Frederic Morton war ein fantastischer Schriftsteller, aber auch ein Lehrmeister im Altwerden und dabei Jungbleiben. Erinnerungen an einen wunderbaren Freund.
VON BARBARA TÓTH
Wie genau ist er gestorben? Als mich meine beste Freundin anrief, um mir zu erzählen, dass sie eben vom Wiener Hotel Hilton informiert worden war, dass Fred nicht mehr da ist, war das mein erster Gedanke. Ein ungehöriger, gewiss. Gleichzeitig einer, den ich mir erlaubte in den nächsten Stunden immer wieder zu stellen, bis ich Gewissheit hatte. Fred starb am 20. April dieses Jahres einen Tod, wie er ihn dem Helden in einem seiner Romane nicht besser auf den Leib hätte schreiben können. Friedlich, im Lehnstuhl seines Hotelzimmers sitzend, nachdem er aufgestanden war und seine Morgentoilette erledigt hatte.
Ich habe seitdem viel darüber nachgedacht, welche Gnade es ist, in Zeiten wie den unseren einfach ganz normal ein letztes Mal ausatmen zu dürfen. Und ich war froh, Fred wenige Tage zuvor noch in Wien getroffen zu haben. Wir waren eigentlich für den Donnerstag nach seinem Todestag zum Abendessen verabredet. Wir besprachen letzte Details, er zückte das kleine, schwarze Notizbuch, das sein Jahreskalender war. Jede Seite ein Tag, eigenhändig durchnummeriert. Mit seinem Kugelschreiber notierte er sich unter dem 23. April Ort (Gasthaus Grünauer) und Zeitpunkt (19 Uhr) unseres Treffen. Beim Durchblättern könnte ich sehen, dass sein Aufenthalt gut gebucht war. Jedes Blatt hatte einen Termineintrag, ganz so, wie er es liebte, wenn er in Wien war.
Ich möchte auch einmal inmitten vieler guter Freunde aus dem Leben gerissen werden, so wie er. Fred hatte nie übers Sterben gesprochen. Das war bemerkenswert. Als ich ihn kennenlernte, war er 72, aber er lebte wie ein zwanzig Jahre Jüngerer. Die literarische Welt kennt Frederic Morton, geboren als Fritz Mandelbaum, Sohn jüdischer Eisenwarenfabrikanten in Wien-Hernals, als klugen, historischen Romancier. Die breite Öffentlichkeit schätzt ihn als begnadeten Erzähler. Politiker, vor allem jene der „roten“ Stadt Wien, respektierten die Versöhnlichkeit, mit der ausgerechnet er, dem die Nazis seine Verwandten wegmordeten und den sie als jungen Buben aus Wien vertrieben, unverdrossen zurück in seine Heimatstadt kam. Er erinnerte sie an die grausame Vergangenheit, aber er tat es nicht mit unversöhnlichem Hass, sondern mit nahezu kindlichem Staunen. Dieser Fred war eine öffentliche Figur und genoss die Aufmerksamkeit und die Rolle, die ihm Österreich gab.
Für mich war Fred all das, aber vor allem war er ein Freund, Lehrmeister und vielleicht auch der kosmopolitische Großonkel, den ich niemals hatte. Ich lernte von ihm, wie man eine gute Biografie schreibt („suche eine Handvoll Schlüsselereignisse im Leben einer Persönlichkeit und baue die Kapitel rund um diese“) und was es heißt, alt zu werden und gleichzeitig jung zu bleiben. Fred war immer aufmerksam, neugierig, informiert. Ganz und gar nicht verknöchert, weder im Kopf noch im Körper.
Sich an ihn zu erinnern, heißt, die liebgewonnenen Rituale seines Alltags noch einmal im Kopf durchzuspielen. Sein Treppensteigen etwa. Bis kurz vor seinem 90. Geburtstag fuhr Fred jeden Wochentag am späteren Vormittag mit dem Lift vom 14. Stock seines Apartmenthauses auf der Upper West Side in Manhattan ins Erdgeschoß, um dann durch das hintere, schmale Stiegenhaus wieder hochzulaufen. Ein-, zwei-, dreimal.
Oder seine, wie er es mit amerikanischem Zungenschlag gern scherzhaft nannte, „Diät“. Morgens niemals Frühstück. Am frühen Nachmittag eine „Jause“, mit Vorliebe ein Stück Gebäck (Fred hatte seine Berufskarriere ja als Bäckerlehrling in New York begonnen) und ein dünner Milchkaffee dazu. Am Abend dann eine klare Suppe (am liebsten: heiße Rindsuppe mit ordentlich viel klassischen Einlagen), einen gebratenen Fisch und Salat. Danach an Feiertagen, aber nur an solchen – in Wien hieß das: an jedem Tag –, eine Marillenpalatschinke und eine heiße Melange mit einem Kännchen heißen Wassers dazu. Aber bitte gleichzeitig, und wirklich sehr heiß. Er konnte sehr ungehalten werden, wenn Kellner seine klaren Anweisungen nicht umsetzten.
Später erklärte er mir einmal, wie viel wichtiger solche Rituale für ihn im Alter wurden, weil sie ihm, dem tragischerweise früh Verwitweten, Struktur und Halt im Alltag gaben.
Ich erinnere mich auch an seinen 80. Geburtstag. Fred war 50 Jahre und drei Tage älter als ich. Wir wollten gemeinsam mit einem Freund in Venedig in einem Restaurant am Lido feiern, ein Boot sollte uns hinbringen. Es schaukelte. Der Steg war schmal, die Dunkelheit des Oktoberabends schon da. Meine Hand lehnte er ab, den Arm des Matrosen auch. Er rutschte nur ein wenig aus, aber die altersdünne Haut war am Schienbein doch so stark aufgeschürft, dass wir mit ihm lieber ins Krankenhaus fuhren. „Warum hast du dir nicht helfen lassen?“, fragte ich ihn danach mit Nachdruck. „Altern ist nicht einfach. Man will möglichst lange möglichst viel alleine machen, das hilft“, erklärte er mir fast entschuldigend.
Wenige Tage vor seinem Tod hielt Fred zum 140. Jubiläum des Hauses der Barmherzigkeit in Wien eine Rede. Sie war der Anlass für seine letzte Wien-Reise. Welch ein schöner Zufall, ließ sie ihn doch in seiner ersten Heimat sterben. In dieser Rede sprach Fred von den beiden Exilen in seinem Leben. Dem ersten, geografischen Exil, also der Vertreibung aus Wien, die, so fürchterlich sie war, ihm doch die englische Sprache zur zweiten Heimat werden ließ. Und zu was für einer! Seine Formulierungen schafften es bis ins Webster’s Dictionary, erzählte er mit Stolz.
Sein zweites Exil war, wie er es formulierte, „die Verbannung aus der Jugend in das Alter“. Sie war „schleichend vor sich gegangen, sozusagen auf Zehenspitzen. Ich konnte tun, als wäre ich zu beschäftigt, um sie wahrzunehmen. Und musste dann auf einmal erfahren, dass ich unwiderruflich, unwidersprechbar, unbestreitbar und ganz offensichtlich nicht mehr neunzehn, sondern 90 Jahre alt war. Plötzlich, hart und tief bin ich ins Altland gefallen.“
Wie so oft hatte Fred Worte für ein Lebensgefühl gefunden, das mir vorher nicht bewusst war. Nun weiß ich, dass ich das große Privileg hatte, ihn ein Stück weit auf dem Weg in sein zweites Exil zu begleiten. Vor zehn Jahren feierten wir den 60. Geburtstag der leider viel zu früh verstorbenen Gerda Neudeck im Palais Schwarzenberg. Mein Lebensgefährte war an diesem Abend verhindert, Fred begleitete mich an seiner Stelle liebenswürdigerweise. Neudeck war die rechte Hand Karl Schwarzenbergs gewesen, mit dem Fred ebenfalls sehr gut befreundet gewesen war. Fred schien in Österreich alle Menschen mit Charakter und Ideen zu kennen, die es wert waren, gekannt zu werden. Wir beide gaben sicherlich das ungewöhnlichste Gästepaar des Abends ab. Nach dem Festessen spielte eine Jazz-Band, wir swingten unter der Hauptkuppel des Palais und ich fühlte mich, nicht das erste Mal im Leben, auf einmal alt neben ihm. Dafür und für vieles andere auch bin ich Fred für immer dankbar.