Die Or-Chadasch-Gemeinde feiert ihr 25-jähriges Bestehen. Aller Anfang war schwer, trotzdem hat man sich in Wien behauptet – was alles andere als selbstverständlich war.
VON PETRA STUIBER
Wenn er zurückblicke, sagt Theodor Much, seien die letzten 25 Jahre alles andere als ein Spaziergang gewesen. Doch jeder einzelne Kampf, jede Auseinandersetzung, jede noch so mühsame Geduldsprobe im Sinne von Or Chadasch habe sich gelohnt, sagt der Arzt: „Heute haben wir eine lebendige jüdisch-liberale Gemeinde in Wien. Das ist alles andere als selbstverständlich.“ Das Nicht-Selbstverständliche wurde Anfang November auch mit einem Festakt stolz begangen.
Heute führt die Reformgemeinde Or Chadasch eine eigene Synagoge in Wien. Deren Betrieb wird sogar ein wenig von der (orthodoxen) Mehrheitsgemeinde unterstützt (durch Miet- Nachlass und eine kleine Subvention). Es gibt einen liberalen Rabbiner, der zumindest einmal im Monat aus Berlin kommt, man feiert Über- und Eintritte in das Judentum, Bar und Bat Mizwas; derzeit fühlen sich rund hundert Mitglieder bei Or Chadasch religiös zuhause.
Was Much mit der Bemerkung „alles andere als selbstverständlich“ meint, lässt sich gut an der Geschichte des ersten Gottesdienstes am 4. Mai 1990 erzählen: Much war zum damaligen Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG), Paul Grosz, gepilgert und hatte ihn gebeten, Or Chadasch das Gemeindezentrum zur Verfügung zu stellen. Grosz’ Antwort: „Das ist eine Atombombe!“ Der erste Gottesdienst fand dann im Hotel Imperial statt.
Dorn im Auge
Es habe eine Menge Vorurteile gegen Or Chadasch gegeben – und es gebe sie noch, beklagt der Begründer. Das hänge wohl damit zusammen, dass es in Österreichs Geschichte zwar ein starkes säkulares Judentum gegeben habe (etwa mit Theodor Herzl und seiner Idee des Zionismus), aber nie eine liberal-religiöse Tradition. Kaum jemand in Wien habe vor Or Chadasch gewusst, was Reformjudentum überhaupt bedeute, schrieb etwa Rabbiner Walter Rothschild.
Einer der gängigen Vorwürfe gegen Or Chadasch sei, dass es die „Liberalen“ mit dem jüdischen Gesetz, der Halacha, nicht so genau nähmen. Auch die totale Gleichberechtigung von Frauen ist vielen Orthodoxen ein Dorn im Auge: dass Frauen in der Synagoge neben den Männern sitzen, dass das liberale Judentum Rabbinerinnen kennt und die Mädchen ihre Bat Mizwa begehen und dabei auch aus der Tora lesen dürfen – all das ist bei religiös Orthodoxen nicht denkbar.
Die progressive Theologie geht davon aus, dass die göttliche Offenbarung ein fortwährender Prozess ist. Jede Generation müsse sich mit den Gesetzen kritisch auseinandersetzen und sie, mit Rücksicht auf gesellschaftliche und soziale Entwicklungen, neu interpretieren – oder ganz aussetzen. Die Orthodoxie glaubt, dass Moses auf dem Berg Sinai nicht nur alle fünf Bücher, die Tora, von Gott diktiert bekam, sondern auch deren Auslegung – also den Talmud. Nichts sei seither daran zu verändern, so der Glaube. Obwohl – so ganz stimme das auch nicht, korrigiert Much: Etwa zwei Drittel der Tora würden sogar von Ultra- Orthodoxen nicht praktiziert – etwa alle Bestimmungen zu Lebendopfern oder zur Todesstrafe oder der automatische Schuldenerlass nach sieben Jahren. Man müsse die Bibel auch historisch betrachten, und sie, tausende Jahre später, ihrem Sinne nach auslegen, meinen die Liberalen.
„Wir wünschen uns mehr Mitglieder“
Damit dies nicht beliebig geschieht, wurde 1990 das Freehof-Institut für progressive Halacha gegründet – mit Sitz in Israel und in den USA. Man könne das Gebot der Gleichberechtigung von der Halacha ableiten, wird dort etwa argumentiert – genauso wie die Tatsache, dass die „Unreinheit“ der Menstruation sich nicht übertrage, wenn eine Frau die Torarolle berührt. Obwohl dem Reformjudentum, weltweit gesehen – und vor allem in den USA – bei weitem die meisten Menschen jüdischen Glaubens angehören, gibt es reale Diskriminierung. Während etwa der Staat Israel Übertritte nach liberalem Recht anerkennt (und Übergetretene etwa auch zum Militärdienst einberuft), akzeptiert das orthodoxe Rabbinat von Jerusalem dies nicht. „Schizophren“ nennt das Theodor Much, und es habe handfeste Folgen: Etwa jene, dass man in Israel nicht heiraten darf, der Besuch jüdischer Schulen nicht erlaubt oder die Beerdigung auf einem jüdischen Friedhof nicht möglich ist.
Wenn man sich in Wien etwas wünscht für die nächsten 25 Jahre, dann erst einmal genau dies: Dass Vorurteile abnehmen und das Nebeneinander von Orthodoxen und Liberalen in Wien zu einem Miteinander wird. Und dann, sagt Much augenzwinkernd, „wünschen wir uns natürlich mehr Mitglieder“ – und irgendwann auch ein Rabbiner, der vielleicht fix in Wien ist. Ob und wie man sich das leisten wird können, ist wiederum eine andere Geschichte.