Eine uneingeschränkte Huldigung für Oliver Rathkolb
Der Historiker Oliver Rathkolb feiert seinen 60. Geburtstag. Dazu haben neun seiner Schülerinnen und Schüler von der Universität Wien schon vor mehr als einem Jahr begonnen, eine Festschrift zu planen. Am 3. November 2015 wurde sie ihm übergeben. Peter Menasse hat einen Beitrag dazu verfasst, den NU mit freundlicher Genehmigung des Böhlau-Verlags* hier abdruckt.
FOTOS: HANS HOCHSTÖGER
*Lucile Dreidemy/Richard Hufschmied/Agnes Meisinger/Berthold Molden/Eugen Pfister/KatharinaPrager/Elisabeth Röhrlich/Florian Wenninger/Maria Wirth (Hg.): Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, 2 Bände, Böhlau Verlag, Wien–Köln–Weimar 2015.
Er hat freundliche Augen. Sehr freundliche Augen sogar. Auch wenn er meist ernst schaut. Nein, so kannst du über einen Universitätsprofessor nicht zu schreiben beginnen. Andererseits, es stimmt ja. Dieser Mann wirkt so nett und vertrauenswürdig, du würdest nicht zögern, bei ihm ein gebrauchtes Auto zu kaufen. Aber er verkauft keine Autos und auch keine Aktienpakete, nein, er ist Historiker, Professor für Zeitgeschichte an der Universität zu Wien.
Er sollte eigentlich Arzt sein. Sein Großvater war Arzt, der Vater war Arzt, der Bruder ist einer, die Söhne sind gerade daran, welche zu werden. Kein Historiker weit und breit, nur Skalpelle, Tupfer und Blutdruckmesser. Gut, könntest du sagen, diese Instrumente verwendet Herr Rathkolb auch. Er schneidet messerscharf analytisch in die Wunden der Gesellschaft, er tupft, weil er trotz seiner Profession an das Gute in den Menschen glaubt, das Blut der historischen Grausamkeiten weg und er misst den gesellschaftlichen Hochdruck mit ernster Miene und klarem Verstand.
Der Arzt in ihm erkennt die Symptome, der Historiker kommt ganz nahe an die Ursachen. Heilen kann der eine wie der andere nicht, auch wenn keiner aus diesen beiden Berufsständen das zugeben wollte. Nichts ist so sicher wie der Tod, da kann ärztliche Kunst nur verlängern und noch ein wenig verlängern. Ja, und sicher ist auch die Wiederholung der Geschichte – nein, nicht als Persiflage, sondern als eine im neuen Gewand einherkommende Mutation.
Beginnen wir aber doch am Anfang. Der freundliche Professor Rathkolb gibt ausführlich Antwort, du musst nur ein bisschen stupsen. Wenn du ein Interview mit ihm führst, fängst du mit einer Frage an, den Rest erledigt er. Zu Hause brauchst du dann nur mehr nach jedem Absatz eine weitere Frage einfügen, die zu stellen dir nicht möglich war, weil zum Ersten willst du ja einen Professor nicht unterbrechen und zum Zweiten lässt er sich auch nicht. Macht nichts, weil es spannend ist, ihm zuzuhören und er ohnehin alles sagt, was du wissen wolltest. Und noch mehr, was dir zu fragen gar nicht eingefallen wäre.
„Litschau ist eine Stadtgemeinde mit 2.283 Einwohnern im Bezirk Gmünd in Niederösterreich. Sie ist die nördlichste Stadt in Österreich“, sagt uns Wikipedia. Dort kommt er her, aus dem bitterkalten Norden, dem Schweden Österreichs. Wer ihn kennt, weiß, dass ich schon ein wenig hinsteuere zu seinem väterlichen Vorbild. Aber davon später.
Aus dem Litschau der 1950er und 1960er Jahre stammen nicht eben die kritischen Linken. Dort war bis zum Jahr 1989 das Land zu Ende und vom nächsten durch unüberwindbare Grenzsperren getrennt. Die ÖVP regierte und regiert bis heute, eine „Hungerburg“ wird als Attraktion angeführt. Folgerichtig finden wir unter „Persönlichkeiten mit Bezug zur Stadt“ genau zwei. Aber der eine davon ist immerhin ein Schwergewicht unter den Persönlichkeiten des Landes, ein Professor für Zeitgeschichte, tätig in der Hauptstadt, weit im Süden. Der Herr Professor Oliver Rathkolb eben, der mit den freundlichen Augen.
Dort an der Grenze zur Tschechoslowakei, wo man als Kind beim Spielen darauf achten musste, nicht auf die falsche Seite zu geraten, ist seine erste Prägung entstanden, die dann zu einer Dissertation über den Kalten Krieg geführt hat.
Aber so weit sind wir noch nicht. Erst war er Schüler, pendelte nach Gmünd, was ein neues Stück Freiheit bedeutete. Dort waren zum einen keine Eltern, nicht der Geruch nach Chloroform und das Wehklagen der Zahnschmerz- Patienten, und zum anderen gab es ein Kaffeehaus. Möglicherweise ließ dieses Ambiente den Wunsch entstehen, Journalist zu werden. Schnell war ein Berufsweg skizziert, der von Gmünd schnurstracks an die Columbia University führen sollte und in der nächsten schnellen Stufe zum Pulitzer-Preis. Eine kleine Hürde aber baute sich zwischen dem Time Magazine und dem jungen Rathkolb auf – ein langweiliges und nichtssagendes Journalismusstudium. Also wechselte der junge Mann, nein, nicht zur Medizin und auch nicht zu Geschichte, sondern zur Juristerei. Auch langweilig, auch nicht seine Kragenweite, obwohl er das Studium so nebenbei doch abschloss. Nach Absolvierung der ersten Staatsprüfung belohnte er sich damit, mit einem Geschichtestudium zu beginnen. Unterwasser-Archäologe wollte er jetzt werden, aber es hat sich dann irgendwie auch das nicht realisiert. Ein Schlüsselerlebnis war schließlich ein Seminar bei Gerhard Jagschitz zu „Nachkriegsplanungen im Zweiten Weltkrieg“ mit spannenden internationalen Inhalten, das ihn zum Zeitgeschichtler werden ließ. So findet er heute seine Schätze, ohne Taucheranzug und Schnorchel, was ich mir doch ein wenig einfacher vorstelle.
Irgendwo schwebte aber immer noch der Journalismus in seinem Kopf, was ihn zu einem Medienthema führte. Er forschte zur politischen Propaganda der Amerikaner, erhielt ein Fulbright-Stipendium – kein Pulitzer- Preis, aber auch nicht zu verachten – und kam in den USA an Dokumente heran, die zu Beginn der 1980er Jahre eben erst der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Das sollte ihm 1984 ein gutes Entree geben, als er – wir nähern uns Schweden – Bruno Kreisky kennenlernte, den er für ein Forschungsprojekt interviewte. Geschichte studiert zu haben, war beim Sonnenkönig eine gute Voraussetzung, wenn wir uns daran erinnern, dass er einmal einem ORF-Redakteur mit den Worten „Lernen S’ a bisserl Geschichte, Herr Reporter“ die Leviten las. Bei Rathkolb wäre ihm das nie eingefallen. Der Herr Professor verblüffte den sonst wortgewaltigen Kanzler, und es wurden aus einem Interview bald deren drei, schließlich die Arbeit an Kreiskys Memoiren und der Aufbau des Archivs. Wir haben ja schon erörtert, wie schwierig es ist, Herrn Rathkolb zu unterbrechen, wenn er mal ins Reden kommt. Er erzählt das vom ersten Zusammentreffen mit Kreisky so: „Normalerweise hat ja er immer solche Gespräche dominiert. Ich aber wollte was von ihm wissen und hab ihn immer weiter mit Dokumenten gefüttert. Er war völlig perplex, hatte ich doch zum Beispiel das erste Dokument aus der Presidential Library, Unterlagen aus der Eisenhower Library, Gesprächsprotokolle von der ‚Berliner Konferenz‘ und ähnliches.“ Ja, so hat auch der große Bruno Kreisky erlebt, dass es schwierig sein kann, zu Wort zu kommen, dass man aber viel lernen kann von Oliver Rathkolb, was sich wiederum nicht von jedem Professor behaupten lässt.
Wir wollen jedoch nicht übertreiben und in eine falsche Richtung einbiegen. In Wahrheit war der junge Historiker total fasziniert von Bruno Kreisky. Armin Thurnher schrieb einmal, dass Rathkolb „ein in der Kreisky-Ära geprägter Sozialdemokrat“ sei, und das mag so stimmen, aber er hatte auch den Vorzug, ein direkt von Kreisky selbst geprägter Mensch zu werden. Also ein bisserl zugehört wird er ihm demzufolge ja doch haben. Es ist faszinierend zu erfahren, dass Rathkolb schon in seiner Jugendzeit im Waldviertel durch eine erste Begegnung mit einer Schrift von Kreisky stark beeinflusst wurde. Es war eine Wahlkampfbroschüre, namens „Mann auf Draht“, auf deren Titelseite ein telefonierender Kreisky zu sehen ist. Ja, damals hatten die Telefone noch einen Draht und junge Menschen lasen in richtigen Büchern, sogar in Wahlbroschüren. „Du musst dir vorstellen, ich sitze da im Waldviertel, und auf einmal erfahre ich etwas von einem polyglotten, interessanten Intellektuellen, der den Bogen von der Jahrhundertwende bis zum Heute spannt, ich erfahre von seinem jüdischen Umfeld – all das eine völlig neue, andere Welt, als ich sie kannte.“
Jetzt aber genug von Herkunft, Hinkunft und großen Vätern. Der Oliver Rathkolb von heute ist eine imponierende Person. Bis auf den Fußball, da bewundert er Rapid. Aber jeder hat so seine Fehler. Seine Frau, eine Sängerin an der Wiener Staatsoper, hat ihn früher mitunter gemeinsam mit den damals noch jungen Söhnen ins Hanappi- Stadion begleitet. Sie habe dort immer die Chöre von der Westtribüne, wo die eingefleischten Rapid-Fans sitzen, bewundert. Naja, eine solche Annäherung an diesen Verein lässt sich noch irgendwie nachvollziehen, aber Anhänger zu sein – also nein, Herr Professor.
Für einen Journalisten ist Oliver Rathkolb der personifizierte Glücksfall. Er hat einfach ein gutes Gefühl dafür, was ein Schreiber braucht. Er erklärt dir viel und gibt dir am Ende jeder Audienz mindestens zwei Bücher und drei Papers mit. Sein Arbeitsraum ist Außenstehenden ein völliges Mirakel. Ein riesiger Schreibtisch, ein noch deutlich größerer Besprechungstisch und auf beiden, ebenso wie in den alle Wände bedeckenden Schränken, befinden sich Stöße von Papier und Unterlagen. Da kann sich kein Mensch mehr auskennen, denkst du dir. Doch er holt zielsicher ein Buch unter einem Stoß auf dem Schreibtisch hervor, geht zu einem Schrank, um eine Broschüre herauszunehmen und findet gleich auch auf dem Besprechungstisch einen Zettel, den er dir zeigen will. Noch Stunden später, längst wieder an deinem Arbeitsplatz, sinnierst du darüber, wie es möglich ist, sich in diesem Chaos, nein, in dieser Überfülle an geschriebenem Wissen zurechtzufinden. Ob er alphabetisch sortiert? Von Apfel bis Zeugnisse, von amerikanische Akten bis zensurierte Zertifikate? Es ist nicht erstaunlich, dass Oliver Rathkolb nur wenig Sport betreibt. Allein die Wegstrecke, die er in seinem Arbeitsraum zurücklegen muss, um von Papierstoß zu Papierstoß zu gelangen, bringt dich als Zuschauer ins Schwitzen.
Am Ende hast du nicht nur mehr Faktenwissen, sondern auch profunde Einschätzungen und Positionen. Der Historiker Rathkolb bezieht Stellung, fühlt sich der Gesellschaft verpflichtet und tut was für sie. Es klingt unmodern und so sympathisch, wenn er sagt: „Mir haben Steuerzahler, darunter auch meine Eltern, ein kostenloses Studium ermöglicht. Ich habe von der Gesellschaft profitiert, und es ist die Aufgabe der Zeitgeschichtler und aller Humanwissenschaftler, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.“ So ist das Arbeitszimmer mit den vielen Papierstößen eine kleine Widerstandsinsel des Verantwortungsbewusstseins in einer neoliberalen Welt. Das kann nur einer leisten, der mit sich und den Menschen eins ist, der seinen intellektuellen Überzeugungen in seinem eigenen Verhalten gerecht wird, einer eben, der freundliche Augen hat. Das darf man am Ende doch auch über einen Universitätsprofessor schreiben, der bald sechzig Jahre alt wird und immer noch so ein Bündel an Energie und Tatkraft ist. Und dazu noch: Alles Gute, Herr Professor. Oder in guter jüdischer Tradition: Auf 120!
Oliver Rathkolb, geboren 1955 in Wien, ist Professor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Mitglied des vom Europäischen Parlament eingesetzten internationalen wissenschaftlichen Beirats für ein Haus der europäischen Geschichte; er gehört dem wissenschaftlichen Beirat des Jüdischen Museums Wien an und ist Vorsitzender im internationalen Beirat für ein Haus der Geschichte in Österreich.
[ts_fab authorid=“144″]