis das Denken der Partei bestimmt. Sprachregelungen sind nicht die Lösung, notwendig wäre eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Rolle der Partei zu der Tragödie im Nahen Osten und den Folgen – im eigenen Land und in der eigenen Partei.