25 Jahre hat er davon geträumt, nun erfüllte sich Barrie Kosky, der sich selbst als „jüdischer Atheist“ bezeichnet, einen Traum und inszenierte an der von ihm geleiteten Komischen Oper Berlin Schönbergs „Moses und Aron“ als Stück über Sehnsuchtsorte.
VON JÜRGEN BAUER
Vielleicht sind Moses und Aron Vorläufer von Vladimir und Estragon aus Warten auf Godot. Vorläufer allerdings, die ihr Warten beenden und die Menschheit überzeugen wollen, dass Godot wirklich existiert. Noch bevor die ersten Takte von Schönbergs Oper erklingen, legt eine Einblendung aus Becketts Stück diesen Vergleich nahe. Immerhin: Gott und Godot, beide beginnen mit G. Wie die zwei Landstreicher sind auch der Prophet und sein Bruder Suchende. Und in Koskys Deutung sogar Zauberer, die die Massen mit billigen Tricks verführen: Moses als Wiedergänger Harry Houdinis, der Auszug aus Ägypten dessen größter Befreiungstrick. Der Prophet kommt hier aus dem Vaudeville.
Die Figur des Moses begleitete Schönberg fast sein ganzes Leben. Unter dem Eindruck des zunehmenden Antisemitismus wurde die jüdische Herkunft für den zum evangelischen Glauben konvertierten Komponisten immer wichtiger. 1932 schrieb er: „Ich nenne mich heute mit Stolz einen Juden; aber ich kenne die Schwierigkeiten, es wirklich zu sein.“ So wurde sein Moses auch zur Selbstbefragung, zur Geschichte des eigenen Exodus. Als er 1933 aus Berlin emigrierte, hatte er die ersten zwei Akte der Oper im Gepäck.
Kosky führt das Werk nun zurück an seinen Entstehungsort und versetzt es dabei in einen vieldeutigen Raum. Die Bühne könnte das Unterdeck eines Schiffes auf dem Weg nach Palästina sein; Schönberg verfolgte die zionistische Bewegung mit großem Interesse. Die Sehnsucht nach dem Gelobten Land wäre dann die nach einer Nation, Mythos verwandelt in Politik. Es könnte sich aber auch um das Foyer eines Kinos handeln. Den Tanz ums goldene Kalb inszeniert Kosky als babylonischen Stummfilmdreh. Noch so ein der Wüste abgetrotzter Ort der Sehnsucht: Das Hollywood der zwanziger Jahre, dessen Studiobosse allesamt aus Europa emigrierte Juden waren. Auch der Kinofan Schönberg ließ sich in Los Angeles nieder. So lässt Kosky unterschiedliche Assoziationen zu, ohne dabei beliebig zu werden, denn im Zentrum seiner Inszenierung steht stets die Frage nach den Orten der Sehnsucht, der Utopie.
Die Kehrseite dieser Jewtopia, so der Titel einer früheren Trilogie des Regisseurs, verschweigt die zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz entstandene Inszenierung keineswegs. Der Chor trägt Puppen mit sich, die Möglichkeiten jüdischer Identität zeigen: Gläubige im Tallit, israelische Soldaten, Kibbuzniks. Zum Tanz ums goldene Kalb wirft das Volk diese Puppen von sich. Doch die Befreiung von den zugeschriebenen Bildern misslingt und endet im Leichenberg, von dem schließlich Moses herabsteigt. Dabei trägt er keine Tafeln mit sich, das Gesetz hat sich – wie in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie – mit Nadeln in seine Haut geschrieben. Der eigenen Identität entkommt man nicht, Houdinis Befreiungstrick muss misslingen. Die großen Fragenden und Suchenden sind eben auch Vertriebene.
Zu Beginn der Oper rollt sich Moses aus Sigmund Freuds berühmtem Smyrna-Teppich, der diesen in die Emigration nach England begleitete, zu Ende zieht er sich sterbend unter selbigen zurück. Erlösung gibt es nicht: Moses sollte das Gelobte Land nie betreten, Theodor Herzl die Gründung des Staates Israel nicht miterleben, Schönberg seine Oper nicht vollenden. Was bleibt, ist die Sehnsucht.