Juden zitieren gerne ihre Mutter. Sie gilt uns als höchste Autorität. Meine Mamme warnte mich beispielsweise immer davor, grundlos um Hilfe zu schreien. „Wenn man immer wieder ‚Hilfe, der Wolf kommt‘ ruft, so werden sie dir nicht mehr glauben, wenn er eines Tages wirklich erscheint.“ Eine ebenso simple wie richtige These.
Ende Juni haben die beiden Präsidenten der Kultusgemeinde in einer scheinbar konzertierten Aktion wieder einmal einen Hilferuf ausgestoßen. Ariel Muzicant hat dafür die Tageszeitung Die Presse und seine Funktion als Vizepräsident des „European Jewish Congress“ gewählt, um über zunehmende Übergriffe auf Juden in Europa zu sprechen. Er frage sich, so Muzicant in gewohnt dramatischer Überhöhung, ob Juden in Europa überhaupt noch eine Zukunft hätten.
Was er nicht macht und scheinbar auch nicht kann, ist, Zahlen zu diesen behaupteten Übergriffen vorzulegen. Ein Vertreter des OSZE-Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte erklärt der Presse dazu, dass es keine wirklich zuverlässigen Statistiken über antisemitische Vorfälle in Europa gebe. Man würde zwar über Meldungen aus den Mitgliedsländern verfügen, jedoch wende jeder Staat eigene Kriterien an, was Vergleiche unmöglich mache. Die EU-Agentur für Grundrechte spricht von einem schütteren Zahlenmaterial, weil viele Länder, darunter etwa Ungarn oder die Ukraine, antisemitische Übergriffe überhaupt nicht bekannt gäben. In der aktuellsten Auflistung zeige sich, dass die Zahl antisemitischer Verbrechen in Österreich und einigen anderen Ländern gesunken, in den Niederlanden und Schweden hingegen gestiegen sei.
Muzicant fordert jedoch nicht, wie man erwarten könnte, eine einheitliche und umfassende, von internationalen Organisationen durchgeführte Erhebung über das tatsächliche Ausmaß antisemitischer Übergriffe. Nein, er wünscht sich – unter anderem – höhere Geldmittel für die Sicherheit der jüdischen Gemeinden.
Es ist eine merkwürdige Strategie, just als österreichischer Jude mit unbewiesenen Aussagen über Antisemitismus in die Öffentlichkeit zu gehen. Wir Juden sind in unserem Land derzeit in höchstem Ausmaß respektiert und anerkannt, einige Wirrköpfe und Idioten ausgenommen. Was machen wir, wenn der Wolf wirklich einmal kommt?
Einige Tage nach Muzicant darf auch der zweite Präsident, Oskar Deutsch, ran. Er stößt in einem Interview mit dem Kurier ins gleiche Horn, sagt allerdings auf Nachfrage aufmüpfig, dass er schon der Meinung sei, dass Juden in Europa eine Chance hätten. Na bitte, doch ein kleiner emanzipatorischer Schritt. In einer Sache aber sind sich die beiden ganz einig. Deutsch im Original: „Den jüdischen Gemeinden in Europa ist es wegen der Bedrohung nicht länger zumutbar, ihre Sicherheitsausgaben selbst zu tragen. Aufgrund des Gefahrenpotenzials betragen die Kosten für Sicherheit 15 bis 25 Prozent des Budgets. Daher ist die EU gefordert, Mittel für die Sicherheit der jüdischen Gemeinden in Europa aufzubringen.“
Die beiden Präsidenten betreiben ein gefährliches Spiel. Sie machen sich nicht die Mühe, gesichertes Zahlenmaterial über Antisemitismus vorzulegen, sondern stellen einfach Behauptungen auf. Daran knüpfen sie Forderungen, bei denen sie zwar „Europa“ sagen, aber doch ganz offensichtlich das Budget der österreichischen Gemeinde meinen. Ein Budget, von dem manche meinen, es enthielte noch ausreichend Sparpotenzial.
Statt einzusparen, rufen sie lieber „Der Wolf kommt“, ohne sich zu überlegen, welche symbolische Wirkung es hat, wenn die zumeist wohlwollenden Menschen in unserem Land immer wieder gesagt bekommen, es herrsche der blanke Antisemitismus.
Zuletzt eine dazu passende Begebenheit. In einem Wiener Café wurde kürzlich eine meiner Bekannten, die eine Kette mit jüdischen Symbolen trägt, von einem Paar aus den USA angesprochen, ob sie sich denn nicht fürchte. Man habe ihnen daheim gesagt, dass sie sich hier nicht als Juden deklarieren sollten, weil die Wiener Gemeindeführung davon spreche, dass Wien so antisemitisch sei und man hier als Jude nicht leben könne. Den beiden Präsidenten sei gesagt: Das Spiel mit dem Wolf ist simplifizierend, strategisch falsch und auf alle Fälle ganz und gar nicht präsidial.