Bei der Schacholympiade 1958 in München verloren die Russen im Verlauf des gesamten Turniers nur eine einzige Partie. Ausgerechnet der regierende Weltmeister Michail Botwinnik verlor gegen einen österreichischen Amateur, der ein ungarischer Flüchtling war.
VON ANATOL VITOUCH
An einem sonnigen Herbsttag sitzt der 88-jährige Andreas Dückstein in seiner Wohnung in Liesing und erzählt bei Kaffee und Kuchen vom Sieg gegen den Patriarchen des russischen Schachs, als wäre es gestern gewesen: „Er hat das Endspiel aufgegeben, dabei hätte er noch weiterspielen können.“ Aber mit zwei Bauern weniger war dem Weltmeister die Lust aufs Weiterspielen offenbar vergangen.
Und Dückstein legte nach: Mit Max Euwe und Boris Spasski bezwang er zwei weitere ehemalige Weltmeister, daneben und danach zahlreiche andere Größen des internationalen Schachs. Seine zweite Ehefrau Ilse – das Paar ist seit 1975 verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn – reicht gern das Fotoalbum, das randvoll mit Schnappschüssen ihres Mannes mit den Granden der Zunft ist: In den 50ern mit Reshevsky am Brett, in den 90ern neben Karpow beim Essen, zuletzt 2013 beim Turnier der Schach-Legenden in Dresden. Bilder einer Schachkarriere, die so nicht unbedingt vorgezeichnet war.
„Ich war immer Antimilitarist“
1927 wird Andor Dückstein in Budapest geboren, besucht die jüdische Volksschule, dann das jüdische Gymnasium, an dem der Vater als Turnlehrer unterrichtet. Ende der dreißiger Jahre gibt es auch in Ungarn antisemitische Gesetze, aber da Dücksteins Vater Offizier im Ersten Weltkrieg war, muss die Familie nicht den Judenstern tragen. „Aber dann ist es immer schlimmer geworden.“ Im Mai 1944 wird der 17-Jährige auf der Straße verhaftet und in ein Lager gebracht, von dem aus viele Juden in polnische KZs deportiert werden. „Ich war einen Monat im Lager, dann ist es meinem Onkel gelungen, mich freizukaufen.“
Dückstein kehrt zurück in die elterliche Wohnung in Budapest. Als die faschistischen Pfeilkreuzler Ende 1944 die Regierung übernehmen und in Budapest ein Ghetto errichten, taucht die Familie am Land unter. In Debrecen holt Dückstein 1945 die Matura nach, beginnt ein Sportstudium, um wie der Vater Turnlehrer zu werden. „Die Eltern haben das für mich entschieden.“ Für Ballsportarten kann der junge Dückstein sich begeistern, nur Fußball mag er nicht. „Gegen Puskás habe ich aber Handball gespielt, der war ein fantastischer Hallen-Handballer, ein echter Ballkünstler.“
Nach Abschluss des Studiums entscheiden abermals die Eltern, dass der Sohn nach Israel emigrieren soll. Der Antisemitismus ist auch unter kommunistischer Herrschaft in Ungarn mitnichten vorbei, „heute ist er wahrscheinlich noch schlimmer“, wie Dückstein hinzufügt. Nach missglückten Ausreiseversuchen als Mitglied eines jüdischen Basketballteams gelingt ihm schließlich 1949 eine abenteuerliche Flucht über die Ukraine nach Pressburg, von wo aus er – inzwischen im Besitz eines israelischen Visums – nicht nach Ungarn zurückgeschoben, sondern nach Österreich überstellt wird.
Hier bleibt Dückstein erst einmal – und schließlich ein Leben lang. „In Israel hätte ich auch zum Militär müssen, das hat mich nicht sehr gereizt. Ich war immer Antimilitarist.“ Dückstein und seine erste Ehefrau werden als Flüchtlinge anerkannt, sie arbeitet als Schneiderin, er aber findet lange keine Arbeit. „Also bin ich zum Schachclub gegangen.“
Fünf Schilling pro Partie
Als Volksschüler hatte Dückstein die Schachregeln von der Mutter gelernt, später an den jährlichen ungarischen Gymnasialmeisterschaften teilgenommen. Beim Schachclub Hietzing merkt Dückstein, dass seine Kenntnisse „für die damaligen Wiener Verhältnisse sehr gut reichen“. Er steigt in der untersten Spielklasse ein und spielt sich rasch bis ganz nach oben. Pro Partie bekommt er fünf Schilling. „Dafür bin ich jedes Mal zu Fuß aus dem neunten Bezirk bis nach Hietzing gegangen.“ 1952 gewinnt Dückstein die Wiener Landesmeisterschaft. „Ich hab sehr viel Zeit gehabt, meine Hausvarianten analysiert und aus Büchern gelernt. Schon in Ungarn hatte mein Vater immer wieder antiquarische Schachbücher für mich gekauft, eines davon habe ich noch: Das Buch zum Turnier von Karlsbad 1928. Ein wunderbares Buch, das werde ich niemals hergeben.“
Über einen Schachfreund bekommt Dückstein die österreichische Staatsbürgerschaft, um an den Staatsmeisterschaften teilnehmen zu können, die er 1954 erstmals gewinnt. 1955 betritt er in Zagreb dann die internationale Arena: „Vor dem Turnier hat es geheißen, zwei Dinge sind sicher: Smyslow gewinnt, und Dückstein wird Letzter.“ Tatsächlich liegt Dückstein nach 13 von 19 Runden auf dem vierten Platz bei 20 Teilnehmern, fällt erst in den letzten Runden zurück.
Ab 1956 arbeitet Dückstein bei der Verbund-Gesellschaft, deren Generalsekretär ebenfalls Schachspieler ist. Für internationale Turniere wird er freigestellt, für nationale braucht er seinen Urlaub auf. Daneben absolviert Dückstein in nur vier Jahren ein Jus- Studium an der Uni Wien.
Es folgt die Schacholympiade 1958. Dort hat Dückstein den damals noch seltenen Großmeistertitel bereits in der Tasche, so er in den letzten Runden pausiert und einen Ersatzmann spielen lässt. „Aber ich hätte jeden umgebracht, der mich am Spielen gehindert hätte!“ Zu gut ist er in Form. Die letzten Runden jedoch verliert er, es bleibt beim zuvor erworbenen Titel Internationaler Meister.
„Danach ist eigentlich nicht mehr viel passiert.“ Nun ja, nur weitere sieben Teilnahmen bei Schacholympiaden (nach 1956 auch 1974 noch einmal mit dem besten Ergebnis aller Teilnehmer am zweiten Brett), insgesamt drei Einzel- Staatsmeistertitel sowie ein dritter Rang bei der Senioren-WM 1991.
Schachlich aktiv ist Dückstein selbstverständlich auch im 89. Lebensjahr, auch wenn er weniger spielt als früher. „Letztes Wochenende hab ich ein Turmendspiel verdorben“, berichtet er beim Abschied selbstkritisch. Er muss es wissen, lautet der Titel seines 1979 publizierten Schachbuches doch: Meister der Turmendspiele.