Mit jüdischen Liedern und Witzen feierte Lotte Tobisch-Labotýn ihren 90. Geburtstag im Theater Ronacher. Mit NU sprach sie über ihre wenig bekannte Beziehung zum Judentum.
VON IDA SALAMON
NU: Es ist eine schwierige Aufgabe, den Lesern etwas anzubieten, das in der letzten Zeit anlässlich Ihres 90. Geburtstags nicht schon veröffentlicht wurde. Fällt Ihnen etwas ein?
Tobisch-Labotýn: Da ist ein Orkan losgebrochen, den ich nicht verstehe, aber so ist es. Soll nichts Schlimmeres passieren, aber es geht mir schon grenzenlos auf die Nerven.
Ich möchte Ihnen nicht auf die Nerven gehen.
Sie dürfen es. Ich kann Ihnen nur die Geschichten erzählen, die nicht stimmen, oder es wird eine Wiederholung sein. Vielleicht ein bisschen in einer anderen Form. Bitte, fragen Sie.
Wie war Ihre Beziehung zu Ihrem jüdischen Stiefvater Gustav Lederer?
Außer einem eingeheirateten Onkel gibt es in meiner Familie keine Nazis. Den Onkel haben wir alle hochleben lassen, und er hat dazu beigetragen, dass mein Stiefvater ausreisen konnte. Mein Stiefvater hat zu den Urwiener Juden gehört und hat gesagt, „Was soll mir schon passieren können, ich war doch Soldat im Ersten Weltkrieg, es wird schon vorübergehen.“ Sie haben gar nicht begriffen, was da eigentlich dahinter ist. Seine Söhne aus der ersten Ehe haben gesagt: „Vater, du musst weg, ein Jud ist ein Jud.“ Dann ist er weggegangen und hat eine Odyssee erlebt. Er war zuerst in Prag, dann in der Schweiz und nachher in London, als der Krieg begann. Dort haben sie Emigranten aus Deutschland und Österreich als Gefangene mit dem berühmten Schiff „Dunera“ nach Australien geschickt, wo mein Stiefvater vier Jahre in einem Camp verbracht hat. Über das Rote Kreuz hat ihn sein älterer Sohn gefunden und im Jahr 1942 nach Amerika kommen lassen. Meine Mutter und ich sind in Wien in der Villa meines Stiefvaters geblieben. Mein Stiefvater hat es mit Hilfe des Onkels geschafft, dass die Villa auf meine Mutter umgeschrieben wird, sodass wir sie über den Krieg retten konnten und sie bis zur Rückkehr meines Stiefvaters behalten haben. Meine Mutter ist nach dem Krieg für zwei Jahre nach Amerika zu meinem Stiefvater gegangen und dann sind sie zurückgekommen. Er ist leider bald danach gestorben.
Wie haben Sie die Kriegszeiten in Wien als junges Mädchen erlebt?
Wir haben öfter Besuch von der Gestapo gehabt, und es war immer ein Schrecken. Wenn sie zwei Männer im Ledermantel sah, hat meine Mutter gesagt: „Jetzt sind sie wieder da, und ich weiß, was mich erwartet.“ Vor der Gestapo hat man gezittert. Damals gab es in Wien auch eine Weltmeisterschaft im Denunzieren, und davor hat man mindestens ebenso Angst gehabt. In meiner Kindheit war die Politik in bürgerlichen Verhältnissen eine reine Männersache. Vor Frauen oder Kindern wurde darüber nicht gesprochen. Ich habe gar nichts von Politik gewusst, bis ich sie selbst erlebt habe. Und selbst dann konnte ich nicht alles richtig einordnen. Wir waren eine mehr oder weniger patriotische, schwarz-gelbe österreichische Familie und hatten immer viele jüdische Bekannte. Ja, mein Großvater war nicht wirklich ein Philosemit, aber ein Anti-Nazi war er auf jeden Fall. Das war im großbürgerlichen Milieu Wiens durchaus möglich.
Im Film „Der letzte Akt“ haben Sie die Geliebte von Hitler gespielt, war das für Sie unangenehm?
Nein, Film ist Film und Theater ist Theater. Georg Wilhelm Pabst war ein großer Regisseur und Albin Skoda ein großer Schauspieler. Mit der Sekretärin von Hitler, Traudl Junge, die öfter vorbeikam, war es schon bewegend. Eigentlich war sie eine nette Person. Oft sah man sie im Fernsehen als Zeitzeugin, und sie sagte damals: „Ich hätte vieles wissen müssen und ich habe es nicht gewusst. Ich habe nachher alles gehört.“ Dass man Juden umbringt, das habe Hitler ihr nicht diktiert.
Man wusste, dass die Nazis Leute umbringen, aber man hat im Jahr 1942 noch nicht gewusst, dass das eine Industrie war. Das war Europa im 20. Jahrhundert! Als ich zum ersten Mal in Yad Vashem war, hat alles trotz meines Wissens doch einen ganz anderen unfassbaren Eindruck hinterlassen.
Sie waren offen gegen die Nazis, das haben Sie gezeigt.
Ich war nirgends dabei. Ich musste mich zum Bund deutscher Mädel anmelden, ich bin aber nicht hingegangen. Nicht dafür sein und damit zeigen, ich will es nicht. Aber als Widerstandskämpfer musste man Held sein. Ich habe noch immer die Briefe von einer Schulkollegin, die sehr lieb war und mir damals geschrieben hat: „Ich weiß, du bist anderer Ansicht, aber glaube mir, der Führer, der bringt das zu Ende. Bitte, ich wollte mit dir noch einmal reden, aber ich weiß, du willst es nicht.“ Sie hat es nicht böse gemeint und hat mich offensichtlich nicht angezeigt. Das war wahrscheinlich mein Glück, dass ich damals kaum 15, 16 Jahre alt war, denn sonst wäre ich sicher zu den Widerstandskämpfern gestoßen und säße wahrscheinlich nicht mehr hier.
Inwiefern hat Sie Ihr Stiefvater geprägt?
Er war wunderbar als Vater, aber nach drei Jahren war er weg in der Emigration. Er wäre genau der Vater für mich gewesen, den ich gebraucht hätte. Er hat mich sehr gerne gehabt und ich ihn auch. Aber es hat nicht sein sollen. Der Gustl war ein wunderbarer Mann, ein Wiener aus dem Großbürgertum. Er war ein ganz bewusster Jude, aber gar nicht religiös. Die hohen Feiertage wurden insofern eingehalten, als man nicht gearbeitet und nicht weggefahren ist.
Als Kind war ich nicht schwer erziehbar, sondern unerziehbar. Viel mehr Zeit als in der Schule verbrachte ich im Türkenschanzpark, wo ich gelesen habe. In der Bibliothek meines Stiefvaters gab es sehr viele Bücher über Palästina, weil ein Sohn von ihm schon früh nach Palästina ausgewandert ist. So habe ich mich langsam dafür interessiert und auch für die Bibel. Und als Sacré-Coeur-Schülerin, das war ich aber nur für kurze Zeit, weil ich offenbar nicht für eine Klosterschule geeignet war, hat mich die Religion immer interessiert. Heute noch, obwohl ich eine Agnostikerin bin, die allerdings sehr zweifelt. Die Religionsgeschichte, besonders die jüdische, hat mich immer interessiert. Dieses Interesse hat mich dem israelischen Botschafter Michael Simon nähergebracht. Er hat bewundert, dass ich so viel weiß.
Was hat Sie besonderes am Judentum interessiert?
Die Geschichte des Landes, die Geschichte der Religion, einzelne Menschen, die ich gut kannte und die Juden waren. Ich habe ein unglaubliches Glück gehabt, wirklich bedeutende Menschen als Freunde zu haben oder sie näher zu kennen: Gershom Scholem, Theodor Adorno, Günther Anders, Bruno Kreisky. Ich konnte immer mit Juden und sie offenbar auch mit mir. Ich kann überhaupt nicht verstehen, wie die Menschen kategorisieren können. Ich habe es mit 19 nicht verstanden, und ich verstehe es auch mit 90 nicht.
Der dritte Mann Ihrer Mutter war auch jüdisch.
Professor Heinrich Benedikt war Historiker. Ein fabelhafter Mann und ein Wiener. Benedikt hat mit dem Judentum nicht viel zu tun gehabt, aber er war sehr stolz darauf. Er hat ein Büchlein geschrieben, Damals im alten Österreich, wo er über seine jüdische Familie und über die Emanzipation erzählt. Er war getauft. Bei uns hat dies keine Rolle gespielt und man hat darüber nicht nachgedacht, ob jemand Jude oder nicht Jude war. Dennoch war mein Großvater nicht besonders glücklich darüber, dass sein Schwiegersohn ein Jude war, obwohl er ein Anti-Nazi bis zum Knochen war.
Wie sind Sie erzogen worden?
Die Mutter meines Vaters war ein großes Vorbild für mich. Bei ihr war ich oft im Sommer in Marienbad. Sie war ein Beispiel dafür, wie man mit Dingen fertig wird. Mein Großvater und meine Großmutter haben nach dem Ersten Weltkrieg alles verloren und sind dann nach Marienbad übersiedelt, wo sie bis zum Tod meines Großvaters blieben. Wie meine Großmutter das nur alles bewältigt hat, ohne zu klagen, das habe ich von ihr gelernt. Das ist etwas, was ich schon öfter gesagt habe: Meine Freude teile ich gerne mit, meine Zores gehören mir allein. Mit denen muss man fertig werden. Was heute modern ist, jammern und jammern in der Öffentlichkeit – das macht man nicht. Man belastet andere Menschen nicht. Das ist meine Einstellung, das habe ich zu Hause gelernt. Und Disziplin.
Wenn Sie etwas in ihrem Leben anders machen könnten, was wäre das?
Sicher würde man einiges, wenn man es im Voraus weiß, anders machen, aber man weiß es nicht. Aus meinem langen Leben kann ich Ihnen sagen, man sollte nie aufhören zu lernen. Man kann aus eigenen und Fehlern von anderen lernen. Dass ich so vergnügt und lustig alt werden kann, verdanke ich meiner Mutter, die es nicht konnte. Meine Mutter war eine wunderschöne Frau und hat ab ihrem 50., 60. Lebensjahr unter dem „Altwerden“ gelitten, nicht mehr so schön zu sein, nicht mehr so zu können wie früher, nicht bei vollen Kräften zu sein. Damals habe ich mir gesagt, das passiert dir nicht! Da wirst du rechtzeitig sagen, so alt bist du, und da ist eben dieser und jener Abstrich zu machen, Schluss! Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut, jetzt ist es vorbei, und man macht, was überbleibt. Ich habe in der Schule nicht viel gelernt, aber im Leben schon. Und wenn Sie mich fragen, was hätte ich anders machen sollen, vielleicht in der Schule mehr lernen. Dann wäre mir einiges erspart geblieben.
Was verbindet Sie mit Israel, wo Sie schon öfter waren?
Der junge Sohn meines Stiefvaters, Karl Lederer, hat in Israel gelebt. Im Jahr 1967 habe ich dann auch den israelischen Botschafter Michael Simon kennengelernt, das war eine Liebesgeschichte, ein Skandal. Aber es war halt so. Nach Ende seiner Amtszeit ist er zurück nach Israel und hat dort alles Familiäre geregelt, dann ist er wieder nach Wien zu mir gekommen und hat bei mir sieben Jahre gelebt. Es war für ihn viel schwieriger als für mich. Am Ende war allen klar, dass ich nicht eine Femme fatale bin, sondern, dass es Liebe ist. Simon ist sehr elend an Alzheimer gestorben. Ich habe ihn kurz vor seinem Tod, wie ich es seinen Kinder versprochen hatte, nach Israel zurückgebracht, und bin seither mit seiner ganzen Familie sehr befreundet. Das ist eine zweite Wahlverwandtschaft geworden, sie waren unlängst hier mit Kindern und Enkelkindern.
Es war ein Skandal und eine große Liebe, das war nicht leicht für Sie.
Ich habe eine Erfahrung mit Skandalen gemacht: Wenn die Leute nach einiger Zeit feststellen, dass es eine Liebesgeschichte ist, dann nehmen sie es zur Kenntnis. Dann ist der Skandal zu Ende und alles bestens. Das ist so weit gegangen, dass ich wirklich mit seiner Familie gut und verbunden geblieben bin. Sie haben mich gerne, sie kommen her und ich fliege hin. Früher bin ich jedes Jahr nach Israel gefahren. Ich war, glaube ich, 15-mal dort. Jetzt ist es schwierig mit meinen 90 Jahren und schwerem Asthma, aber ich habe die Absicht, noch einmal hin zu fahren.
Was war entscheidend für diese große Liebe?
Ich kann Ihnen nur Grillparzer zitieren, einen der schönsten Sätze, die es gibt:
„Das Mal auf ihrem Hals
wird dir zum Reiz,
Ein Fehler ihrer Zunge
scheint Musik,
Und das: ich weiß nicht was,
das dich entzückt,
Ist ein: ich weiß nicht was
für alle andern.“
Sie haben gerne gespielt. Ihre ersten Worte auf der Bühne waren „Oh, ich kann warten“, vor 71 Jahren im Theater Ronacher. Dort haben Sie unlängst bei einer wundervollen Benefizmatinee Ihren 90. Geburtstag gefeiert. Sehen Sie darin eine Symbolik?
Ich bin damals in Wien ohne Familie mit nichts geblieben, so war ich. Paul Hörbiger ist gerade aus dem Gefängnis herausgekommen und hat Das Mädl aus der Vorstadt von Nestroy gespielt. Jemand ist krank geworden und sie haben mich angerufen, ob ich es übernehmen kann. Mit 19 Jahren kann man alles. Das war tatsächlich der erste Satz, den ich dort gesprochen habe. In Wirklichkeit: „Oh, ich kann warten und ich habe es erwartet.“
Auf dem Programm der Benefizmatinee standen jüdische Lieder, gespielt von Giora Feidman und dem Ensemble Gitanes Blondes. Miguel Herz-Kestranek hat jüdische Witze erzählt. War das Ihre Auswahl?
Nein, ich wollte überhaupt nichts. Ich habe nur eines gesagt, falls etwas geschieht, muss es dem Künstler-Altersheim in Baden etwas bringen. Und ich war bereit, mich dafür zu verkaufen. Meine Sekretärin und Mitarbeiterin Anneliese Fritthum ist auf die Idee gekommen. Das war etwas wirklich anderes, etwas, das zu mir passt und zu meiner Beziehung zu Juden. Es ist weder Lobhudelei noch sonstiger Quatsch. Alle haben honorarfrei mitgemacht und den Ertrag für den Verein „Künstler helfen Künstlern“ gespendet.
Sie haben an dem Tag den Goldenen Rathausmann bekommen. Was bedeutet Ihnen diese Anerkennung?
Ja, ja, die üblichen Sachen. Irgendwann bin ich auch Professor geworden, das ist mir wurscht. Aber der Rathausmann ist herzig, ich habe ihn in der Vitrine aufgestellt. Von allem aber war ich überwältigt von der Rede von Achim Benning, von Giora Feidman und natürlich auch von den anderen. Und dass das ganze Publikum aufsteht und „Happy Birthday“ singt! Es kommt selten vor, dass ich keine Worte finde. Danke! Mehr fiel mir dazu nicht ein.
Man merkt, Sie gendern nicht. Politische Korrektheit ist nicht Ihre Sache.
Man soll sich so anständig wie möglich benehmen. Du solltest von anderen nicht verlangen, was du nicht von dir selbst verlangst. Im Tun, Denken, in allem.
Sie beschützen die Schwächeren, wer sind die heutigen Schwächeren?
Die Alten und die Einsamen. Sie sind zwar versorgt, sie werden gefüttert, aber sie sind die Schwächeren und haben keine Lobby. Alleinsein ist schön, aber Einsamsein nicht. Dieses kleine Altersheim, das ich betreue und wo ich Präsidentin bin, dort leben maximal 30 Personen wie in einer Familie. Jeder kann in sein Zimmer gehen und seine Ruhe haben oder im Salon in Gesellschaft und nicht einsam sein.
Sie haben in den letzten 75 Jahren vieles erlebt, Änderungen in Politik, Gesellschaft und in der Welt. Können Sie vermuten, welche Zeiten auf uns jetzt zukommen?
Jetzt ist eine miese Situation. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn die Leute nichts haben, sind alle nett und teilen alles mit anderen. Das habe ich im Jahr 1945 erlebt, in den ersten Wochen nach dem Krieg. In dem Moment, wenn sie etwas haben, ist es ganz anderes. Das liegt in der Natur des Menschen. In gewissem Sinne haben heute alle etwas, selbst die Armen, im Verhältnis zu den 1930er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. Marx hat einen wunderbaren Satz gesagt: „Alle Revolutionen haben bisher nur eines bewiesen, nämlich, dass sich vieles ändern lässt, bloß nicht die Menschen.“
Gershom Scholem, Günther Anders, Theodor Adorno, Bruno Kreisky, Fritz Hochwälder – wer von ihnen war für Sie besonders wichtig?
Jeder war auf seine Art etwas Besonderes. Günther Anders war ein ganz schwieriger Mensch, egozentriert und man kann sagen asozial. Ich halte ihn für einen Denker, der für die Zukunft sehr bedeutend ist und nicht den Stellenwert hat, den er eigentlich haben müsste. Scholem habe ich besonders gerngehabt, weil er nicht nur blendend gescheit, sondern auch ungeheuer unterhaltsam war. Kreisky erhielt einen Boxerhund von mir, man kann sagen, uns hat ein Hundeverhältnis verbunden. Er hat mich gerngehabt und er hat mir leidgetan, als er alt, krank und verbittert wurde. Aber ein Freund von mir wie Adorno, Anders, Scholem oder Hochwälder war er nicht. Sie alle haben mein Leben ungeheuer bereichert. Entscheidend in meinem Leben war aber nur die Liebe. Das war für mich immer das Wichtigste.
Lotte Tobisch
Alter ist nichts für Phantasielose
aufgezeichnet von Michael Fritthum
Amalthea Verlag, Wien 2016
224 Seiten, EUR 24,95